Protokoll der Sitzung vom 06.10.2016

Wir sind nämlich der Meinung, dass wir Menschen, die zum Teil mit sehr geringen Vorkenntnissen über unsere Gesellschaft und zum Teil mit einem geringen Bildungsstand zu uns kommen, anders an die Hand nehmen müssen, als es momentan in der Praxis passiert, damit sie dann, wenn wir sie gebildet und ausgebildet haben, die Chance haben, genauso selbstbestimmte und gleichberechtigte Mitglieder dieser Gesellschaft zu werden, wie wir das sind.

Das ist unser Anspruch. Dazu gehört auch eine Politik, die dafür sorgt, dass sich Stadtteile so gestalten, dass dort Integration möglich ist. Daher sollte es zu einer klugen Verteilung kommen – gerade in einer Situation eines sehr hohen Zuzugs.

Das ist eine Ausnahmesituation. Dafür brauchen wir dann auch die Voraussetzungen, damit Integration gelingen kann. Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab. – Danke schön.

(Beifall von der FDP und André Kuper [CDU])

Vielen Dank, Herr Dr. Stamp. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Schmeltzer.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Eigentlich könnte man das abkürzen und sagen: Die Fraktionen von FDP, CDU, SPD und

Grünen haben schon alles dazu gesagt. – Aber ich will das, weil Frau Kollegin Brand auch Daten und Fakten angezweifelt hatte, an der einen oder anderen Stelle doch noch etwas konkretisieren.

Das erscheint mir dringend notwendig zu sein, weil ich mich nach Lektüre des flott formulierten PiratenAntrags tatsächlich gefragt habe: Wissen Sie eigentlich, wovon Sie hier reden? Kennen Sie eigentlich die Probleme vor Ort – einige Vorredner haben schon das eine oder andere angesprochen –, die uns letztlich dazu veranlassen, eine Wohnsitzzuweisung einzuführen?

(Simone Brand [PIRATEN]: Ja!)

Oder ist schon wieder vergessen, welche integrationspolitischen Aufgaben wir jetzt und in Zukunft in allen 396 Städten und Gemeinden in NordrheinWestfalen zu schultern haben? Und was soll in diesem Zusammenhang eigentlich der im Antrag immer wieder geäußerte Vorwurf, wir würden bei der Wohnsitzzuweisung mit unbegründeten Unterstellungen arbeiten und etwas verschleiern wollen?

Im Übrigen, Frau Brand: Nennen Sie mir bitte nur eine Stelle in allen Verordnungen und Erlassen sowie allem, was jetzt in der Diskussion ist, an der wir von Gettoisierung sprechen.

(Nicolaus Kern [PIRATEN] meldet sich zu ei- ner Zwischenfrage.)

Herr Minister

Schmeltzer, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche.

Gerne. Ich habe das gesehen.

Möchten Sie die Zwischenfrage von Herrn Kern zulassen?

Liebend gern.

Bitte schön.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie sprachen gerade Frau Brand an und fragten, ob sie die Probleme kenne. Ich möchte Sie fragen: Kennen Sie das Urteil des EuGH vom März dieses Jahres, das sich mit den Wohnsitzauflagen und den hohen Hürden, die diese rechtfertigen müssen, beschäftigt?

Ich habe ja noch gar nicht richtig angefangen. Insofern kennen Sie weder mein Redemanuskript noch die Inhalte, die ich Ihnen gleich alle noch entgegenhalten werde.

(Nicolaus Kern [PIRATEN]: Ich bin gespannt!)

Hohe Hürden und Urteile nehmen wir natürlich nicht nur zur Kenntnis, sondern berücksichtigen sie. Ansonsten wäre es grob fahrlässig, Verordnungen auf den Weg zu bringen. Daher seien Sie gewiss, dass wir das natürlich auch rechtlich zu allen Seiten abgeklopft haben.

(Nicolaus Kern [PIRATEN]: Wir sind gespannt! – Zuruf von Simone Brand [PIRATEN])

Jetzt komme ich zu den Fakten. Fakt ist: Mehr als 230.000 Flüchtlinge hat Nordrhein-Westfalen in 2015 aufgenommen – so viele wie kein anderes Bundesland. Noch nie sind in so kurzer Zeit so viele Menschen auf der Suche nach Schutz vor Krieg und Gewalt zu uns gekommen. Krieg und Gewalt, Verfolgung aus politischen, religiösen und ethnischen Gründen, Hunger und Not zwingen diese Menschen heute leider immer noch zur Flucht.

Auch wenn die Anzahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, in den letzten Wochen geringer geworden ist, so haben wir doch eine riesige Anzahl von geflüchteten Menschen, denen wir natürlich verantwortlich die entsprechenden Grundlagen geben müssen.

Während im vergangenen Jahr vor allem die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge im Vordergrund stand, geht es jetzt um die Integration. Sie haben eben einen Gesetzentwurf angesprochen. Der Gesetzentwurf war natürlich der Integrationsplan, den wir hier, wie die Vorredner deutlich gemacht haben, schon ausführlich beraten haben. Das ist der Hintergrund, vor dem sich Bund und Länder entschlossen haben, das Instrument der Wohnsitzzuweisung zu installieren.

Das Integrationsgesetz des Bundes, das Anfang August 2016 in Kraft getreten ist, regelt die Wohnsitzzuweisung zwischen den Bundesländern. Darin wurde festgelegt, dass anerkannte Flüchtlinge in dem Bundesland bleiben müssen, in das sie als Asylbewerber gemäß Königsteiner Schlüssel gekommen sind.

Kein Land braucht diese Regelung dringender als Nordrhein-Westfalen; denn in unsere Kommunen ziehen die Flüchtlinge aus anderen Ländern nach ihrer Anerkennung. Nordrhein-Westfalen nimmt nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel rund 21 % der Flüchtlinge auf. Hier leben nach ersten Einschätzungen des Innenministeriums aber mittlerweile knapp 30 % der anerkannten Schutzberechtigten.

Wenn Zuwanderung und Integration gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind –

das sind sie zweifellos; darüber sind wir uns alle einig, glaube ich –, dann müssen die sich daraus ergebenen Herausforderungen der Integration auch von allen Beteiligten und von allen Bundesländern solidarisch getragen werden. Es ist nicht akzeptabel, dass Bundesländer zwar über den Königsteiner Schlüssel einen festgelegten Prozentanteil von Asylsuchenden zugewiesen bekommen, dann aber für die Integration der anerkannten Flüchtlinge nicht verantwortlich zeichnen, weil diese geflüchteten Menschen in andere Länder weiterwandern.

Es ist nicht sehr erstaunlich, dass der mit Abstand überwiegende Anteil dann nach Nordrhein-Westfalen abwandert. In Nordrhein-Westfalen haben wir 29 von insgesamt 77 Großstädten. Die Metropole Ruhrgebiet ist europaweit die drittgrößte Metropole nach London und Paris. Das suggeriert, dass die Menschen hier tatsächlich alles vorfinden, was sie glauben, vorfinden zu können.

Jetzt komme ich zu den Daten und Fakten, Frau Brand. Ich habe mich aktuell nach dem Zuzug anerkannter Schutzberechtigter aus anderen Bundesländern erkundigt. Das Ergebnis: Seit dem 1. Januar dieses Jahres wanderten zum Beispiel nach Essen über 1.650 Menschen aus anderen Bundesländern zu. Im selben Zeitraum hat die Stadt Essen 3.400 zugewiesene Flüchtlinge aufgenommen. Duisburg beherbergt derzeit etwa 1.350 anerkannte Flüchtlinge zusätzlich aus anderen Bundesländern. In Dortmund sind es etwa 2.000 Flüchtlinge, die zusätzlich aus anderen Bundesländern gekommen sind.

Es ist zwar schön, zu sehen, dass Nordrhein-Westfalen und seine Städte so attraktiv sind. Aber man darf doch die Augen nicht davor verschließen, dass wir ohne steuernde Instrumente enorme Ungleichgewichte zwischen den Ländern und insbesondere innerhalb von Nordrhein-Westfalen erzeugen.

Dieser überdurchschnittliche Zuzug anerkannter Schutzberechtigter aus anderen Bundesländern nach Nordrhein-Westfalen bringt zudem enorme Nachteile für die Integrationsperspektiven der Menschen vor Ort mit sich. Die Kette von Integrationsmaßnahmen, die die Länder für die ihnen zugewiesenen Flüchtlinge bereithalten, kann bei einem spontanen Wegzug der Schutzberechtigten gar nicht mehr greifen. Der Integrationsprozess verzögert sich unnötig, wenn an dem neuen Wohnort die Integrationsangebote bereits ausgebucht sind.

Deshalb sind wir für den Teil der Wohnsitzzuweisung, der besagt, dass Flüchtlinge für maximal drei Jahre in dem Bundesland bleiben müssen, in das sie als Asylbewerber gekommen sind.

Darüber hinaus ermöglicht das Bundesintegrationsgesetz den Bundesländern, eine eigene, eine landesinterne Regelung für Wohnsitzzuweisungen zu treffen. Nordrhein-Westfalen macht mit der Auslän

derwohnsitzregelungsverordnung davon auch Gebrauch. Mit dieser landesinternen Zuweisung erreichen wir, dass die Integration der Schutzberechtigten systematisch und planvoll möglich wird, indem sie fair auf die 396 Städte und Gemeinden verteilt werden.

Ganz Nordrhein-Westfalen ist für diese Herausforderung der Integration gut aufgestellt. Mit dem Teilhabe- und Integrationsgesetz 2012 haben wir eine nahezu flächendeckende und bundesweit einmalige Integrationsinfrastruktur auf- und ausgebaut, sodass fast alle Kommunen – es fehlen lediglich noch die Kreise Kleve und Viersen, wobei Viersen da auf einem guten Weg ist – durch die Aufstellung der kommunalen Integrationszentren ihren Beitrag zur Integration von Flüchtlingen leisten können. Ich bin fest davon überzeugt und habe mich an vielen Stellen davon überzeugen können, dass diese Leistungen vorbildlich sind und auch greifen.

So geben wir den Kommunen und den Geflüchteten Planungssicherheit für einen gelingenden Integrationsprozess; denn die Kommunen können ihre Integrationsangebote auf die vorhandene Anzahl der zugewiesenen Flüchtlinge besser ausrichten. Sie haben in den vergangenen Monaten erhebliche Mittel in Wohnraum und Integrationsmaßnahmen investiert, ohne dass sie derzeit absehen können, in welchem Umfang und für welchen Zeitraum diese Angebote benötigt werden. Hier schafft diese Wohnsitzzuweisung deutlich Klarheit.

Auch die Einrichtungen vor Ort wie zum Beispiel Kindergärten und Schulen können ihre Angebote an die Anzahl der Familien anpassen, die ihrer Kommune zugewiesen werden.

Schließlich wirkt die nordrhein-westfälische Wohnsitzzuweisung einer integrationshemmenden Konzentration der Schutzbedürftigen in bestimmten Städten und Stadtteilen entgegen.

Aus diesen Gründen haben die kommunalen Spitzenverbände auf der Landes- und auch auf der Bundesebene bereits seit Langem eine solche Wohnsitzzuweisung gefordert.

Wie ich eben erfahren habe, hat sich der Städtetag Nordrhein-Westfalen geäußert. Seine Stellungnahme ist bereits auf dem Weg in das Ministerium. Wie ich höre, gibt es da eine uneingeschränkte Zustimmung zu unseren Vorhaben aus dieser Verordnung.

Wir sind dafür, innerhalb von Nordrhein-Westfalen eine faire Verteilung zwischen unseren Gemeinden herzustellen – fair vor allem im Sinne der Flüchtlinge, um deren Integrationschancen es letztendlich geht.

Um das zu schaffen, reicht der Verteilschlüssel nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz nicht aus. Wir haben daher einen neuen Integrationsschlüssel erarbeitet, der die Integrationschancen am Arbeits- und

am Wohnungsmarkt mitberücksichtigt. Mit seiner Wohnsitzzuweisung für anerkannte Schutzberechtigte setzt Nordrhein-Westfalen seine erfolgreiche Integrationspolitik auch an dieser Stelle konsequent fort.

Liebe Piraten, ich erkenne hier also weder unbegründete Unterstellungen noch Verschleierungen. Im Gegenteil: Unsere Verordnung ist gut begründet. Sie ist klar. Sie ist das, was Sie immer fordern; sie ist transparent. Sie dient der nachhaltigen Integration der Flüchtlinge, und sie schafft Planungssicherheit in den Kommunen.

Ich gehe davon aus, dass die Anhörung der kommunalen Spitzenverbände und der beteiligten Ausschüsse bis Ende Oktober, Anfang November beendet sein wird. Ich sagte ja, die Stellungnahme des Städtetages ist bereits auf dem Weg zu mir. Anschließend wird sich das Kabinett, wie wir es im Zeitplan vorgesehen haben, damit befassen können.

Unser Ziel bleibt, dass die Regelung zur Wohnsitzauflage in Nordrhein-Westfalen zum 1. Dezember 2016 in Kraft tritt.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Minister. Bleiben Sie bitte gleich am Redepult. Wir hatten Ihnen das Zeichen „Kurzintervention“ eingeschaltet. Die Kurzintervention wird Frau Kollegin Brand halten. – Bitte schön.