Protokoll der Sitzung vom 26.01.2017

Gleichzeitig kommt nach Jahrzehnten einer eher gemächlichen Entwicklung nun durch vielfältige gesetzliche, gesellschaftliche und technische Veränderungen sowie neue Marktteilnehmer extrem viel Bewegung ins Spiel. Es wird auf jeden Fall Veränderungen in der Verkehrspolitik geben. Die Frage ist nur: Welche? Wer nimmt auf die Entwicklung Einfluss? Welche Rolle spielen dabei der ÖPNV oder die eben genannten Ziele? Denn den politischen und gesellschaftlichen Zielen und Herausforderungen steht das fortdauernde Problem der nicht ausreichenden Finanzierung des ÖPNV gegenüber.

Diese ungelösten Fragen, Probleme, Aufgaben und Perspektiven des öffentlichen Personenverkehrs haben 2014 zur Einsetzung dieser Enquetekommission geführt, beantragt von den Piraten und von allen Fraktionen beschlossen. Das war gut, denn die Notwendigkeit für diese Kommission ist in der Zwischenzeit größer geworden.

Einerseits ist der Druck technischer Innovationen und neuer Marktteilnehmer längst nicht mehr nur theoretischer Natur, andererseits verschärfen sich absehbar die finanziellen Probleme. Trotz des Mittelzuwachses im Landeshaushalt und erhöhter Regionalisierungsmittel sind die Erwartungen an den ÖPNV zukünftig mit einem einfachen „Weiter-so“ nicht zu stemmen.

Mitverantwortlich sind auch die aufgelaufenen Sanierungsdefizite vor allem bei den alten Stadtbahntunneln.

Dem ÖPNV droht eine Abwärtsspirale: weniger Geld, weniger Angebot, weniger attraktiv, weniger Fahrgäste, weniger politische Unterstützung und wieder weniger Geld usw. Diese Abwärtsspirale bei der ÖPNV-Finanzierung muss durch Angebot und Attraktivität durchbrochen werden – auch der politischen Ziele wegen.

Die Aufgaben wachsen derweil weiter. Denken Sie an die drohenden Fahrverbote für Diesel-Pkw in vielen Städten Nordrhein-Westfalens, auch zum Beispiel hier in Düsseldorf, wo gerichtlich festgestellt wurde, dass der Luftreinhalteplan auch praktisch funktionieren muss und nicht nur auf dem Papier stehen darf. Welche Mittel gibt es diesbezüglich? – Fahrverbote oder mehr ÖPNV. Die Notwendigkeit einer veränderten Verkehrspolitik wird spürbarer.

Es gibt bereits Forderungen nach einer Verkehrswende im Klimaschutzplan NRW und in den Berichten anderer Kommissionen. Wir wollten es aber nicht bei bloßen Forderungen belassen. Mit dieser Enquetekommission hat sich die Legislative sehr intensiv und zielgerichtet mit den detaillierten nächsten Schritten in die verkehrspolitische Zukunft befasst.

Wir haben alle Finanzierungselemente dreimal umgedreht, Strukturen infrage gestellt, auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Ich betone „wieder zusammengebaut“, denn am Ende bringt uns eine viel diskutierte Landesnahverkehrsgesellschaft nicht alleine ans Ziel. Wir haben auf sehr hohem Niveau recherchiert, analysiert und wissenschaftlich fundiert gearbeitet – in 28 zum Teil langen und intensiven Sitzungen nach der Einsetzung am 4. Juli 2014, von der Konstituierung am 12. Dezember 2014 bis in den Dezember 2016.

Wir haben als Grundlage drei Gutachten erstellen lassen. Für Politiker ist dabei das Gutachten von Schmid Mobility besonders interessant, welches dazu rät, Finanzierungstöpfe deutlich zu trennen. Auf Grundlage transparenter Finanzierungstöpfe können wir beispielsweise viel besser darüber streiten, wie wir mit den im Vergleich zur Gesamtfinanzierung geringen, sehr überschaubaren Einnahmen aus den Ticketerlösen in Zukunft umgehen.

Die Gutachten, Vortragsfolien und viele Inhalte konnten Sie schon seit langem einfach online abrufen. Wir

waren eine sehr transparente Enquetekommission. Wir haben bei den Beratungen die Expertise von rund 100 weiteren Sachverständigen einbezogen. Es waren sogar insgesamt mehr als 100 Experten, wenn man zum Beispiel die Experten, mit denen wir in Tallinn gesprochen haben, mitzählt.

Ja, die Kommission war auch in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Es war wirklich sehr gut, dort gewesen zu sein und den frischen Trends für den Nahverkehr nachzugehen. Jeder weiß, dass die Esten ganz vorne mit dabei sind, wenn es um Digitalisierung und die kostenfreie Nutzung des Nahverkehrs durch die Einwohner geht. Aber ohne Estnisch zu können, kann man eben nicht mal eben online nachschauen, wie es in der Praxis, im Alltag, im Leben funktioniert oder wie die Esten es selbst wahrnehmen.

Sicherlich läuft in NRW nicht alles wie in Estland. Aber würde ein fahrscheinfreier Nahverkehr zu mehr Vandalismus führen? Das lässt sich dort beantworten: Nein. Führen E-Tickets automatisch immer zur Harmonisierung? Auch nein.

Was waren ansonsten unsere Inhalte, was stand außer der Fahrscheinfreiheit für Bus und Bahn und der Digitalisierung noch auf der Agenda? Im Fokus standen die Sicherstellung der ÖPNV-Finanzierung und entsprechende Finanzierungsinstrumente. Die Enquetekommission hat dabei weit über die schlichte Forderung nach einfach nur mehr Geld hinaus gedacht.

Die konventionelle öffentliche Finanzierung ist kompliziert. Man kann die Finanzierung natürlich visualisieren, damit man sie besser versteht. In Fachkreisen nennt man diese Grafik, diese Visualisierung Spaghettidiagramm, und zwar deshalb, weil in dieser Grafik fast nur noch Linien zu sehen sind und man sie kaum auseinanderhalten kann. Wir haben geschaut, wie man das vereinfachen kann, und damit meine ich nicht nur die Vereinfachung der Grafik.

Ebenfalls ein weites Feld ist die Finanzierung durch die Fahrgäste. Hier ergab sich, dass das Lichten des Tarifdschungels, ein einfaches, nachvollziehbares und unkompliziertes System ohne Hürden viel mehr bringt als reine Preispolitik. Wir haben uns Analysen zum 365-€-Ticket in Wien und ähnliche Modelle angeschaut. Wir haben uns auch detailliert mit einer großen Anzahl innovativer Finanzierungsmodelle und Instrumente beschäftigt, die neue Wege gehen und andere Modelle ergänzen können.

Dazu zählen Solidargemeinschaften, wie beim Semesterticket, oder Umlagen, wie beim Bürgerticket, für die fahrscheinfreie Nutzung des Nahverkehrs, aber auch viele Varianten der Drittnutzerfinanzierung von der Parkraumbewirtschaftung bis zum Mieterticket. Darunter fällt auch die in Frankreich sehr erfolgreiche Transportsteuer, die zur zweckgebundenen

Finanzierung des ÖPNV vom Arbeitgeber erhoben werden kann.

Öffentlich-private Partnerschaften, Sponsoring – alle Instrumente wurden gleichberechtigt und wertfrei hinsichtlich Chancen, Risiken und Perspektiven analysiert. Auch Organisationsstrukturen sowie Chancen technischer und gesellschaftlicher Trends haben wir intensiv beraten. Wir haben dabei alle Akteure angehört und alle Argumente aufgenommen. Wir haben uns aber von keinem Verband beeinflussen lassen, sondern unabhängig von anderen Papieren einen Bericht erstellt, der dadurch für die zukünftige politische und wissenschaftliche Arbeit in dem Bereich besonders wertvoll ist.

Nicht jede Erkenntnis wird allen Akteuren schmecken. Das muss sie auch nicht. Ich freue mich, dass wir in der Analyse und bei der Erarbeitung der Grundlagen und Möglichkeiten alle gemeinsam mutig und progressiv vorgegangen sind. Auf dieser Basis wurden 18 gemeinsame Leitsätze entwickelt und 161 Handlungsempfehlungen – ja, acht weniger als bei der Familien-Enquetekommission gestern – mehrheitlich verabschiedet, die nun der Ausgangspunkt für konkrete politische Initiativen sind.

Die abschließende Bewertung einzelner Instrumente fällt zum Teil unterschiedlich aus. Dazu gibt es auch Sondervoten. Sie werden sicherlich gleich feststellen, dass die Sprecher der Fraktionen, mich eingeschlossen, auch Unterschiede betonen. Das ist nur logisch, wenn es um alles oder nichts für die Zukunft des ÖPNV geht. Wir streiten nämlich nicht um die Analyse, die Erkenntnis, über die Probleme oder die generellen Aufgaben des ÖPNV, sondern um die politischen Schwerpunkte, Zukunftsideen und politische Instrumente gegen den Stillstand.

Ich möchte Ihnen nun einen kurzen Überblick über die gemeinsamen Leitsätze und die Handlungsempfehlungen der Kommission geben.

Zunächst ein einfaches Finanzierungssystem, darunter die Aufteilung der Finanzierung und der Finanzierungstöpfe: erstens die Sanierung der kaputten Infrastruktur, die sogenannte nachholende Sanierung, zweitens den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur und drittens und unabhängig davon den Betrieb. Wir haben auch Fahrzeugpools rauf und runter diskutiert, aber natürlich kennen wir die Probleme dabei.

Prüfung zusätzlicher Finanzierungsinstrumente, vor allem die Möglichkeit der zusätzlichen Finanzierung für Kommunen, auf kommunaler Ebene: Hierzu müssen die gesetzlichen Grundlagen zur Einführung kommunaler Finanzierungsinstrumente erst geschaffen werden. Zudem muss der gesetzliche Rahmen zur Durchführung von Modellprojekten zu Finanzierungsinstrumenten und Angebotsformen auch auf kommunaler Ebene geschaffen werden. Es gibt an dieser Stelle aber auch Forderungen an den Bund,

wie beispielsweise eine zusätzliche Zweckbindung der Energiesteuer auf Kraftstoffe zur Finanzierung des Nahverkehrs.

Schaffung eines landesweiten ÖPNV-Regionalnetzes mit neuen Schnellbuslinien, die S-Bahn als Bus für Regionen ohne S-Bahn: Grob erklärt sollen vom Land bezahlte Schnellbusse die Aufgaben einer S-Bahn dort übernehmen, wo es keine S-Bahnen und Regionalbahnen gibt.

Multimodalität und multimodale Stationen: Das sind und bleiben große Aufgaben einer interdisziplinären Politik. Wichtig ist ein einheitlicher und leicht verständlicher Standard für die Kennzeichnung und die Beschilderung von Angeboten unterschiedlicher Mobilitätsstationen.

Veränderung der Strukturen und Vereinfachung und Harmonisierung der Tariflandschaft: Wir haben uns sehr viel mit den Details des aktuellen Tarifdschungels beschäftigt. Wir alle sehen, dass die Tariflandschaft mindestens verbesserungsfähig ist, ein Einfach-Weiter-Ticket ist erst ein sehr kleiner Schritt in die richtige Richtung.

Erhöhung der Attraktivität und Kundenfreundlichkeit: Wir haben uns dazu sehr viele Gedanken in alle Richtungen gemacht, aber auch zum Beispiel zu digitalen Angeboten. Wir haben das E-Ticketing breit beleuchtet. Was kann es bringen? Was kann es unter anderem als Fortentwicklung des bestehenden Systems mit neuen Ideen bringen? Auch dazu haben wir ein Gutachten erstellen lassen.

Beim E-Ticket soll ein deutlich vereinfachtes Tarifsystem zur Anwendung kommen. Wir empfehlen auch die Gewährleistung des Erwerbs von PrepaidE-Tickets ohne Registrierung; doch auch darüber hinaus muss der Datenschutz beim E-Ticketing aber gewährleistet sein. Wir wollen außerdem das direkte Buchen von Bedarfsverkehren und flexiblen Angeboten via Internet auch mobil ermöglichen.

Digitalisierung ist aber nicht allein gleichbedeutend mit dem E-Ticketing. Ein besonderes Augenmerk verdient die Digitalisierung als Geschäftsmodell. Der ÖPNV hat in Deutschland bereits jetzt zehn Milliarden Nutzer jährlich. Er ist ein Schlüsselmarkt beim Aufbau neuer digitaler Geschäftsmodelle. Dieser Bereich ist noch nicht einmal ansatzweise erschlossen – darin liegt noch großes Potenzial.

In kaum einem anderen Bereich fallen mehr Daten an. Das birgt Gefahren, aber auch Chancen. Verkehrsunternehmen und -verbünde sollen im öffentlichen Auftrag die Chance nutzen und nutzen dürfen, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Es wäre schön, wenn das sozusagen die öffentliche Hand macht und wir nicht plötzlich von außen überrascht werden. Open Data und offene Schnittstellen spielen dabei auch eine sehr wichtige und entscheidende Rolle.

Außerdem wollen wir, dass NRW die Chancen autonomer, fahrerloser Fahrzeuge und neuer Antriebstechnologien nutzt.

Abschließend empfehlen wir dem Verkehrsausschuss des Landtages, regelmäßig, mindestens aber alle zwei Jahre nach Beginn der anstehenden Legislaturperiode über den Stand der Umsetzung des Berichts der Enquetekommission zu unterrichten.

Mit diesen Leitsätzen, Handlungsempfehlungen und dem Bericht haben wir die Grundlage und die Empfehlungen für eine zukunftsfähige und vorausschauende Verkehrspolitik erarbeitet. Diese ist sowohl dringend gefordert als auch machbar, denn wir haben Handlungsempfehlungen zurechtgelegt, mit denen jede Fraktion und jede Regierung etwas anfangen kann.

Schauen Sie dabei nicht nur auf die Essenz, die Handlungsempfehlungen, sondern blättern Sie durch den Bericht! Wir haben uns mit Instrumenten beschäftigt, die nicht zur Alltagspolitik des Parlaments gehören. Die Analysen und Ergebnisse können sich sehen lassen, sie gehen weit über das hinaus, was in der üblichen parlamentarischen Arbeit im Landtag für den ÖPNV erreicht wird – wir haben uns ja auch zwei Jahre damit beschäftigt.

Ich danke dafür den rund 100 Sachverständigen, die in Sitzungen, durch Vorträge, Stellungnahmen und Gutachten sowie während unseres Aufenthalts in Tallinn bei der Erarbeitung dieses Berichts geholfen haben.

(Allgemeiner Beifall)

Ein besonderer Dank gilt den dauerhaften Sachverständigen und Kommissionsmitgliedern Professor Dr. Tobias Bernecker, Benedikt Hauser, Gisela Nacken, Jörg Niemann und Dr. Klaus Vorgang, die uns über die 28 Sitzungen intensiv begleitet haben. Ihnen ist es zu verdanken, dass wir das fachlich hohe Niveau der Enquetekommission auch in den Debatten der Sitzungen dauerhaft ganz oben halten konnten.

(Allgemeiner Beifall)

Frau Nacken, Herr Dr. Vorgang, zumindest Sie habe ich schon gesehen. Ich freue mich, dass Sie die Plenardebatte heute live hier verfolgen.

(Allgemeiner Beifall)

Ebenfalls hier im Saal sind die wissenschaftlichen Referentinnen Dr. Friederike Maus und Sabrina Baur – sie ist seit Sommer 2016 im Team –, die uns vom Landtag aus nicht nur unterstützt, sondern durch alle fachlichen Ebenen und auch Täler geleitet haben. Vielen Dank, dass Sie mit uns dieses Projekt gestemmt haben!

(Allgemeiner Beifall)

Für die Kraft und den Antrieb dieses Projekts möchte ich mich herzlich bei allen Referentinnen und Referenten der Fraktionen bedanken, die mit sehr großem Einsatz erarbeitet und festgehalten haben, was Sie in den Kapiteln des Berichts lesen können. Die ganze Zeit und überall dabei waren Stefan Bouillon, Michèle Eichhorn, Evelyn Hepp, Daniel Schleiser und Gregor Waluga. Das sind die Expertinnen und Experten, die nun jedes Detail zur Finanzierung des Nahverkehrs in NRW kennen.

(Allgemeiner Beifall)

Mein besonderes Dankeschön für die hervorragende, immer perfekte und zuverlässige Organisation geht an Annette Kowol und das gesamte Kommissionssekretariat mit Gisela Lange, Lena Dietel, Lisa Marie Tiedtke, Julia Lovenfosse, Patricia Giraldo und Mirjam Hufschmidt. Ihnen möchte ich auch noch einmal herzlich für die Organisation danken.

(Allgemeiner Beifall)

Ich möchte nicht ständig Superlative gebrauchen, aber was soll man machen? Das Team war halt wirklich gut, es war klasse.

Zum Enqueteteam: Zu dem Enqueteteam, das so wunderbar zusammengearbeitet und für den Nahverkehr in NRW Informationen und politische Positionen zusammengetragen, analysiert und bewertet hat, gehören vorneweg die zwölf Abgeordneten unter den Kommissionsmitgliedern, darunter mein Stellvertreter Carsten Löcker und die Sprecher der weiteren Fraktionen Henning Rehbaum, Rolf Beu und Thomas Nückel. Ich habe sehr gerne mit Ihnen zusammengearbeitet. Das haben wir sehr gut gemacht. Auch Ihnen meinen ganz herzlichen Dank!

Alle 17 Mitglieder der Kommission sind tief in die Themenbereiche eingestiegen und haben sehr konstruktiv am Fortschritt der Enquetekommission gearbeitet. Die Handlungsempfehlungen der Enquetekommission sollen weit über den Bericht hinaus Wirkung entfalten. Wir freuen uns daher auf das Feedback und das Engagement der Ministerien, der Verkehrsunternehmen, der Aufgabenträger, der Politik insgesamt und aller Interessierten. Sorgen Sie mit Mut und Beharrlichkeit dafür, dass wir in NRW die Mobilität aller Menschen auf Dauer gewährleisten können! Das sage ich nicht nur einfach so, das meine ich ernst.