Protokoll der Sitzung vom 15.05.2014

Die Integrationsfirmen sind ein ebenso gutes Beispiel. Während in den 50er-, 60er-, 70er- und oft auch noch in den 80er-Jahren das Arbeitsgebiet für Menschen mit Beeinträchtigung hauptsächlich in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung – in der WfbM – lag, gibt es jetzt immer mehr Integrationsfirmen, wo diese Menschen Beschäftigung finden. Auch im ersten Arbeitsmarkt bieten sich ihnen immer mehr Möglichkeiten, ein Arbeits- und Erwerbsleben aufzunehmen und so auch für die eigene Alterssicherung vorzusorgen.

Thema „Schule“: Wir haben das Schulrechtsänderungsgesetz. Auch hierzu haben wir einen langen Beratungsprozess und Werdegang hinter uns. Auch hier ist es nicht so, dass wir – wie es manchmal von der Opposition hier dargestellt wird – von heute auf morgen mit der Brechstange ein System umstellen wollen. Das hat zum Beispiel in Italien vor 30 Jahren stattgefunden. Da hat man von heute auf morgen Förderschulen geschlossen und Betroffene in Regelschulen unterrichtet. Inzwischen hat man dort einen 30-jährigen Prozess hinter sich, und auch da hat es – wir haben das im Ausschuss im letzten Jahr erleben dürfen – insgesamt betrachtet eine überaus positive Entwicklung gegeben.

In Deutschland gehen wir einen anderen Weg. Wir hatten 25 Jahre Vorlaufzeit. Auf Druck von Elterninitiativen und Eigeninitiativen sind Möglichkeiten geschaffen worden, Kinder mit Beeinträchtigung auch in der Regelschule zu unterrichten; mit dem Schulrechtsänderungsgesetz haben sie jetzt ein Recht darauf. Und damit haben sie eine begründete, rechtlich festgelegte Wahlmöglichkeit; vorher war eine Wahlmöglichkeit in dieser Form nicht gegeben.

Wir müssen uns natürlich auch überlegen, wo es noch hingehen soll. Jenseits der berechtigten und richtigen Forderung nach einem Bundesleistungsgesetz, das einen bundeseinheitlichen Rahmen für die Eingliederungshilfe in unserem Land geben soll und schnellstmöglich formuliert und umgesetzt wer

den muss, müssen wir natürlich überlegen: Wie soll es hier in unserem Lande weitergehen?

Inklusion bedeutet uneingeschränkte Teilhabe. Wir müssen vermeiden, dass Barrieren überhaupt erst entstehen. Es reicht nicht, einfach nur an vielen möglichen oder unmöglichen Stellen Fördertöpfe aufzustellen, mit denen ein bisschen Geld für eine kleine Maßnahme zur Verfügung gestellt wird. Ich denke, wir sollten da andere Visionen entwickeln.

Wir müssen uns überlegen: Warum sollen die Normen, die es jetzt schon für barrierefreie Bauten gibt, nicht selbstverständlich und grundsätzlich angewendet werden? Warum werden nicht gleich von vornherein überall – nicht nur in öffentlichen Bauten, sondern generell – breitere Türen gebaut? Warum werden Bäder – oder mindestens eine sanitäre Anlage in den Häusern – nicht generell rollstuhlgerecht gebaut? Das sind Dinge, die wir überlegen und voranbringen müssen, um so später teure Umbauten oder Nachrüstungen zu vermeiden.

Die Betroffenen sollten auch nicht mehr per Einzelantragsverfahren ihr Recht einfordern müssen. Eigentlich sollten sie nur ihren Bedarf anmelden, und die Einrichtungen, in die gehen, sollten die Unterstützungs- und Hilfsmittel selbstverständlich zur Verfügung stellen.

Kommunikationshilfen – sie sind heute schon mehrfach angesprochen worden – sind sicher richtig. Ich glaube aber, dass wir da generalistischer denken müssen. Es reicht nicht, ein paar Tausend Euro zur Verfügung zu stellen und immer nur auf Antrag für einzelne Sitzungen Hilfe zu leisten. Wir müssen sehen, dass wir Menschen im System heranziehen, die zum Beispiel die Gebärdensprache können. Was hindert uns daran, in der Kita, in der Schule und an der Hochschule deutsche Gebärdensprache, die als offizielle Sprache in Deutschland anerkannt ist, zu lehren?

Also: Wir müssen die Situation vom Kopf auf die Füße stellen. Die Betroffenen haben ein Recht auf Teilhabe, auf selbstbestimmtes Leben. Die Institutionen, die Gesellschaft müssen sich entsprechend einrichten.

Ich möchte mit einem kleinen Zitat des DiplomBetriebswirts und Analytikers Rainer Stawski enden: „Visionen sind die Leitbilder der Gegenwart“, und in der Zukunft werden sie umgesetzt.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Grochowiak-Schmieding. – Nun spricht für die Piratenfraktion Herr Kollege Fricke.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz besonders liebe

Bürgerinnen und Bürger – egal ob mit oder ohne Behinderung! Heute geht es um den vor knapp zwei Jahren beschlossenen Inklusionsplan der Landesregierung. Sie fragen sich nun vielleicht, warum ausgerechnet ich mich mit diesem Thema beschäftige und nicht ein im Fachbereich Soziales aktiver Kollege. Sollte das zutreffen, frage ich zurück: Wer, glauben Sie, könnte besser für dieses Thema geeignet sein als ein Mensch, der nicht nur selbst betroffen, sondern auch in den legislativen Prozess miteingebunden ist? Tatsächlich war es mir ein großes Anliegen, mich intensiv mit diesem Thema zu beschäftigen und aus dieser Doppelrolle heraus dazu Stellung zu nehmen. Sonst werden die Betroffenen ja eher selten gefragt.

Die Landesregierung hat es nun nach „nur“ 23 Monaten tatsächlich geschafft, den neuen, im Juli 2012 beschlossenen Inklusionsplan vorzustellen. Ich vermute mal, dass sie sich einfach schämt und deshalb mit der Vorstellung dieses Werks so zögerlich war.

(Beifall von den PIRATEN)

Natürlich war vor über einem Jahr, als der erste Termin überraschend abgesagt wurde, die Holzaffäre von enormer Bedeutung. Es mussten schließlich die besten Bretter herausgesucht werden. Fragen Sie mich aber um Himmels willen nicht nach deren Verwendungszweck. Das war ein willkommener Anlass, die Inklusion ins Tagesgeschäft zu inkludieren.

Dumm nur, dass in der vorletzten Plenarrunde ursprünglich die sogenannten Kompetenzzentren wie Kaninchen aus dem Zylinder auf die Tagesordnung hüpften; denn so hatte ich Gelegenheit, die regierende Koalition an ihr Versäumnis zu erinnern. Leise und verstohlen wurde die Vorstellung dieses Werkes dann wieder auf die Tagesordnung gesetzt und der Termin sogar auf den ersten Plenartag gelegt. „Honi soit qui mal y pense“: Es wäre wirklich nicht schön gewesen, wenn die Parlamentarier genügend Zeit gehabt hätten, sich mit diesem vergessenen Text auseinanderzusetzen.

23 Monate! In all dieser vergangenen Zeit wäre eine Förderung der Inklusion – vielleicht sogar in Kompetenzzentren – nicht nur möglich, sondern sogar sehr wünschenswert gewesen. Aber da ist dieser wunderschöne Inklusionsplan. Korrekt müsste man sagen: Dieses wunderschöne Inklusionsmärchen ist leider über seine eigenen Füße oder – besser gesagt – Lücken gestolpert. Dabei kann man noch nicht einmal von „Lücken“ reden, denn dazu müsste ja zunächst einmal Substanz vorhanden sein. Der Plan folgt spurgetreu seinen eigenen Vorgaben. Das ist ein Paradoxon, denn ein Plan sollte doch etwas vorgeben. Dieser Plan ist aber quasi eine verfilmte Tragödie seines eigenen Skripts. Er gibt nichts vor, sondern er beinhaltet nur eine schlichte Zusammenfassung von Bestehendem mit neuem Etikett.

(Beifall von den PIRATEN)

„Etikettenschwindel“ nennt man so etwas wohl im Verbraucherschutz oder – wenn man es schönfärben will – „Umetikettierung“!

(Beifall von den PIRATEN)

Ich habe lange überlegt, womit ich anfangen soll: mit einer Aufzählung dessen, was in knapp zwei Jahren seit der Erstellung dieses Märchenbuchs alles hätte getan werden können, aber nicht getan worden ist? Oder damit, woran sich unsere Landesregierung tatsächlich versucht hat? – Ja, ja, meine Damen und Herren, so etwas gibt es tatsächlich. Aber leider hat die Landesregierung dermaßen danebengelangt, dass es ihr widerstrebt, diesen Plan vorzustellen – was ich gut verstehen kann.

Vielleicht sollte man tatsächlich mal am Anfang beginnen: den Bedürfnissen der Betroffenen. Hat denn irgendjemand mal diese Menschen gefragt, was sie für eine funktionierende Inklusion brauchen, was sie von einer funktionierenden Inklusion erwarten? Ich spreche hier von Menschen, nicht von Strukturen, meine Damen und Herren. Es sind Menschen, die mit ihrer Behinderung leben und zurechtkommen müssen.

Nehmen wir als Beispiel mal unser Hohes Haus. Das ist – nicht nur nach Vorgaben und Konstruktion – wirklich schon sehr weit – so weit, dass man es durchaus als behindertenfreundlich bezeichnen kann; behindertengerecht ist es jedoch noch lange nicht. Wie soll sich zum Beispiel ein blinder Mensch in diesem Bau zurechtfinden? Würden Blinde jemals ohne Hilfspersonal hierher eingeladen, ohne fremde Hilfe, nur mit ihrem Taststock oder Spürhund, auf eine Reise durch dieses Gebäude geschickt?

Es gibt hier im Haus in der Telefonzentrale – einem schon seit Jahrzehnten klassischen Arbeitsplatz für Blinde – eine blinde Mitarbeiterin, die auch ihren Führhund mitbringen darf. Aber auch das ist kein Musterbeispiel für Inklusion. Wurde sie jemals um ihre Meinung zu eventuellen Verbesserungen gefragt?

Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass der Antrag unserer Fraktion an den Ältestenrat des Hauses, als einen ersten Schritt in Richtung Behindertengerechtigkeit die Büros in Braille zu kennzeichnen, abgelehnt wurde. Ist es das, was die Landesregierung unter „gelebter Inklusion“ versteht?

Wie gesagt, unser Haus ist aus Behindertensicht durchaus als fortschrittlich zu betrachten. Wie mag es also erst anderswo aussehen?

Inklusion ist mehr als nur der Bau von Rampen in öffentlichen Gebäuden oder das Errichten oder Aufblähen von Strukturen. Inklusion heißt und sollte es auch sein: das Miteinander, das gemeinsame Leben von Menschen mit und ohne Behinderung aller

Art. Behinderte Menschen, das sind Rollstuhlfahrer, Gehörlose, Blinde, sensoral, mental und psychisch – teilweise multipel – beeinträchtigte Menschen, die mit den „Normalen“ „normalen“ Umgang haben sollten.

„Normaler“ Umgang fängt im Kindesalter an. Theoretisch! Praktisch sieht es aber so aus, dass bei unserer Landesregierung und in deren Strukturen behinderte Menschen im Kindesalter nicht existieren. Denn der famose Inklusionsplan sieht sie erst gar nicht vor. Pech für sie!

Weiter geht es mit der schulischen Inklusion. Diesem Aspekt widme ich nachher noch detailliertere Ausführungen. Fangen wir mit den einfachen Dingen an.

Inklusion in NRW in den Bereichen Bauen und Verkehr: Diese Inklusion findet nicht statt. Das ist eine Nullnummer, egal ob es sich um den Punkt 4.1.1.2 – Landesbauordnung – handelt oder den Punkt IV.1.1.8 – Wohn- und Teilhabegesetz NRW – oder den Punkt IV.4.6 – Barrierefreier Wohnraum. Sie alle sind im Inklusionsplan aufgeführt. Teilweise wird schon seit Jahrzehnten darüber geredet. Das ist es dann aber auch schon. Zu manchen Themenbereichen muss man wirklich nicht mehr viele Worte verlieren. Das immerhin ist erfreulich.

Zur Inklusion im Bereich des gemeinsamen Lebens gehört auch der Sport. „Im Westen nichts Neues“ – das ist fast so alt wie der Roman von Erich Maria Remarque. Viele schöne Absichtserklärungen, aber noch nicht einmal eine Zeile, die man auch nur ansatzweise als Ergebnis interpretieren könnte.

Ach, nein – beinahe hätte ich etwas vergessen: Am 24. Oktober 2012 fand laut Inklusionsplan ein Fachkongress statt, an dessen Erkenntnissen auch ich durchaus interessiert gewesen wäre, wozu ich aber leider auch nichts gefunden habe. Hat der Behindertensport in NRW in den letzten Jahren in irgendeiner Form eine zusätzliche, nicht durch den Inklusionsplan initiierte Förderung erfahren? – Mir ist nichts dazu bekannt.

Kommen wir nun zur schulischen Inklusion. Hier und nur hier sind tatsächlich Aktivitäten unserer Landesregierung feststellbar:

Im Oktober vergangenen Jahres wurde das Inklusionsgesetz beschlossen. Meine Kollegin Monika Pieper hat sich zu diesem Bereich ebenso kritisch wie konstruktiv geäußert – leider jedoch ohne Erfolg. Das Ergebnis ist ein komplettes Fail mit verheerenden Auswirkungen für die Betroffenen.

(Beifall von den PIRATEN, Ursula Doppmeier [CDU] und Walter Kern [CDU])

Aber lassen Sie uns auch hier bei den Bedürfnissen der Betroffenen beginnen. Wurden die Eltern behinderter Kinder jemals gefragt, ob sie ihren Nachwuchs überhaupt in Regelschulen schicken wollen? – Nicht dass ich wüsste. Teilweise wollen sie

das sicher. Dieser Tage ging ein Fall aus BadenWürttemberg durch die Presse, in dem die Eltern ihr behindertes Kind auf dem Rechtsweg in eine Regelschule einklagen wollen. Ob das immer der richtige Weg ist, bleibt dahingestellt.

Sozialdemokraten wie Grüne frönen hier in NRW ungeniert ihrer altmissionarischen Nanny-Tradition: Wir wissen, was für dich, Bürger, gut ist! – Da es nicht so direkt sicht- und spürbar ist wie ein VeggieDay, gibt es hier auch keinen Aufschrei.

Wie viele Eltern gibt es denn, die entsetzt darüber sind, dass Förderschulen, die ihrem Namen Ehre machen und den behinderten Nachwuchs bestmöglich auf das Leben vorbereiten, geschlossen werden, da ja alles inkludiert wird?

Und werden behinderte Kinder heute weniger gehänselt als in X Jahrzehnten? – Nicht dass ich wüsste. Aber das soziale Klima wird insgesamt rauer, und daher ist eine gesunde Abhärtung in jungen Jahren sicherlich sinnvoll.

Entschuldigen Sie bitte meinen unechten Zynismus und die – allerdings nur leicht – überzeichnete Darstellung, aber diese Form sozialer Kälte unter einer Landesregierung, die „sozial“ in ihrem Namen trägt, ist für mich unerträglich.

(Beifall von den PIRATEN)

Nach dem neuen Gesetzeswerk, welches spätestens im kommenden Schuljahr Anwendung finden soll, ist die Regelschule auch für diejenigen Kinder, die eine sonderpädagogische Betreuung brauchen, der Regelförderort. Dort sollen sie an eigene Bildungsabschlüsse herangeführt werden, wenn sie die Lernziele der regulären Unterrichtspläne nicht erreichen. Neu ist an dieser Regelung nur, dass das nunmehr in der Regelschule geschieht. Die Regelschulen sind jedoch in keiner Weise, und zwar weder personell noch finanziell, auf diese Aufgabe vorbereitet.

Dies zeigt plakativ ein aktueller Fall des Verwaltungsgerichts Düsseldorf mit dem Aktenzeichen 19 K 469/14, der es bis in den „Spiegel“ geschafft hat. Ob dies ein Einzelfall bleibt, wird sich noch zeigen. Für die betroffenen Eltern ist es sicherlich kein Trost, dass die Landesregierung für eine verkorkste Gesetzgebung in Amtshaftung genommen werden kann; ich zumindest bezweifle das.

Verstehen wir uns richtig: Inklusion ist dringend nötig; viel zu lange wurden Menschen wie ich ausgegrenzt. Inklusion ist aber kein Spielplatz für Experimente auf Kosten der Betroffenen. Die haben nämlich schon genug zu kämpfen.

Ich möchte nun noch auf die Strukturen zu sprechen kommen. Wofür sollen Strukturen denn gut sein, wenn sie den Bedürfnissen der Betroffenen nicht gerecht werden? Das, was die Regierung bisher vorgelegt hat, ist lediglich eine riesige Montgolfiere, eine Aufblähung von bürokratischen Struktu