Protokoll der Sitzung vom 10.09.2014

Wir kommen zur Abstimmung. Wir haben jetzt drei Abstimmungen durchzuführen, erstens über den Antrag von CDU und FDP Drucksache 16/6631. Direkte Abstimmung ist beantragt. Wer stimmt also diesem Antrag zu? – CDU, FDP, Herr Stein (frakti- onslos) und die Fraktion der Piraten. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Gibt es Enthaltungen? Das ist nicht der Fall. Nach meinem Auge war die Mehrheit gegen den Antrag; er ist abgelehnt.

Zweitens. Wir kommen zur Entscheidung über den Entschließungsantrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/6754. Wer stimmt der Entschließung zu? – Die Fraktion der Piraten. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – SPD, Grüne, CDU und FDP. Gibt es Enthaltungen? – Keine Enthaltungen. Sie waren mit dabei, Herr Stein. Das haben wir jetzt zur Kenntnis genommen. Damit ist der Entschließungsantrag Drucksache 16/6754 mit großer Mehrheit abgelehnt.

Die dritte Abstimmung über den Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 16/6670: Wer stimmt diesem Antrag zu? – SPD und Grüne. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Herr Stein (fraktionslos) , die Piratenfraktion, die CDU- und die FDP-Fraktion. Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. Damit hat die Mehrheit für den Antrag Drucksache 16/6670 von den Fraktionen von SPD und Grünen gestimmt. Er ist damit angenommen.

Wir kommen zu:

4 Anonyme Krankenkarte einführen – Medizini

sche Versorgung für Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen sicherstellen

Antrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/6675

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die antragstellende Fraktion Herrn Kollegen Herrmann das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Bürgerinnen und Bürger im Saal und im Stream!

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Danke schön.

Das Thema unseres Antrages ist nicht neu. Der Anspruch auf medizinische Versorgung ist jedoch ein Grundrecht, welches sich aus der im Grundgesetz verankerten Garantie der Menschenwürde, dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit ableitet.

Leider ist es mit der medizinischen Versorgung der Flüchtlinge in Deutschland nicht zum Besten be

stellt. Asylsuchende müssen sich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erst im Sozialamt melden, um sich einen Krankenschein zu holen. Dort wird zunächst geprüft, ob der Asylsuchende wirklich dringender Hilfe bedarf – wohlgemerkt, nur dringender medizinischer Hilfe –, denn Asylsuchende haben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur einen eingeschränkten Anspruch auf medizinische Hilfeleistung.

Stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie müssten, wenn Sie krank sind, zunächst mit öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch die Stadt zum Amt fahren, dort hoffen, dass Ihnen der Sachbearbeiter einen Schein gibt. Und erst dann können Sie zu einem Arzt gehen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mit meinen Vorstellungen von Menschenwürde ist das kaum zu vereinbaren.

(Beifall von den PIRATEN)

Noch schwerer trifft es Menschen ohne Papiere. Zwar haben auch diese Menschen einen grundsätzlichen Anspruch auf die reduzierte Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; aber in der Praxis ist es ihnen kaum möglich, medizinische Dienste in Anspruch zu nehmen. Zu groß ist die Angst, dass sie durch Meldungen von Personendaten entdeckt und schließlich abgeschoben werden.

Seit 2009 besteht zwar der sogenannte verlängerte Geheimnisschutz, nach dem abrechnendes Krankenhauspersonal und auch die Mitarbeiter in den Sozialämtern der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen, wenn Daten von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus zum Zwecke der Leistungsabrechnung übermittelt werden, aber die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer weist darauf hin, dass dies den zuständigen Behörden immer noch weitgehend unbekannt ist, weshalb Patienten weiterhin damit rechnen müssten, nachträglich gemeldet und dann gegebenenfalls ausgewiesen zu werden. Die Angst vor Entdeckung ist also weiterhin begründet. Das dürfen wir nicht zulassen.

(Beifall von den PIRATEN)

Aus diesen Gründen hat Rot-Grün in Niedersachsen einen Antrag eingebracht, der die medizinische Versorgung für Flüchtlinge dort verbessern soll. Wir Piraten begrüßen diesen Antrag. Denn er zeugt von dem in Niedersachsen schon seit einiger Zeit propagierten Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik hin zu einer Willkommenskultur und zu Verantwortung für Flüchtlinge.

Obwohl in Nordrhein-Westfalen ebenfalls Rot-Grün regiert, ist hier von einem solchen Paradigmenwechsel leider wenig zu spüren. Zuletzt konnte man im Fall der Abschiebehaftanstalt Büren sehen, dass NRW flüchtlingspolitisch ein vergleichsweise rückständiges Bundesland ist. Im Vergleich dazu sind sogar manche Bundesländer mit einer konservativen Regierungsbeteiligung weiter. Ich erinnere daran, dass der Bundesgerichtshof hier die Nutzung

der Abschiebehaftanstalt verbieten musste; vorher gab es kein Einsehen.

Wir wollen jedoch nach vorne blicken und diesen Umstand zusammen mit Ihnen ändern. Aus diesem Grund haben wir den Antrag von Rot-Grün aus Niedersachsen adaptiert und hier eingebracht.

(Thomas Stotko [SPD]: Adaptiert? Kopiert!)

Adaptiert, natürlich. Wie wir aus Gesprächen mit Flüchtlingsinitiativen wissen, gab es auch in NRW Gesprächsrunden mit Abgeordneten. Doch scheint es, dass nach der letzten Wahl mal wieder nichts mehr passiert ist.

Die medizinische Flüchtlingshilfe Bochum, die Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative STAY! sowie das MediNetz in Bonn legten ein Konzept für ein Pilotprojekt zur medizinischen Versorgung für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus in NRW vor. Doch auch dieses Konzept scheint in den Schubladen verschwunden zu sein.

Meine Damen und Herren, wenn wir hören, dass Leute vom OP-Tisch geholt werden, weil das Sozialamt die Versorgungsleistungen versagt, oder dass es zu Fehlgeburten kommt, weil sich Schwangere nicht zum Arzt trauen, dann besteht dringender Handlungsbedarf. Wenn Menschen nicht zum Arzt gehen, besteht die Gefahr der Verschlimmerung und Chronifizierung von Krankheiten und schließlich sogar Lebensgefahr. Darüber hinaus ist im Fall unbehandelter Infektionskrankheiten auch die Bevölkerung insgesamt gefährdet. Allein aus gesundheitspolitscher Sicht muss in dieser Hinsicht etwas getan werden.

Ich möchte Sie daher dringend bitten, das Thema in den Ausschüssen mit dem angemessenen Ernst und der angemessenen Dringlichkeit zu behandeln. Lehnen Sie den Antrag nicht allein deswegen ab, weil wir Piraten ihn eingebracht haben. Schließlich stammt das Original noch nicht einmal von uns.

Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Herrmann. – Für die SPD-Fraktion spricht nun Herr Kollege Stotko.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Herrmann, Sie machen es einem echt schwer. Ich bereite eine Epochalrede vor, die mit den Worten begonnen hätte: „Ihr Antrag geht in die richtige Richtung und greift eine langjährige Diskussion auf“, und dann höre ich mir Ihren Wortbeitrag an, und es graust mir. Denn dieser beginnt mit: Ich habe gehört, es sind welche vom OP-Tisch geholt worden.

Dann würde ich sagen, wir machen es uns einfach, und ich bitte Sie darum, uns den Fall im Rahmen der Ausschussberatung vorzutragen, damit wir uns dem zuwenden können. Denn das wäre eine Unerträglichkeit, um es einmal ganz deutlich zu sagen.

Darüber hinaus unterstellen Sie dem Land Nordrhein-Westfalen und der, wie ich finde, gut arbeitenden Regierung, sie hätten keinen Paradigmenwechsel vollzogen, und in anderen Ländern sei das alles viel besser. – Die Länder, die ich vergleiche, sind die anderen 15 Bundesländer. Manche davon sind auch gut aufgestellt. Ich glaube aber, dass wir in Nordrhein-Westfalen mit der Art und Weise, in der wir insbesondere seit 2012 mit Flüchtlingen umgehen, geradezu einen Vorbildcharakter haben. Da mag Ihnen die Entscheidung zu Büren sozusagen genehm sein. Das hat aber nichts miteinander zu tun.

Des Weiteren haben Sie, wenn ich es richtig gehört habe, gerade gesagt: Stellen Sie sich einmal vor: Wenn ein Flüchtling einen Krankenschein haben möchte, muss er gegebenenfalls mit dem Bus in die Stadt fahren und sich den Schein zuerst beim Sozialamt holen. Wer weiß, ob er es dann überhaupt bekommt. – Auch hier bitte ich Sie, uns Fälle aufzuzeigen, in denen ein Mitarbeiter einer Stadtverwaltung gesagt hat: Sie bekommen keine Bescheinigung von mir, dass Sie zum Arzt dürfen.

Ich möchte Sie daran erinnern: Auch in NordrheinWestfalen gibt es Menschen ohne Flüchtlingsstatus, die ohne eine Bescheinigung des Amtes einen Termin bei einem Arzt haben möchten und den in acht Wochen bekommen. Ich möchte einfach auf die Gleichheit der Mittel hinweisen. Wir haben grundsätzliche Probleme bei der Frage der Gesundheitsversorgung und der Frage, ob Menschen in der Bundesrepublik Deutschland schnell genug einen Arzttermin bekommen. Das betrifft sowohl Flüchtlinge als auch Menschen mit einem deutschen Pass.

Weil ich mir aber vorgenommen hatte, Ihren Antrag würdevoll zu behandeln und positiv zu bewerten, mache ich damit weiter. Denn ich finde, zwei Punkte Ihres Antrags sind sehr erwähnenswert.

Fakt ist, dass Asylbewerber und Flüchtlinge immer noch keine Krankenversicherung haben. Das ist für uns als Sozialdemokraten unerträglich. Wir halten das für den falschen Weg.

(Beifall von der SPD)

Wir halten es hingegen für den richtigen Weg, dass auch die Betroffenen unter das Krankenversicherungssystem fallen. Dann muss man sich aber auch ehrlich machen und sich fragen: Wer ist dafür zuständig?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen könnten wir eine bundesweite Regelung im SGB treffen und das unsägliche Asylbewerberleistungsgesetz abschaf

fen, was im Übrigen seit Jahren eine klare Forderung der SPD ist. Dafür gibt es aber leider weder im Bundesrat noch im Bundestag Mehrheiten. Denn bei einer Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes würden die betroffenen Flüchtlinge mit gesichertem oder ungesichertem Aufenthaltsstatus unter das SGB fallen. Damit hätten wir das Problem gelöst. Das bekommen wir offensichtlich nicht hin.

Zum anderen – das haben Sie selbst schon ein bisschen im Gegensatz zu Ihrem Antrag relativiert – darf humanitäre Hilfe nicht am Strafrecht scheitern. Immerhin haben Sie eingesehen, dass es gesetzliche Änderungen gegeben hat und gerade in einem Nebensatz gesagt, das wüssten aber noch nicht alle. Es ist aber so.

Insofern müssen wir in dieser Hinsicht für Transparenz sorgen, und zwar sowohl bei den Flüchtlingen als auch bei den Ärzten als auch in der Bevölkerung. Wir müssen deutlich machen, dass es keine Notwendigkeit und keinen Zwang gibt, Menschen, deren Aufenthaltsstatus unsicher ist, den Arztbesuch deshalb zu verwehren, weil der Arzt, seine Mitarbeiter oder alle Beteiligten Angst haben, das zur Strafanzeige bringen zu müssen. Das war früher der Fall, ist jetzt aber nicht mehr so. Das muss man ernst nehmen.

Deswegen will ich Ihnen Folgendes mit auf den Weg geben: Ob der von Ihnen hier in Ihrem Antrag vorgeschlagene Weg überhaupt der richtige ist, werden wir diskutieren. Ob die Kommunen in Nordrhein-Westfalen, in deren Selbstverwaltungsrecht wir nicht unbedingt eingreifen wollen, einen solchen Vorschlag gut finden – sie müssten dann beispielsweise nicht mehr für horrende Kosten einer Bluttransfusion aufkommen, weil es landesweit ein Krankenversicherungssystem gäbe –, können wir gerne mit diesen besprechen. Ob die gerade schon von mir insistierte Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes statt eines Alleingangs in einzelnen Ländern der richtige Weg wäre, müssen wir diskutieren. Ob Ihr Antrag, den Sie nicht adaptiert, sondern abgeschrieben haben, der richtige ist, weil Sie ihn von Sozis und Grünen abgeschrieben haben, müssen wir diskutieren. Und letztlich müssen wir auch die Frage diskutieren, ob wir ein solches Pilotprojekt machen. Auf diese Diskussion im Ausschuss freue ich mich.

Hätten Sie bloß anders gestartet, dann wäre mir all das viel leichter gefallen. – Besten Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Stotko. – Für die CDU-Fraktion hat nun Herr Kollege Kruse das Wort.

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der

Piratenfraktion ist in weiten Teilen aus einem Antrag abgeschrieben, den SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor wenigen Wochen in den Niedersächsischen Landtag eingebracht haben.

(Minister Ralf Jäger: Gute Recherche!)