Protokoll der Sitzung vom 05.12.2014

Doch es bleibt fraglich, ob wir damit den Bedürfnissen von Familien ausreichend gerecht werden. Es ist selbstkritisch zu hinterfragen, ob wir nicht in einer sich stetig wandelnden Gesellschaft die immer neuen Herausforderungen an Familie, Kinder und Eltern immer wieder mit neuen Diskussionen und mit dem Ringen um Antworten, um Probleme lösen zu können, tatsächlich beantworten müssen.

Wir müssen auch hinterfragen, inwieweit bestehende Angebote tatsächlich von Familien genutzt werden und wie wir es schaffen, dass bereits existierende Angebote noch mehr genutzt werden, ohne dass Eltern das Gefühl bekommen, sie sollen bevormundet werden, sondern sie sollen die Angebote als das verstehen, was sie sind: Unterstützungsleistungen. So wird zum Beispiel das wirklich gute Elternstartprogramm noch nicht in der Form frequentiert, wie wir uns das alle wünschen. Auch beim Elterngeld müssen wir dahinkommen, dass Elternzeit nicht mehr in Haushalten mit Doppelverdienern oder nach dem Einkommen, sondern nach dem Willen und dem Wunsch nach Elternzeit entschieden wird.

Was die Chancen von Kindern betrifft, haben wir bereits im Jahr 2008 eine Enquetekommission gemeinsam erfolgreich abgeschlossen. Die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des damaligen Berichts – wie die Versorgung mit U3-Plätzen oder die Abschaffung der Elternbeiträge – bestimmen noch heute unsere politischen Debatten und sind zum Teil auch schon umgesetzt.

Dank dieser Enquetekommission wissen wir, welche Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und Bildungsangebot in Nordrhein-Westfalen erforderlich sind. Aber wir müssen noch einen Schritt weitergehen und uns tatsächlich den Familien zuwenden.

Ich glaube, ein Angebot dieser Enquetekommission besteht darin, dass wir die traditionellen Familien- und Weltbilder einem ausgiebigen Faktencheck unterziehen und uns Gewissheit darüber verschaffen, was die Familien in unserem Land tatsächlich brauchen. Allem voran müssen wir mit dieser Enquetekommission die sozialen Milieus betrachten und uns intensiv mit ihnen auseinandersetzen, um ein realistisches Bild vom Lebensalltag von Familien, von Alleinerziehenden, Kindern, Jugendlichen, Migrantinnen und Migranten, Einelternfamilien oder Großelternfamilien zu bekommen.

Uns ist klar, dass ein Bild von Familienpolitik ohne den Blick auf Lebensstile, soziale Lage und Wertediskurse in den Milieus unvollständig ist; denn

diese soziologischen Faktoren bestimmen Familien und Jugendliche, und sie bestimmen auch die Art und Weise, wie diese die Instrumente nutzen, die wir Ihnen anbieten.

Meine Damen und Herren, ein wichtiger Punkt für uns ist die Frage nach der Zeit, die die Familienmitglieder miteinander verbringen. Eine weitere wichtige Frage ist, wie die Vereinbarkeit von Familien mit dem Arbeitsleben besser in Einklang gebracht werden kann. Nicht ganz zu Unrecht sprechen heute viele im gesellschaftlichen Diskurs von der Vereinbarkeitslüge. Hier müssen wir die Instrumente, die wir heute haben und die den Familien zur Verfügung stehen, hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und hinsichtlich der Frage, wie Familien sie empfinden, kritisch hinterfragen und überprüfen.

Wir wollen noch einen letzten Aspekt einbringen: Jugendliche sind beim Diskurs über Kinderbetreuung und über die Frage, wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf hergestellt werden kann, ein bisschen aus dem Blick geraten. Deshalb wollen wir uns neben der Frage nach der Zeit, die Familienmitglieder miteinander verbringen, auch damit auseinandersetzen, wie für Jugendliche mehr Freiräume geschaffen werden können, um selbstbestimmte Wesen in der Gesellschaft zu werden.

Meine Redezeit ist leider zu Ende. Über Familien könnte man lange sprechen. Aber wir haben jetzt zwei Jahre intensiver Diskussionszeit vor uns. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Altenkamp. – Nun spricht Herr Kollege Kern für die CDU-Fraktion.

(Beifall von Bernhard Tenhumberg [CDU] – Daniel Düngel [PIRATEN]: Beifall schon vor- her?)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Die Familie steht unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Dabei müssen wir uns so aufstellen, dass auch die heutigen Familien mit einem stark veränderten Anforderungsprofil unterstützt werden.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Gerhard Papke)

Um gute Lösungen zu finden, werden wir uns in dieser Kommission immer wieder die Frage stellen müssen: Was nutzt der Familie?

(Beifall von der CDU und den PIRATEN)

Die CDU sieht die Enquetekommission „Zukunft der Familienpolitik in Nordrhein-Westfalen“ als eine konkrete Fortsetzung von Leitbildern in NordrheinWestfalen, die wir aus der Enquetekommission „Pflege“ in der 14. Legislaturperiode, der Enquetekommission „Chancen für Kinder“ in der 14. Legisla

turperiode und der in der 16. Legislaturperiode – also jetzt – arbeitenden Enquetekommission „Demografie“ gewonnen haben. Ich glaube, dass wir daraus wichtige Impulse bekommen.

Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer, Papst Franziskus hat in diesen Tagen in einer Rede vor dem Europaparlament eindrucksvoll gemahnt, die Würde des Menschen wieder stärker in den Mittelpunkt politischen Handelns zu stellen. Der Heilige Vater sagte unter anderem, dass die Stunde gekommen sei, ein Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person drehe.

(Beifall von der CDU)

Nordrhein-Westfalen ist ein wesentlicher Teil dieses Europa. Familie erlebbar zu machen, hat sehr viel mit der Würde des Menschen zu tun. Familie erlebbar zu machen, ist nicht nur eine Zeitmanagementaufgabe. Das wäre zu kurz gesprungen. Nur die kostbare Zeitreserve macht Familie tragfähig. Gerade Familien mit nur einem Elternteil oder Mehrkinderfamilien können ein Lied davon singen. Aber auch Doppelverdiener in Vollzeit mit Kindern müssen in den Fokus genommen werden. Insbesondere Familien mit pflegebedürftigen Verwandten im heimischen Umfeld sind zu unterstützen.

Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer, Familie ist kein Modell von gestern, sondern ein Modell von morgen.

(Lebhafter Beifall von der CDU – Michele Marsching [PIRATEN]: Ein Modell – sehr gut!)

Nach der Shell-Studie ist die Bedeutung der Familie für Jugendliche angestiegen. Fast zwei Drittel der jungen Menschen stellen fest, dass man Familie braucht, um glücklich leben zu können. Familie schützt vor Einsamkeit. Zugenommen hat auch der Wunsch nach eigenen Kindern. Wir, die wir diese Rahmenbedingungen beeinflussen können, haben dafür zu sorgen, dass dieser Lebenswunsch gut gelingen kann.

Deshalb stellen sich einige Fragen: Wie erreichen wir es, dass Familienmitglieder in NordrheinWestfalen unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Verantwortung füreinander übernehmen können? Wie erreichen wir es, dass Zeit als Leitwährung moderner Familienpolitik durchgesetzt wird? Wie sichern wir echte Wahlfreiheit für die Eltern beim wichtigen Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

(Beifall von der CDU)

Wie erreichen wir familienfreundliche Arbeitszeitgestaltungen? Wie holen wir die Eltern aus ihrer Sandwichfunktion heraus, die insbesondere die Frauen betrifft: Arbeit, Familie, Kinder und Pflege? Wie können sich Männer kompetent hierbei einbringen?

(Beifall von der CDU und den GRÜNEN)

Welche Möglichkeiten müssen und können im jeweiligen kommunalen Sozialraum konsequent genutzt werden? Wo liegen Chancen, Familien zu stärken? Welche Rolle können dabei zum Beispiel Familienzentren und Mehrgenerationenhäuser spielen? Welche Rolle und welche Verantwortung müssen Arbeitgeber übernehmen?

(Beifall von der SPD)

Wie schaffen wir die Balance zwischen Zeitarmut und Zeitwohlstand? Welche tragende Rolle können wir als Gesetzgeber für die Familien spielen?

Es geht insbesondere um ein gutes Klima für die Familien in Nordrhein-Westfalen. Gerade im lokalen Umfeld liegt hier eine große Verantwortung und bieten sich Lösungschancen. Wir können mit Handlungsempfehlungen aus der Kommission viele Ideen für Nordrhein Westfalen auf den Weg bringen.

Junge Väter wollen heute mehr als bisher für ihre Kinder da sein, und sie bringen sich in Haus- und Erziehungsarbeit regelmäßig ein – mehr als unsere Generation. Ich kann das an meinem Schwiegersohn sehr gut erkennen.

Auch hier liegt ein Schlüssel für gut funktionierende Familie.

Familienbewusste Arbeitszeitmodelle müssen auch durch die Tarifvertragspartner viel selbstverständlicher in die Tarifverhandlungen eingebracht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Achte Familienbericht des Bundes gibt uns hier sehr wertvolle Hinweise. Weiterhin ist die Familie auch der Leistungsträger in der Pflege. Pflege hat immer zwei persönliche Seiten: einen Geber und einen Nehmer. Gerade der familiäre Geber bedarf der ausdrücklichen Unterstützung.

Meine Damen und Herren, die CDU freut sich auf die Arbeit in der Kommission und stimmt dem Einsetzungsbeschluss natürlich mit großer Überzeugung zu. Ich denke, es wird eine lebhafte und interessante Zeit. – Danke schön.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Kern. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Frau Kollegin Velte das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer im Saal! Das Einrichten einer Enquetekommission, die sich mit der Zukunft der Familienpolitik in NRW beschäftigt, begrüßen wir sehr. Wir teilen die Ansicht, dass wir uns mit diesem Thema verstärkt beschäftigen müssen.

Unter anderem müssen wir uns mit solchen Fragen beschäftigen, wie Sie sie gerade gestellt haben, Herr Kern: Das Familienmodell ist das Modell von morgen. – Aber welches Familienmodell unterstellen wir eigentlich? Wir haben Regenbogenfamilien, wir haben Mehrgenerationen-Familien, wir haben Ein-Eltern-Ein-Kind-Familien, wir haben Familien, die sich mit dem Thema „Pflege“ beschäftigen usw. Dies wird uns in der Enquetekommission Gott sei Dank und richtigerweise beschäftigen.

Die zweite generelle Frage, mit der wir uns werden beschäftigen müssen, lautet: Kommt das, was wir an politischen Rahmenbedingungen setzen, überhaupt bei den Familien an? Deswegen bin ich sehr gespannt auf die Diskussion über die unterschiedlichsten Frage: über Sozialmilieus, über Familienbilder, die in migrantischen Kulturen geschaffen worden sind und die hier gelebt werden, über Großfamilien und über Regenbogenfamilien.

Ich bin auch gespannt darauf, wie man mit diesen Milieus umgehen kann, wie man Instrumente schaffen kann, die punktgenau da unterstützen, wo Unterstützung gebraucht wird, und die das Familienbild im Sinne der modernen Zeiten fördern – also das Modell von morgen, Herr Kern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Als integrationspolitische Sprecherin werde ich mich in dieser Enquetekommission natürlich stark mit der Frage auseinandersetzen wollen, wie es mit der Vielfalt der Familienauffassungen aus migrantischen Kulturen weitergeht, die in unserer Gesellschaft Fuß gefasst haben, in denen es aber auch immer zu Reibungen kommen kann.

Eine weitere wichtige Frage betrifft die Familienarbeit von Frauen, die immer noch die Hauptlast der Familien tragen. Hiermit müssen wir uns aus meiner Sicht noch einmal sehr intensiv beschäftigen. Es kann nicht sein, dass aufgrund eines fehlenden Zeitmanagements insbesondere die Frauen auf Berufstätigkeit verzichten oder in prekäre Arbeitsverhältnisse – wie zum Beispiel eine Halbtagsbeschäftigung – hineingehen, nur weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr hergeben als diese Halbtagsbeschäftigung.

Wir müssen am Zeitwohlstand arbeiten. Wir müssen prüfen, wie wir ein Umfeld schaffen können, in dem Zeit für die Menschen innerhalb der Familie bleibt. Das ist auch schon gesagt worden.

Wir können uns ebenfalls noch einmal intensiv mit dem Thema „Familienarmut“ auseinandersetzen. Es bedeutet eine große gesellschaftspolitische Herausforderung, Wege zu finden, wie es uns gelingen kann, auch Kindern und Jugendlichen aus besonders armen Familien Zugang zu Bildung und Weiterentwicklung zu verschaffen.

Wir alle freuen uns auf die Enquetekommission. Bevor ich nun meine Rede beende, möchte ich

noch einen kleinen Hinweis geben: Wir streiten uns intensiv über viele Themen: über die Frage der Öffnungszeiten von Kitas, Herr Hafke, oder darüber, wie flexibel etwas sein soll. Ich hoffe, dass wir uns in der Enquetekommission über viele der inhaltlichen Streitpunkte – die haben wir, weil wir alle ein bestimmtes Bild im Kopf haben – so verständigen können, dass Familienpolitik in NRW im Sinne der jüngeren Generation nach vorne entwickelt wird. Ich freue mich auf die Diskussion. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)