Protokoll der Sitzung vom 14.09.2012

Liebe Kollegen, wenn Verfassungsbezüge diskutiert werden, sollte jeder hier im Parlament zuhören.

(Beifall von den PIRATEN)

Die Piratenfraktion bezeichnet solch eine Veranstaltung als Hängepartie. Daher können wir das Verfahren nur mit großen Bauchschmerzen begleiten. Aus der Sicht der Piratenfraktion werden mit diesem Verfahren die demokratischen Beteiligungs- und Entscheidungsrechte des Parlaments in einer Weise strapaziert, wie es in ganz Deutschland seinesgleichen suchen dürfte.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Die von uns Piraten immer wieder eingeforderte Transparenz will ich erst gar nicht bemühen. Sie stellen uns vor vollendete Tatsachen, die Sie im Laufe des Jahres geschaffen haben, und zwar durch die Anwendung der Instrumente der vorläufigen Haushaltsführung; man nennt das auch Nothaushaltsrecht.

Die Bürger im Lande, die zahlreichen Initiativen und Institutionen, die Kommunen und alle anderen Zuwendungsempfänger sind dringend auf planungssichere Förderentscheidungen des Landes angewie

sen. Sie haben zu Recht den Anspruch darauf, dass rechtzeitig, also vor Beginn des jeweiligen Haushaltsjahres, die notwendigen Entscheidungen des Parlaments über den Haushalt getroffen werden. Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen –

Art. 81 Abs. 3 – und die Landeshaushaltsordnung Nordrhein-Westfalen – § 1 und § 30 – sehen dafür einschlägige Regeln vor.

Ich darf daran erinnern, dass Sie dem Parlament den ursprünglichen Haushaltsplan 2012 bereits viel zu spät vorgelegt haben, exakt am 19. Dezember 2011, also quasi unterm Weihnachtsbaum, mit einem Kerzchen drauf. Auf die Einzelheiten will ich hier nicht weiter eingehen.

Wir als Piratenfraktion können und wollen Ihnen das nicht durchgehen lassen, denn wir stehen für Transparenz und Teilhabe.

(Beifall von den PIRATEN)

Die Leidtragenden sind die auf Förderentscheidungen angewiesenen Menschen im Land.

Mit einem derartigen Verfahren wird die parlamentarische Budgetpflicht ausgehebelt. Sie sieht vor, dass das Parlament den Haushaltsplan vor Beginn des jeweiligen Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz feststellt. Das Budgetrecht gehört zum Kernbestand der parlamentarischen Befugnisse und ist im Rahmen der parlamentarischen Gestaltungs- und Kontrollrechte in keiner Weise verzichtbar. Die Verfassungsorgane sind nicht in der Lage, ihren Pflichten nachzukommen, den Haushaltsplan 2012 durch Verabschiedung des Haushaltsgesetzes rechtzeitig, das heißt: vor Beginn des Haushaltsjahres, festzustellen.

Die Piratenfraktion wird alles dafür tun, damit Schaden von unserem Land Nordrhein-Westfalen abgewendet wird.

(Beifall von den PIRATEN)

Wichtige Maßnahmen und Investitionsvorhaben werden durch eine solche Vorgehensweise, also die Anwendung des Nothaushaltsrechts, verzögert oder können nicht durchgeführt werden. Das hat bekanntermaßen kontraproduktive Wirkungen auf die regionalen Wirtschaftskreisläufe.

Darüber hinaus werden die umfangreichen Aufgaben zur Wahrnehmung der staatlichen Ausgleichsfunktionen in unverantwortlicher Weise vernachlässigt, und die soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft nimmt Schaden.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass die Landesregierung den Haushaltsplan nicht nur 2012 viel zu spät vorgelegt hat, sondern schon 2011 wurde der Haushalt erst Ende Mai desselben Jahres verabschiedet.

Wir als Piratenfraktion fordern deshalb die Landesregierung bereits heute auf, zukünftig ein ordnungs

gemäßes und demokratisches Haushaltsberatungsverfahren sicherzustellen.

(Beifall von den PIRATEN)

Damit meinen wir natürlich und insbesondere den Beratungsfahrplan und die geplante Haushaltsverabschiedung für das Haushaltsjahr 2013. Die Piratenfraktion, meine Damen und Herren von der Landesregierung, nimmt die einschlägigen Regeln der Landesverfassung ernst.

(Beifall von den PIRATEN)

Nun zu einigen weiteren Grundsatzfragen im aktuellen Haushalt: Ich will den von der Landesregierung gerade vorgelegten Haushalt 2012 nicht vorschnell und abschließend bewerten; wir sind in der ersten Lesung. Dennoch scheint er mit eine Kapitulation vor der verfehlten Finanzpolitik auf Bundesebene zu sein. Haushaltsloch und Steuermindereinnahmen sind nicht wie eine Naturkatastrophe über uns gekommen. Hier gab es politische Entscheidungen. Ich verweise auf die Politik der intellektuellen Vordenker der deutschen Sozialdemokratie wie Clement und Steinbrück.

Die Nettoneuverschuldung liegt im Jahr 2012 bei 4,6 Milliarden €. Die für die Neuverschuldungsgrenze maßgebliche Summe der eigenfinanzierten Investitionen beträgt laut Etatplan 5,1 Milliarden €. Damit unterschreiten Sie die zulässige Kreditgrenze um 500 Millionen €.

Nach erster Durchsicht des Haushaltsplans stellt die Piratenfraktion allerdings fest, dass es keine offensichtlichen Kürzungen im Personal- und im Sozialbereich gibt. Wir Piraten begrüßen das ausdrücklich. Und dafür haben Sie auch unsere Unterstützung.

(Beifall von den PIRATEN)

Dennoch – diese Anmerkung richte ich besonders an Herrn Finanzminister Walter-Borjans –: Machen wir uns nichts vor: Ihre Zahlen glänzen nicht. Sie zählen nur. Man könnte auch sagen: Die haushalterische und finanzpolitische Saldenmechanik stimmt. Aber stimmen auch die Investitionen in die Zukunft unserer Bürger, in die Zukunft unserer Kinder, in die Zukunft unserer Infrastruktur?

Herr Finanzminister, mit Ausbringung einer globalen Minderausgabe beschreiten Sie erneut einen reichlich intransparenten Weg, Einsparungen im Haushalt 2012 vorzunehmen. Das können wir als Piratenfraktion nicht gutheißen. Das ist mit unseren Transparenzgrundsätzen schlicht nicht vereinbar.

(Beifall von den PIRATEN)

Diese ungewöhnlich hoch dotierte globale Minderausgabe liegt bei immerhin rund 750 Millionen €. Und das Parlament hat keinen Einfluss darauf, wo und in welcher Höhe diese Einsparungen erwirtschaftet werden. Diese globale Größe entzieht sich völlig der Steuerung durch das Parlament und wird

dem Souverän mithin erst im Haushaltsvollzug ex post, also nachträglich, bekannt gegeben.

Der Haushalt ist aus unserer Sicht so auf Kante genäht, dass er eine Bodensatzabschöpfung in einer Höhe von gut 1,2 % des Haushaltsvolumens schwerlich abwerfen kann. Diese Zielgröße ist nicht akzeptabel. Sie strapaziert damit vor allem die Grundsätze der Haushaltswahrheit und -genauigkeit in eklatanter Weise.

Ich sage hier für die Piratenfraktion ganz deutlich: Mit dieser globalen Minderausgabe geraten Sie auch bedenklich in die Nähe der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Seitens der Rechnungshöfe in Deutschland und in der einschlägigen Literatur ist man sich in der Akzeptanz der globalen Minderausgabe zwar weitgehend einig, aber ausdrücklich nur, soweit sie sich in der Dimension der sogenannten Bodensatz

abschöpfung bewegt. Diese Grenze wird bei etwa einem Prozent des Budgetvolumens gesehen. Sie aber liegen mit rund 750 Millionen € eindeutig darüber.

Das Land Nordrhein-Westfalen schiebt große aufgelaufene Schuldenberge in Höhe von rund 136 Milliarden € vor sich her. Die finanziellen Handlungsspielräume sind demzufolge immer enger geworden, und zwar in Sonderheit durch eine reichlich kurzsichtige und interessengeleitete Steuersenkungspolitik auf Bundesebene.

Die finanziellen Handlungsspielräume sind aber auch durch den hier im Land zu verantwortenden Schuldenaufbau in den vergangenen Legislaturperioden enger geworden. Ich will hier und jetzt nicht einen Schuldigen für die Schulden suchen oder benennen. Aus Sicht der Piratenfraktion geht es darum, wie man es langfristig besser machen kann. Und aus Sicht der Piratenfraktion geht es vor allem darum, wie man systematisch und nachhaltig die Zukunft für die Menschen in Nordrhein-Westfalen verbessern kann.

(Beifall von den PIRATEN)

Die kurzfristigen Rezepte sind alle gescheitert. Mit großen Worthülsen verliert die Politik den letzten Rest an Glaubwürdigkeit.

Wer will schon vorsätzlich und ohne Not Schulden machen? – Wohl kaum jemand, den man unvoreingenommen befragt.

Warum haben wir dann in Nordrhein-Westfalen diese hoch aufgelaufenen Schuldenberge in Höhe von rund 136 Milliarden €? Aus Dummheit oder Sorglosigkeit im Umgang mit Geld?

Warum liegt der Bund bei einer Gesamtverschuldungsquote von etwa 80 % im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt? – Aus Verschwendungssucht? Wer hat diese Schulden verursacht? Ist deren Höhe

im Verhältnis zur jährlichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen volkswirtschaftlich und gesellschaftlich eigentlich vertretbar?

Viele Politiker, die heute vehement und in der ersten Reihe den Abbau der Schulden fordern, haben in der Vergangenheit lange Zeit in Abstimmungen immer wieder für eine Kreditfinanzierung der Länder- und Bundeshaushalte votiert, auch hier in Nordrhein-Westfalen. Haben diese Politiker das leichtfertig und ohne triftigen Grund gemacht?

Ich würde als neugewählter Pirat sagen: Vielleicht haben die Betreffenden es nur gut gemeint. Aber dann haben sie es leider schlecht gemacht.

(Beifall von den PIRATEN)

Wenn wir den Staat, hier die Landesregierung und das Parlament, als aktiv handelnden Teil im Gesamtgefüge einer Wirtschafts- und Finanzpolitik insgesamt verstehen, müssen wir unser Augenmerk auch auf die mittelfristigen und nachhaltigen Auswirkungen von Ausgaben und Investitionen richten.

Wir als Piraten verstehen darunter grundsätzlich zum Beispiel Ausgaben und Investitionen in die diskriminierungsfreie Nutzung der öffentlichen Infrastrukturen – die Nutzung der Gemeingüter muss für alle Bürgerinnen gelten –, in den freien Zugang zu Information und Wissen, in die Förderung des Bürgerengagements sowie der Selbstorganisation und Selbstverwaltung, in die Förderung aller Strukturen der sozialen und solidarischen Ökonomie, in die Förderung der Partizipation aller Bürger nicht nur an der lokalen Politik, sondern auch der Landespolitik als gleichberechtigte Partner – Stichwort: open government –, in den fahrscheinlosen öffentlichen Personennahverkehr, in die kostenfreie Bereitstellung von IT für alle Schüler, in die Bildung der nachwachsenden Generationen und damit in Bildung für alle ohne Gebühren oder Beiträge von der Kita über die Schule bis zur Hochschule.

Ich weiß, die FDP ist da anderer Meinung. Aber das ist sehr eindimensional. Das ist „meine“ FDP: