Protokoll der Sitzung vom 02.09.2015

Sie schaffen immer wieder das scheinbar Unmögliche: Sie sorgen dafür, dass Tag für Tag Tausende Menschen, die neu zu uns kommen, ein Dach über dem Kopf haben, mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden und oft bereits die ersten Schritte der Integration gehen können.

Ich bin dankbar für die große Bereitschaft aktiver und ehemaliger Landesbediensteter: Rund 400 Beamtinnen und Beamte, die schon im Ruhestand waren, haben sich gemeldet und helfen ganz konkret mit, unter anderem bei der Registrierung von Flüchtlingen. Aber auch über 130 Aktive aus allen Ministerien haben sich bereit erklärt, freiwillig an dieser Stelle mitzuwirken.

Meine Damen und Herren, ein wahrer Freund zeigt sich in der Not. Und wie ein Land tickt, das zeigt sich in solchen Situationen. Ja, ich bin fest davon überzeugt: Wir können die Herausforderungen, die vor uns liegen, bewältigen. Wir werden das schaffen, wenn wir gemeinsam anpacken. Dies spüre ich überall bei meinen Besuchen vor Ort.

Denen, die ängstlich sind, die die großen Zahlen in den Zeitungen lesen, sollten wir gemeinsam Mut machen – Mut zur Begegnung. Fremd ist nach meiner Erfahrung immer nur derjenige, bei dem man nicht die Chance hatte, ihn kennenzulernen. Deshalb: Machen wir den Menschen Mut, einander kennenzulernen!

(Beifall von allen Fraktionen und der Regie- rungsbank)

Zur Ehrlichkeit gehört allerdings, dass es auch bei uns in Nordrhein-Westfalen das Gegenteil gibt: Menschen, die gegen Flüchtlinge hetzen, Hass und Gewalt säen. Es gibt Menschen, die andere angreifen. Es gibt Unterkünfte, in denen es zu Schmierereien kommt und wo Brandsätze geworfen werden. Und dann gibt es Menschen, die sich über all dies freuen.

Diesen Brandstiftern in Wort und Tat sagen wir unmissverständlich: Ihr werdet diese Gesellschaft nicht vergiften mit euren dumpfen und dummen Parolen! Es gibt hier keine Toleranz für Fremdenfeindlichkeit, Neonazihetze und rechte Gewalt!

(Anhaltender Beifall von allen Fraktionen und der Regierungsbank)

In Nordrhein-Westfalen hat die Polizei die meisten Übergriffe aufklären können, auch deshalb, weil Zeugen und Anwohner selbst relativ kleine Straftaten bei Polizei und Verfassungsschutz melden. Ich appelliere an die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen: Bleiben Sie wachsam! Wir bieten Schutz – gemeinsam.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und der Regierungsbank)

Wir als Politiker, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen in diesen Zeiten eine besonders große Verantwortung. Manche politische Debatte, die in der Sommerpause zu vernehmen war, führt meiner Ansicht nach schlicht und einfach in die Irre: die Debatte um das Taschengeld, die Debatte, die die sicheren Herkunftsländer ins Zentrum stellt, die Kategorisierung in „richtige“ und „falsche“ Flüchtlinge – all das hilft nicht weiter.

Ich finde, wir sollten stolz sein auf unser Asylrecht: Jeder hat das individuelle Recht, hierherzukommen und um Asyl zu bitten. Jeder hat das Recht auf individuelle Prüfung seines Antrags und auf ein geordnetes Verfahren. Damit wird geklärt, wer bleiben kann, wer Asyl erhält. Die anderen werden zurückgeführt, wann immer es möglich ist.

Aber seien wir ehrlich: Es gibt auch Gründe, wann wir nicht zurückführen können. Denn es gibt Menschen, die krank sind. Es gibt Menschen, die wir nicht in die Zustände zurückschicken können, aus denen sie kommen. Und es gibt auch die Situation, dass Herkunftsländer plötzlich so tun, als hätten sie mit diesen Bürgerinnen und Bürgern nichts mehr zu tun.

Meine Damen und Herren, diese Debatten bringen uns nicht weiter. Wie wirken diese Debatten auf Flüchtlinge? In einer Schulklasse im Berufskolleg saß ein junges Mädchen aus Afrika. Sie war vier Jahre lang auf der Flucht, hat dabei Tausende von Kilometern zurückgelegt und hat in vier unterschiedlichen Gefängnissen gesessen. Sie ist durch die Hölle gegangen, um hierher zu kommen. Und sie liest jetzt über solche Scheindebatten, die uns bei der Bewältigung der Herausforderungen wirklich nicht weiterhelfen. Das ist es, was mich ärgert, wenn ich vor diesen jungen Menschen stehe.

(Lebhafter Beifall von der SPD, den GRÜNEN, den PIRATEN und der Regie- rungsbank)

Wir verweigern uns nicht der Debatte über sichere Herkunftsländer. Es ist sinnvoll, erst einmal zu gu

cken, was die Evaluierung, die wir dazu vornehmen, ergibt und ob sie uns wirklich bei unseren Problemen hilft.

(Armin Laschet [CDU]: Was haben Sie denn beschlossen in der SPD?)

Warten wir doch erst einmal die Evaluierung ab. Wir versuchen doch, Vernunftspolitik zu machen.

Aber die Debatte um ein Taschengeld und die „falschen Anreize“ dafür, dass jemand kommt,

(Armin Laschet [CDU]: Das habt ihr doch be- schlossen!)

müssen Sie einmal der jungen, hochschwangeren Frau mit einem Kind an der Hand vermitteln, der ich letzte Woche gegenüberstand. Sie kommt aus Albanien, hat dort alles aufgegeben, alles verkauft, um die Schleuser zu bezahlen. Sie ist jetzt hier und möchte ihrem Kind eine Zukunft bieten. Da kann es doch nicht um richtige und falsche Flüchtlinge gehen. Sondern: Wir sind ein starkes Land und verlassen uns auf unsere Gesetzgebung.

(Lebhafter Beifall von der SPD, den GRÜNEN, den PIRATEN und der Regierungsbank)

Warum hat sie alles aufgegeben? Auch weil sie dort die Information hatte, dass wir hier in Deutschland Fachkräfte suchen. Sie ist qualifiziert. Sie ist Krankenschwester. Sie will und kann hier leisten. Lassen Sie uns doch darüber reden, dass nicht alles übers Asylrecht laufen muss, dass wir endlich ein vernünftiges Zuwanderungsgesetz in Deutschland bekommen, damit eine solche Zuwanderung auch möglich ist.

(Anhaltender lebhafter Beifall von der SPD, den GRÜNEN, den PIRATEN, der FDP und der Regierungsbank)

Ich sage das hier auch ganz deutlich: Wir könnten schon heute durch Erlasse regeln, dass Menschen aus diesen Herkunftsländern, die hier einen Arbeitsplatz nachweisen können, kommen könnten. Lassen Sie uns das gemeinsam auf den Weg bringen! Dann bilden sich dort Agenturen. Dann wird versucht, schon vorher die Verbindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer herzustellen, und dann können wir diesen Menschen eine Perspektive geben. Da brauchen wir nicht erst auf ein neues Zuwanderungsgesetz zu warten. Lassen Sie uns das auf einem Wege regeln, der pragmatisch möglich ist. Das hat doch gestern auch die Kanzlerin gesagt: Lassen Sie uns doch die Bürokratisierung solcher Dinge vermeiden.

(Lebhafter Beifall von der SPD, den GRÜNEN, den PIRATEN und der Regierungsbank)

Meine Damen und Herren, es geht nicht um ein Schwarzer-Peter-Spiel in dieser Situation. Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Aber mit klarer Kante gegen Fremdenfeindlichkeit, mit Hilfs

bereitschaft, mit Entschlossenheit, mit praktischem Handeln können wir diese Aufgaben meistern.

Die Grundhaltung ist eigentlich das Entscheidende: die Aufgabe gemeinsam anzupacken, vor der wir in den Kommunen, in der Politik im Land und im Bund, in den Aufnahmeeinrichtungen, in den Nachbarschaften stehen.

Inzwischen kommen pro Woche über 7.000 Flüchtlinge nach Nordrhein-Westfalen. Nach seiner neuesten Prognose geht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dieses Jahr von 170.000 Flüchtlingen für NRW aus. Ob es mehr werden, kann man schlicht und einfach nicht ausschließen. Niemand kann und konnte die ungeheure Dynamik dieser Entwicklung vorhersagen. Selbst die Prognose des BAMF, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, von September 2014 sprach noch von 43.000 Flüchtlingen in 2015 für Nordrhein-Westfalen.

Bundesinnenminister de Maizière hat seine Prognosen mehrfach korrigieren müssen. Er hat erst in der vergangenen Woche selbst darauf hingewiesen, wie überraschend dieser Anstieg für ihn sei. Die Prognose von bundesweit rund 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr sei eine Vervierfachung gegenüber dem Vorjahr.

Insofern sollten wir uns keine Scheingefechte liefern, wer wann was hätte früher wissen können oder müssen oder wer wann hätte früher reagieren müssen. Das hilft uns in der Sache keinen Millimeter weiter.

Niemand konnte diese aktuelle Entwicklung hervorsehen, und darum haben Land und Kommunen ihre Unterbringungskapazitäten in den vergangenen Jahren abgebaut. Die ehemalige Landesstelle Unna-Massen, in der in Spitzenzeiten beinahe 4.000 Flüchtlinge lebten, ist am 30. Juni 2009 von meinem Vorgänger geschlossen worden. Niemand konnte damals wissen, dass wir diese Plätze nun wieder dringend brauchen würden.

Inzwischen nimmt Unna-Massen wieder Flüchtlinge auf. Dort ist allerdings auch eine neue Hochschule entstanden, sodass die Kapazitäten in dem Umfang nicht mehr zur Verfügung stehen. Ich mache niemandem einen Vorwurf – eine andere Regierung hätte diese Entscheidung unter den gegebenen Bedingungen wahrscheinlich genauso getroffen. Aber es zeigt, dass ein Schwarzer-Peter-Spiel schlicht und einfach fehl am Platz ist.

Wir stehen vor einer großen, schwierigen Aufgabe. Ich und wir sind selbstkritisch genug, um zu sagen, dass vieles noch viel besser als heute gelingen kann und gelingen muss.

Wir sind uns sehr bewusst, dass die Kommunen den größten Teil der Aufgaben, vor denen wir stehen, stemmen müssen. Ich kann durchaus verstehen, dass sie es als Zumutung empfinden, wenn zum Teil extrem kurzfristig auf Bitten des Landes im

Wege der Amtshilfe Plätze geschaffen werden müssen. Doch ich bitte überall, wo ich im Land unterwegs bin, auch um Verständnis, dass auch wir als Land und auch die Bezirksregierungen nicht wissen, wer morgen bei uns vor der Türe stehen wird.

Hier spiegelt sich wider, dass die Zuwanderung europäisch – das ist beinahe zu wenig – nicht hinreichend geregelt ist und dass der Bund mit der Abarbeitung der Asylverfahren noch immer immens im Verzug ist.

Wenn Menschen in Bussen herangefahren werden und von den Schleppern einfach in der Nähe der Erstaufnahmeeinrichtungen abgesetzt werden,

dann muss man schlicht und einfach mit der Situation, so gut es geht, fertig werden. Deshalb ist es aus Sicht der Länder und Kommunen am wichtigsten, dass der Bund endlich für eine schnellere Bearbeitung der Verfahren sorgt.

Das A und O sind schnellere Asylverfahren. Wir müssen nicht über das Taschengeld reden, um Anreize zu sehen, sondern darüber, dass die Menschen nicht monatelang hierbleiben, um monatelang Taschengeld zu bekommen. Wenn wir das in drei Monaten schaffen würden, wie es verabredet ist, dann hätten wir eine bessere Situation insbesondere für die Kommunen in diesem Land.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

In der Realität sind wir von den drei Monaten noch meilenweit weg; es dauert weit mehr als doppelt so lange.

Die Kinder in der Schulklasse, mit denen ich sprach, sind schon mehr als ein Jahr hier. Sie sitzen und warten darauf, zu erfahren, ob sie hierbleiben dürfen oder nicht. Sie lernen fleißig Deutsch, immer mit der Angst im Nacken: Morgen kommt die Entscheidung. Das ist die konkrete Situation der Menschen.

Wir haben beim letzten Flüchtlingsgipfel darüber gesprochen, Politik aus Sicht der Flüchtlinge zu machen. Das sind die konkreten Themen, um die wir uns kümmern müssen. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten und dafür kämpfen, dass diese Verfahren beschleunigt werden.

Wenn Stellen geschaffen werden und die Stellen immer noch nicht besetzt sind, dann muss auch der Bund zu außerordentlichen Maßnahmen greifen. Das ist unsere Bitte, weil das der Schlüssel zu einem besseren Gelingen ist.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und der Regierungsbank)

Meine Damen und Herren, niemand hat die Dynamik vorausgesehen, auch Sie von der CDU nicht. Noch am 10. April haben Sie für den zweiten Flüchtlingsgipfel gefordert, es ginge nun um die – ich zitiere – „Schaffung von ausreichenden Plätzen“, 15.000

Regelplätze in den zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes sowie Notfallkapazitäten von mindestens 2.500 Plätzen. Jetzt bewegen wir uns bis zum Jahresende auf 60.000 Plätze zu. Wenn man politisch versucht, Geländegewinne damit zu machen, dass man so tut, als hätte man vorher alles besser gewusst, dann kann man sich der Verantwortung hier nicht entziehen. Das ist ein zentraler Punkt.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und der Regierungsbank)