Die „Initiative Verschickungskinder“ will dies jetzt ändern. Sie will Betroffenen eine Stimme geben. Sie will ans Licht bringen, woran staatliche Stellen, Sozialversicherungsträger, Gesundheitsämter, Kinderärzte und unterschiedlichste Träger beteiligt waren. Und sie will aufarbeiten – man muss es so deutlich sagen –, warum der Staat und staatliche Kontrollen damals versagt haben.
Auf der Website www.verschickungsheime.org kann man Berichte von Betroffenen lesen. Dort sollen Betroffene auch vernetzt werden. Dort haben Betroffene die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und ihr Leid öffentlich zu machen und vor allem endlich die Gewissheit zu bekommen, dass sie mit diesen Erfahrungen nicht allein sind, dass es schon gar nicht ihre Schuld war und dass nichts an ihnen verkehrt war oder ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Leid dieser Kinder können wir nicht ungeschehen machen. Aber es ist unsere gesellschaftliche und politische Verantwortung, endlich dieses dunkle Kapitel bundesdeutscher Geschichte aufzuarbeiten.
Es ist gleichermaßen wichtig, Betroffenen endlich Unterstützung zukommen zu lassen, ihnen tatsächlich eine Geschäftsstelle zur Verfügung zu stellen, Therapieangebote bereitzustellen und gemeinsam mit ihnen zu erarbeiten, welche Formen der Unterstützung – auch über das Opferentschädigungsgesetz etc. – hier richtig sein können.
Wir müssen ernst nehmen und endlich hören, was Kindern damals angetan wurde, was die heute Erwachsenen teilweise ihr ganzes Leben lang nicht oder kaum verarbeiten konnten.
Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die den Mut haben, ihre Leidensgeschichte öffentlich zu machen und damit dieses Thema endlich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, zum einen um das Unrecht aufzuarbeiten, zum anderen aber auch – das erkennt man, wenn man die Artikel der Betroffenen liest – verbunden mit dem ganz klaren Appell und der ganz klaren Aufforderung in Gegenwart und Zukunft, die für uns handlungsleitend sein sollte: Kindern muss geglaubt werden.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Juni letzten Jahres haben wir hier im Plenarsaal des Landtags unter dem Motto „Zuhören, anerkennen, nicht vergessen!“ der Leidensgeschichte zahlreicher Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis weit in die 70er-Jahre hinein als Kinder in Heimen und Psychiatrien Schreckliches ertragen und erleiden mussten, gedacht.
Ich kann mich noch sehr gut an die Szene erinnern, in der sich Kardinal Woelki stellvertretend für die Kirchen persönlich bei den Betroffenen entschuldigt hat. Das ist natürlich nur ein symbolischer Akt, aber ich denke, auch so etwas ist richtig und wichtig, um anzuerkennen, was geschehen ist, und vor allen Dingen auch anzuerkennen, wer schuldig war.
Dank des hartnäckigen Engagements vieler Betroffener wurde das damalige Leid der Heimkinder und Psychiatriekinder bekannt gemacht und vorangetrieben, dass das Land und die Kirchen gemeinsam Verantwortung übernehmen. Diese Verantwortung zeigt sich vor allen Dingen in der Gründung eines entsprechenden Fonds, aus dem die Betroffenen eine kleine Entschädigung erhalten können. Die Summe, die
aus dem Fonds gezahlt wird, kann sicher nicht das Leid aufwiegen. Aber dass die Öffentlichkeit von dem Leid erfährt und dass sich die Institutionen wie beispielsweise das Land und die Kirchen verantwortlich fühlen und auch Reue zeigen, dass wir den Betroffenen und ihren Erfahrungsberichten Aufmerksamkeit schenken, ist das Mindeste, was an Wiedergutmachung geleistet werden muss.
Spätestens durch die Reportage „Gequält, erniedrigt, drangsaliert“, ausgestrahlt im Ersten Deutschen Fernsehen, wurde Millionen von Zuschauern vor Augen geführt, dass bis in die 80er-Jahre hinein hier in unserer blühenden Bundesrepublik Deutschland Kinder, die in Kur gefahren sind, gequält und erniedrigt wurden.
Die unzähligen Berichte – wir haben heute schon einige durch meine Vorredner gehört –, die man dazu auf den Internetseiten Betroffener finden kann, lassen einen wirklich fassungslos zurück. In einem Land, das sonst schon maßgeblich von einer sozialliberalen Politik der 70er-Jahre geprägt war, wurde Kindern, die eigentlich etwas für ihre Gesundheit tun sollten, in Kurheimen Schreckliches angetan.
Wer selber als Kind schon mal länger im Krankenhaus oder in Kur war, weiß, wie verängstigend die Trennung von den Eltern, die fremde Umgebung, die anderen fremden Kinder und die meist strengeren Regeln als zu Hause – das gilt auch jetzt noch – wirken. Es ist ohne jeden Zweifel ein Verbrechen, wenn in dieser verängstigenden Situation Kinder drangsaliert und traumatisiert werden – schutzlos ihren Peinigern ausgeliefert, räumlich von den vertrauten Eltern getrennt, die nicht schützend eingreifen können.
Die ehemaligen Verschickungskinder, also die Betroffenen selbst, kämpfen aktuell darum, sich Gehör zu verschaffen. Bei einem ersten Treffen im November 2019 auf Sylt haben die Betroffenen selbst die Ziele ihrer Arbeit definiert und Forderungen formuliert. Einen Teil dieser Forderungen finden wir auch in Ihrem Antrag wieder.
Das Leid und die Verantwortung gegenüber den ehemaligen Verschickungskindern sind offensichtlich auch an den Ministerinnen und Ministern für Jugend und Familie nicht vorbeigegangen; denn in der Ministerkonferenz am 27. Mai 2020 haben sie beschlossen, die Aufklärung der Geschehnisse gemeinsam mit den Betroffenen bundesweit voranzutreiben.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat neben BadenWürttemberg und Bayern die meisten Heimplätze vorgehalten – nicht etwa nur die Ostseeküste oder das Allgäu. Deshalb sollte auch Nordrhein-Westfalen einen großen Beitrag dazu leisten, den Betroffenen zu helfen, die Aufarbeitung zu unterstützen und schonungslos zu klären, wie diese Verbrechen an den Kindern bis in die 80er-Jahre hinein möglich waren.
Der Löwenanteil der Kinderkurheime befand sich zwar in privater Trägerschaft. Aber es gibt auch zahlreiche andere Träger wie die Kirchen, die AWO usw., die auch heute noch aktiv sind.
(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Ge- sundheit und Soziales: Es waren aber auch viele Kommunen!)
Die Beratung im Ausschuss wird sicher ihren Beitrag dazu leisten. Liebe antragstellende Fraktion, Sie können sich sicher sein, dass unsere Fraktion Sie in Ihrem Anliegen, den Betroffenen zu helfen, unterstützen wird. – Danke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben von den Vorrednern sehr viel darüber gehört, wie man heute die Situation der sogenannten Verschickungskinder einschätzt.
Wir müssen einfach sagen, dass die Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse noch ganz am Anfang steht. Dazu gibt es nur wenige Untersuchungen. Das Ausmaß der Misshandlungen lässt sich nur erahnen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir die blinden Flecken beseitigen und uns ein umfassendes Bild davon machen, aus welchen Gründen Kinder von wem in welche Einrichtungen geschickt wurden und welche Leiderfahrungen sie dort machen mussten.
Wie konnte es dazu kommen, dass Kuren, die dem Wohl dienen sollten, oft das genaue Gegenteil davon bewirkt haben? Warum müssen Menschen bis heute unter den Folgen der Traumatisierung leiden, die sie damals erlitten haben?
Wir tragen heute die Verantwortung, die offenen Fragen zu klären und den betroffenen Menschen zuzuhören. Die Landesregierung wird die Aufarbeitung dieses Themenkreises natürlich unterstützen.
Die Basis dafür muss – darin sind sich alle Länder einig – auf Bundesebene mit einer Studie gelegt werden. Deswegen unterstützt natürlich jeder den Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz dieses Jahres.
Der Bund muss unter Einbindung der Betroffenen und der Institutionen die Verantwortung für die damaligen Geschehnisse tragen und einen entsprechenden Forschungsauftrag vergeben.
Das MAGS und das MKFFI werden im Dialog mit den Betroffenen und ihren Strukturen klären, wie wir auf Landesebene helfen können. Dazu haben wir im
Wir wissen noch nicht viel über das Schicksal der Verschickungskinder. Aber wir müssen schon jetzt davon ausgehen, dass auch hier staatliche und gesellschaftliche Institutionen der damaligen Zeit versagt haben.
Viele Kinder und Jugendliche haben nicht den Schutz erfahren, den sie hätten erfahren müssen. Diese bittere Erkenntnis lässt sich auch nicht mit dem Hinweis auf die andere Zeit und die damals üblichen und gesellschaftlich akzeptierten Erziehungsmethoden wegdiskutieren.
Es ist jetzt uns, an der Politik, gerade aber auch an den Institutionen, Licht ins Dunkel zu bringen und das Leid der Opfer anzuerkennen. – Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Minister. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Daher schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/11175 an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend – federführend – sowie an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, schön, dass Sie da sind. Ich habe Ihnen ein kleines Geschenk mitgebracht.
(Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucher- schutz: Ein echtes?)
Deshalb freue ich mich ganz besonders, dass Sie heute hier sind und mit uns zusammen über die europäische Agrarpolitik diskutieren.