Protokoll der Sitzung vom 11.05.2000

Die Sicht der Betroffenen muss als Kriterium für das Angebot und für die Auswahl der notwendigen Hilfen stärker als bisher zur Geltung kommen. Die Erfahrungen aus dem Projekt belegen, dass durch den Einsatz von Fachkräften, die selbst behiQdert sind, ein größerer Erfolg im Hinblick auf die ange

messenen Hilfen und deren Akzeptanz erreicht- werden konnte. Was in den USA als Peercounceling entwickelt worden ist, erweist sich auch in Rheinland-Pfalzals förderlich.

Durch die Bildung von regionalen Budgets ergänzend zu den persönlichen Budgets der Behinderten werden die-landesrechtlichen Zuständigkeitsregelungen der Sozialhilfeträger vereinfa.cht, indem kommunale und Landesmittel zusammengeführt werden. Entscheidungen werden auf der kommunalen Ebene unter Beteiligung des Landes getroffen. Mit dieser

· gemeinsam wahrgenommenen Finanzverantwortung verbindet sich die Erwartung, dass die Mittel effektiver eingesetzt

..,.., werden können, wenn nicht mehr zwischen dem örtlichen und dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe und den jeweiligen Finanzierungsströmen unterschied~n we~den muss.

Hilfe nach Maß bedeutet zweierlei. Sie gibt den behinderten Menschen maßgeschneiderte Hilfe. Sie vermeidet zugleich ein Übermaß ·an Kosten, also Maß im Sinne beider Richtungen. Auch dieser Gedanke, ein Übermaß an Kosten zu vermeiden, muss erlaubt sein, wenn wir bedenken, dass im vergangenen Jahr in Rheinland-Pfalz annähernd 820 Millionen DM aus Landesmitteln und kommunalen Mitteln für Ein

gliederungshilfenfür Behinderte ausgegeben worden sind. ·

Der bisherige Verlauf des Modells bestätigt das Konzept und das Ziel, das große Perspektiven eröffnet. Ich danke an dieser Stelle den Kommunen - für den Modellversuch sind das die Stadt und der Landkreis Ludwigshafen, die Stadt Koblenz und der Landkreis Neuwied -, der wissenschaftlichen Begleitung und auch den eigenen Fachleuten für die engagierte Erprobung neuer Ansätze.·

Die Teilhabe behinderter Menschen und die Ermöglichung selbstbestimmten Lebens sind Ziele einer Politik für behinderte Menschen, die in einem Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs verwirklicht werden sollen. Prävention, Rehabilitation und die Eingliederung in das Arbeitsleben werden in diesem neuen Gesetz geregelt. Die Eckpunkte zum Neunten Buch des 'sozialgesetzbuchs, die auf Bundesebene erarbeitet worden sind, nennen ausdrücklich den rheinland-pfälzischen Ansatz als beispielhaft.

Die im rheinland-pfälzischen Modellprojekt gewonnenen Erfahrungen werden in den Diskussionsprozess zu diesem für die behinderten Menschen grundlegenden Gesetzgebungswerk eingebracht. Zu diesem Zweck war auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung in Mainz, um sich über das Projekt im Einzelnen zu informieren. Die Landesregierung setzt sich dafür ein, dass im Rahmen des 5GB IX das Bundessozialhilfegesetz so angepasst wird, dass das rheinlandpfälzische Modell der Hilfe nach Maß darin seinen Platz findet und bundesweit umgesetzt werden kann.

Mit den lnstrument~n des geltenden Schwerbehindertengesetzes konnte eine deutlich negative Entwicklung bei der Beschäftigung behinderter Menschen in Deutschland - auf Rheinland-Pfalzgehe ich noch ein- nicht vermieden werden.

So nahm bundesweit die Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten von 1982 bis.1998 ~m über 211 000 ab, während sich die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten in derselben Zeit auf über 188 000 Menschen verdoppelte. Daher plant die Bundesregierung ein Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter, das die Wirksamkeit des Syste.ms von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe erhöhen soll. Erklärtes Ziel des Vorhabens ist es, die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten binnen zwei bis drei Jahren um etwa _?O 000 zu verringern.

Bei der Verwirklichung dieses Ziels wird Bundesarbeitsminister Riester auf eine Idee zurückgreifen, die auf meinen Vorschlag hin vor einigen Jahren auf einer Fachtagung in Rheinland-Pfalzzusammen mit dem VdK-Präsidenten

Hirrlinger zum· ersten Mal breit diskutiert worden ist. Die Steuerungsinstrumente Pflichtquote der Behindertenbeschäftigung und Höhe der Ausgleichsabgabe werden.flexibilisiert. Die Pflichtquote soll zunächst einmal befristet bis zum Ende des Jahres 2002 auf 5 % abgesenkt werden. Nur wenn es gelingt, binnen drei Jahren die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten um ein Viertel zu vermindern, verbleibt es bei diesen 5 %. Dies ist ein Angebot an die Arbeitgeberseite.

Die Höhe der Ausgleichsabgabe beträgt künftig, also zum selben Zeitpunkt, zwischen 200 DM und-500 DM pro Monat und unbesetztem Pflichtplatz, abhängig von der Erfüllung. der Quote. Wer keinen Behinderten beschäftigt, zah.lt die höchsten Beträge. Dann kann der Ausgleich für die Missachtung des Sc~werbehindertengesetze~ nicht mehr sozusagen aus der Portokasse gezahlt werden.

Mit diesen Vorschlägen gehen Bund und Land innovativ an Probleme heran. Zugleich werden langjährige Tabus wie die Höhe der Beschäftigungsquote und der Ausg Ieichsabgabe gebrochen. Besonders erfreulich ist, dass die Grundideen im Dialog mit Vertretern der Organisat,ionen der Menschen mit Behinderungen, der Sozialpartner und der Länder· entwickelt. werden konnten.

Auch behinderte Menschen wollen nach Möglichkeit ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst verdienen. Daher hat für sie die Eingliederung in Arbeit einen besonderen Stellenwert,

·vielleicht sogar noch mehr als für manchen Nichtbehinderten. Mit einer Vielzahl von Maßnahmen haben das Land und die Arbeitsämter dazu beigetragen, dass die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten in Rheinland-Pfalz inzwischen so niedrig ist wie in keinem der letzten fünf Jahre.

Entscheidend ist, Vorurteile bezüglich der Leistungsfähigkeit behinderter Arbeitnehmer zu überwinden. Wenn behinderte Menschen die Chance eines Arbeitsplatzes erhalten, gelingt es ihnen meist, solche Urteile zu widerlegen. Sie sind oft genauso leistungsfähig oder sogar motivierter als nicht behinderte Menschen, denn sie haben gelernt, dass sie immer bes-· ser.als andere sein mussten, um ihren Lebensweg zu gehen.

Beim Thema.,Arbeit für Behinderte" assoziieren viele zunächst das traqitionelle Bild des Beschäftigten in einer Werkstatt für Behinderte. Die Werkstätten werden auch weiterhin gebraucht. Sie bieten einem großem Teil der gesundheitlich stark· beeinträchtigten Menschen sinnvolle Beschäftigung und qualifizierte Betreuung. ln den 83 Werkstätten des Landes stehen rund 10 800 Arbeitsplätze zur Verfügung, ein notwendiger Sonderarbeitsmarkt. Diese Zahl ist auch höher als vergleichende Zahlen in anderen Ländern.

Vorrang muss künftig aber die Erschließung aller Beschäftigungsmöglichkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts haben. Dies muss Vorrang vor einem Sonderarbeitsmarkt haben. Dabei muss kein Arbeitgeber Sorgen vor den Kosten der behinderte'ngerechten Ausgestaltung von Arbeitsplätzen haben. Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung als Hauptfürsorgestelle steht zur Beratung zur Verfügung. Es kann die behinderungsgerechte Einrichtung und Ausstattung des Arbeitsplatzes bis zur vollen Höhe der Kosten fördern. Dies sind zum Teil recht hohe Kosten.

Mit Hilfe des Landessonderprogramms zum Abbau der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter sind in Rheinland-Pfalz rund 2 800 Schwerbehinderte in den letzten Jahren in Arbeitsverhältnisse vermittelt worden. Natürlich mUss auch das Land als Arbeitgeber zuni Abbau der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter beitragen. Man kann aber nicht gleichzeitig Per

sonal in der allgemeinen Verwaltung aqbauen, Tätigkeiten kommunalisieren, auch privatisieren und gleichzeitig die Beschäftigungsquote Schwerbehinderter steigern. Ich bin aber

·froh, dasswir weiterhin einen respektablen Platz im Ländervergleich einnehmen, dies mit deutlich besseren Werten als zum Beispiel die großen südlichen Nachbarländer Bayern und Baden-Württe_mberg.

Zum Erfolg der Politik für behinderte Menschen tragen zunehmend neue Wege der beruflichen Eingliederung bei. Zu nennen ist vor allem das Modellprojekt lntegrationsfachdienste. Aufgabe dieser Fachdienste ist es, geeignete Arbeitsplätze für besonders schwer vermittelbare Behinderte zu akquirieren, diese am Arbeitsplatz intensiv zu betreuen und dere~

Arbeitgeber zu beraten. Diese Integrationsfachdienste arqeiten mittlerweile flächendeckend im ganzen Land. RheinlandPfalzist bundesweit Vorreiter mit diesem Modell. Es soll demnächst auch im Schwerbehindertengesetz verankert werden.

Besondere Bedeutung kommt im ersten Arbeitsmarkt auch den Integrationsbetrieben als Scharnier zwischen der Werkstatt für Behinderte und dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu. Landesregierung, Arbeitsverwaltung und Hauptfürsorgestellen haben in den letzten Jahren eine Reihe solcher Integra

tionsfirmen gefördert. Es können und müssen noch mehr werden.

Modellcharakter hat auch ein Projekt, das in einem Konversionsstandort steht, das Europäische Berufsförderungszentrum in Bitburg. Es soll ab 2001 behinderte Jugendliche aus

verschiedenen Ländern gemeinsam für den europäischen Arbeitsmarkt qualifizieren. Die Wertschätzung fürdieses Projekt wird auch dadurch deutlich, dass der Bund und die Bundesanstalt für Arbeit es mit uns gemeinsam fördern.

An dieser Stelle möchte ich vor allem Herrn Staatssekretär a. D. Klaus Jensen. für seine Bemühungen bei der Gründung dieses wichtigen Konversions- und Sozialprojektes Dank zollen.

(Beifall im Hause)

Viele behinderte Menschen in Rheinland-Pfalz wohnen in Heimen. Dort stehen zurzeit_10· 20.0 Wohnplätze für behinderte Erwachsene zur -Verfügung. Das Leben im Heim entspricht oft nicht dem Wunsch behinderter Menschen nach Eingliederung in die Gesellschaft. Die Landesregierung will deshalb das Angebot nicht weiter ausbauen. Sie sieht es insgesamt als bedarfsgerecht an.

Als Alternative zum Heim hat ·sich vor allem das Betreute Wohnen bewährt. Hier stehen zurzeit rund 1 450 Plätze bereit. Das Land hat in diesen Zweig in den vergangenen Jahren

70 Millionen DM investiert. Ziel der Landesregierung ist es auch hier, dass behinderte Menschen die ihnen angemessene Wohnform frei wählen, ihre Unterstützung selbst organisieren und aus eigenem Budget bezahlen können. Sie sollen über die. Art, den Zeitpunkt und den Umfang notwendiger Hilfen selbst bestimmen:

Behindert zu sein bedeutet im Alltag, vielen Hindernissen zu begegnen. Dabei stellen die Barrieren in den Köpfen der Menschen für Behinderte oft ein größeres Hemmnis dar als bauliche und technische Grenzen. Beides gilt es abzubauen. Eine Verbesserung des Lebensumfeldes behinderter Menschen kommt letztendlich allen zugute. Auch Mütter mit Kinderwagen oder ältere Menschen freuen sich über abgesenkte Bordsteine, über Aufzüge und ebenerdige Zugänge in Bussen und Bahnen.

Einen entscheidenden Anstoß für das barrierefreie Bauen hat die rieue Landesbauordnung von 1998 gegeben. Man kann sie ohne Übertreibung als Meilenstein au~ dem Weg zur barrierefreien Planung und Gestaltung bezeichnen. in Rheinland-Pfalz müssen neue Gebäude mit mehr als vier Wohnungen auch ein barrierefrei erreichbares Wohnangebot umfassen, und es besteht die Pflicht zur Anwendung der Norm barrierefrei bei öffentlichen Gebäuden und Bauten, die öffentlich genutzt werden.

Bewährt hat sich im Besonderen auch die Einrichtung einer Landesberatungsstelle "Altenund behindertengerechtes Bauen und Wohnen" in Mainz.

Erreichen wollen wir auch eine Intensivierung der Diskussion über die barrierefreie Entwicklung von Städten und Gemeinden. Dazu sind die Zielvorstellungen des Programms "Barrie

refreies Wohnen und Bauen" und der "Lokalen Agenda 21" hervorragend geeignet. Ziel ist, dass alle Menschen ihren Lebensraum mitgleichen Chancen nutzen können.

Ich komme zu den Perspektiven für die nächsten Jahre. Politik für und mit behinderten Menschen stellt den Menschen und nicht die Behinderung in den Mittelpunkt. Dabei sehen wir in Rheinland-Pfalz behinderte Menschen nicht als Objekte der Betreuung. Wir achten ihr Selbstbestimmungsrecht, das im Einzelfall auch durch Betreuer oder durch Organisationen wahrgenommen werden kann.

Auch für die Zukunft setze ich auf eine konstruktive Zusam

menarbeit zwisch'en der Landesregierung unc.j den behinderten Menschen und ihren Interessenvertretern in Rheinland-Pfalz. Ein wichtiges Forum für diesen Dialog ist der Landesbehindertenbeirat. Als engagierter Ansprechpartner steht der Landesbehindertenbeauftragte, Staatssekretär

Dr. Auernheimer, zur Verfügung, der in einer ganz besonderen Weise deutlich macht, dass dieses Nebenamt vom Engagement her mehr als ein Hauptamt ist. Ich möchte ihm dafür ganz besonders danken.

(Beifall der SPD, der F.D.P. und vereinzelt bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

··Die Landesre-gierung gestaltet Politik für behinderte Menschen nicht vom grünen Tisch aus. Sie nutzt die Erfahrungen Betroffener, ihrer Angehörigen und ihrer Verbände. Mein besonderer Dank gilt deshalb abschließendalldenjenigen im Land, die sich Tag für Tag ehrenamtlich für die Belange behinderter Menschen einsetzen.

(Beifall der SPD, der F.D.P. und vereinzelt bei CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepr~sident Heinz:

Meine Damen urid Herren, wir kommen zur Aussprache über die Regierungserklärung unter Mitberatung der beiden Entschließungsanträge.

Für die CDU-Fraktion erteile ich der Abgeordneten Frau Thelen das Wort.