Protokoll der Sitzung vom 16.05.2002

Die Öffnungszeiten der Institutsambulanzen – auch dies wissen wir – sind stark verbesserungsbedürftig. Viele haben keinen Wochenenddienst, viele haben keinen 24Stunden-Dienst. Was sollen die Leute tun, wenn am Wochenende, am Abend oder in der Nacht etwas passiert?

Die Kooperation dieser Ambulanzen mit den Ärzten scheitert teilweise daran, dass wir natürlich gerade in diesem Bereich gewisse Mangelerscheinungen zu verzeichnen haben. Herr Dr. Altherr hat bereits darauf hingewiesen. Wo niemand ist, kann man auch schlecht kooperieren.

Lassen Sie mich zum Abschluss auch aus aktuellen Gründen noch auf einen Bereich eingehen, der mir be

sonders wichtig erscheint. Das ist die Frage der Kinderund Jugendpsychiatrie. Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist zunächst einmal besonders wichtig, ein lückenloses Angebot vorzuhalten, das wohnortnah ist. Sie wissen – dies trifft insbesondere für Kinder und Jugendliche zu –, dass die Aufrechterhaltung der sozialen Bindungen während therapeutischer Maßnahmen entscheidend für den möglichen Erfolg ist. Deshalb ist es sehr wichtig, ein möglichst lückenloses Angebot auch im ländlichen Raum vorzuhalten. Das haben wir in dieser Form noch nicht.

Die Antwort auf die Große Anfrage gibt auch Hinweise darauf, mit welchen Entwicklungen wir es zu tun haben. Denken Sie in diesem Zusammenhang bitte auch an die Debatte von gestern. Das hat auch etwas damit zu tun. Wir haben es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die in irgendeiner Art und Weise bereits auffällig geworden sind und die nun glücklicherweise eine therapeutische Behandlung erfahren.

Wir erfahren nun, dass die Fälle von Kindern und Jugendlichen mit Ängsten zunehmen, dass Kinder und Jugendliche, die so genannte suizidale Handlungen vollziehen, also Selbstmord begehen oder selbstmordgefährdet sind, zunehmen und eine Zunahme von Fällen mit gestörtem Sozialverhalten und vermehrt Persönlichkeitsstörungen zu verzeichnen sind. Wenn das so ist – ich zweifle nicht daran –, müssen wir in diesem Bereich mit besonderer Akribie etwas tun.

Was allerdings besonders Besorgnis erregend ist, ist die Zunahme von medikamentösen Therapien, von Psychopharmaka und Psychostimulanzien. Aus Ihrer Antwort geht hervor, dass wir in den letzten Jahren eine Verzehnfachung der Verordnungen von Medikamenten im Psychobereich zu verzeichnen gehabt haben. Die Fachleute sagen nun nicht: Prima, das liegt daran, dass diese Behandlungsmethoden so erfolgreich sind –, sondern sie sagen: Es liegt zum Teil daran, dass Ärzte Medikamente verordnen, die dazu offenbar fachlich nicht in der Lage sind und zu Medikamenten greifen, wenn möglicherweise eine andere Behandlungsform angezeigt wäre. – Das ist Besorgnis erregend, und in diesem Bereich muss etwas geschehen.

Dies ist auch ein Anzeichen dafür, dass unser Gesundheitssystem insgesamt gegenüber psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungen noch zu wenig durchlässig ist. Es käme kaum ein Arzt auf die Idee, einem Menschen, der mit einem gebrochenen Arm in seine Praxis kommt, nur irgendein Medikament zu verschreiben, aber er kommt offenbar auf die Idee, einem Menschen, der mit einem psychisch bedingten Leiden zu ihm kommt, ein Medikament zu verschreiben, obwohl er davon nicht besonders viel Ahnung hat. Die Durchlässigkeit muss noch wesentlich verbessert werden, und gerade das Angebot bei Kindern und Jugendlichen muss vorgehalten werden. Was wir bei Kindern und Jugendlichen mit einer falschen oder einer fehlenden Behandlung zunichte machen können, können wir fast jeden Tag sehen, lesen und hören.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In diesem Zusammenhang muss man klar feststellen – das sollte man nicht ohne Weiteres abtun -, es gibt Defizite bei der Beschulung von Kindern und Jugendlichen, die in psychiatrischen Einrichtungen sind. Das ist offenbar, und das wissen wir auch direkt von den Einrichtungen.

(Glocke der Präsidentin)

Auch dies hängt mit der Frage zusammen, inwiefern diese Kinder und Jugendlichen schulisch und beruflich wieder ihren Weg finden, nachdem ihre Behandlung hoffentlich erfolgreich abgeschlossen ist. Deshalb müssen wir auch in diesem Bereich etwas tun.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat Frau Staatsministerin Dreyer.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Herren und Damen! Ich freue mich, im Namen der Landesregierung noch einmal zur Entwicklung der gemeindenahen Psychiatrie in Rheinland-Pfalz Stellung nehmen zu dürfen, und ich freue mich auch über die engagierte Debatte in diesem Haus zu diesem Thema. Das ist nicht selbstverständlich. Ich finde sie sehr produktiv und der Sache förderlich. Herzlichen Dank dafür.

Die Problematik von Menschen mit seelischen Erkrankungen wurde in der Vergangenheit sehr häufig verdrängt und tabuisiert, was Herr Abgeordneter Dr. Altherr schon dargestellt hat. Passend dazu hat man sehr lange die psychisch Kranken in wenigen Großkliniken fernab von ihren Heimatgemeinden untergebracht. Besonders in den letzten zehn Jahren ist uns ein wesentlicher Fortschritt gelungen.

Die wichtigsten Erfolge sind – ich fasse sie noch einmal zusammen –, dass Hilfen für psychisch kranke Menschen mehr und mehr vor Ort in der eigenen Gemeinde erbracht werden, diese Hilfen individuell mit den betroffenen Menschen geplant werden, um ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, und wir die psychiatrische Krankenhausversorgung zu einem großen Teil dezentralisieren konnten und diesen Prozess auch weiterführen werden. Bei den großen Heimen hat eine vergleichbare Entwicklung begonnen.

Die Antwort auf die Große Anfrage ist daher vor allem eine Zwischenbilanz für die Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz. In vielen einzelnen Details wird die Dynamik dieser Reform in Rheinland-Pfalz deutlich. Sie ist auch in der heutigen Debatte deutlich geworden. Die Antwort belegt, was in den letzten Jahren mit großem Engagement von Personen, Institutionen, Einrichtungen, Verbänden, psychiatrieerfahrenen Angehörigen und von den Beschäftigten der Einrichtungen geleistet wurde.

Neben der Zwischenbilanz über das Geleistete werden aber auch Perspektiven und Entwicklungen aufgezeigt. Lassen Sie mich gleich dazu noch einige Beispiele nennen.

Ich möchte aber schon an dieser Stelle noch einmal feststellen, dass dies nicht mehr und nicht weniger als eine Zwischenbilanz ist, wir selbstverständlich gehalten sind, was auch nach den Wortbeiträgen Meinung des gesamten Hauses ist, die Reform mit großem Engagement fortzuführen und wir natürlich an vielen Stellen auch weiterarbeiten und weiterentwickeln müssen. Herr Abgeordneter Marz, das gilt auch für den gerontopsychiatrischen Bereich.

Ansatz der Psychiatriereform war der Gedanke, die Hilfe zu den Menschen zu bringen und nicht die Menschen in häufig gemeindeferne Einrichtungen. Dieser Gedanke kommt in dem Begriff „gemeindenahe Psychiatrie“ zum Ausdruck. Die rheinland-pfälzische Psychiatriereform geht noch einen Schritt weiter. Sie hat den Landkreisen und kreisfreien Städten im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung die Aufgabe übertragen, die psychiatrischen Hilfen vor Ort zu planen und zu koordinieren. Dies war ein Schritt hin zur Kommunalisierung der Leistungen. So wurde aus der gemeindenahen Psychiatrie die Gemeindepsychiatrie.

Dem Abgeordneten Dr. Altherr möchte ich ein Wort zu dem Thema der kommunalen Psychiatrieberichte sagen. Sie wissen, die kommunalen Psychiatrieberichte sind Selbstverwaltungsaufgabe. Natürlich haben wir ein Interesse an der Qualität, weil wir auch ein Stück weit in die jeweiligen Entwicklungen eingebunden sind. Das ist aber aus unserer Sicht sichergestellt. Der Landespsychiatriebeirat besteht unter anderem aus kommunalen Vertreterinnen und Vertretern. So entsteht ein regelmäßiger fachlicher Austausch, sodass wir kontinuierlich an der Entwicklung beteiligt sind.

Die Kommunalisierung der Leistungen erforderte ein großes Umdenken bei den Leistungserbringern. Das ist auch in dem Redebeitrag der Abgeordneten Frau Leppla zum Ausdruck gekommen. Noch bis vor wenigen Jahren haben sich die Einrichtungen die Personen, für die sie Hilfe erbringen wollten oder konnten, regelrecht ausgesucht. Schwierige Personen wurden sehr oft abgelehnt. Diese mussten häufig weit entfernt von ihrem eigentlichen Lebensmittelpunkt Hilfe suchen.

Die Gemeindepsychiatrie hat begonnen, diese Verlegungspraxis auf Kosten kranker Menschen zu beenden. Einrichtungsträger haben sich unter der Moderation der Landkreise und kreisfreien Städte auf regionaler Ebene zu gemeindepsychiatrischen Verbünden zusammengeschlossen und erklärt, dass sie gemeinsam für ihre Region eine Versorgungsverantwortung übernehmen.

Im Ergebnis bedeutet dies, dass heute für den einzelnen psychisch kranken Menschen eine individuelle Hilfe geplant wird, die Grundlage für die Erbringung der Leistung ist.

Die individuelle Hilfeplanung, die gemeinsam mit den behinderten Menschen durchgeführt wird, nimmt den Gedanken des selbstbestimmten Lebens auf, der in der

Behindertenselbsthilfe entwickelt worden ist. Hier verbinden sich die Überlegungen der Gemeindepsychiatrie mit dem Projekt des Landes „Selbst bestimmen – Hilfe nach Maß“.

Die Einrichtung von gemeindepsychiatrischen Verbünden in den Versorgungsregionen hat dazu beigetragen, dass Hilfen heute personenorientiert erbracht werden und sich die Einrichtungsträger ihrer Verantwortung für ihre Region bewusst sind. Das ist wirklich ein Fortschritt. Wir haben in vielen anderen Bereichen der Behindertenhilfe noch lange nicht erreicht, dass personenorientiert Hilfe gewährleistet wird. Dies führt notwendigerweise zu einem Umbau des Hilfesystems. Es ist deutlich zum Ausdruck gekommen, Anfang der 90er-Jahre hatten noch die drei großen Fachkliniken in Klingenmünster, Alzey und Andernach die Versorgungsverpflichtung für das gesamte Land Rheinland-Pfalz. Durch die rasanten Änderungen in der psychiatrischen Krankenhausversorgung wurde diese Versorgungsverantwortung schrittweise auf die bereits bestehenden Fachkliniken und psychiatrischen Abteilungen, aber auch auf neue Abteilungen übertragen.

Parallel zum Aufbau der dezentralen psychiatrischen Krankenhausversorgung wurden die großen psychiatrischen Fachkliniken verkleinert.

Lassen Sie mich auch in Ihrem Sinn an dieser Stelle noch einmal besonders den Beschäftigten in diesen Kliniken für ihr großes Engagement danken. Sie haben diesen Reformprozess mitgetragen und mitgestaltet. Ohne das große Engagement der Gewerkschaft ver.di und die Unterstützung durch die Beschäftigten in den Kliniken wäre dieser Umstrukturierungsprozess niemals möglich gewesen. Sie haben diese Umgestaltung mitgetragen und unterstützt, obwohl damit ihr Arbeitsplatz am bisherigen Standort infrage gestellt wurde. Dafür gebührt ihnen ein herzliches Wort des Dankes und der Anerkennung.

(Beifall im Hause)

Bei den komplementären Hilfen steht diese Umstrukturierung noch am Anfang. Es gibt weiterhin zahlreiche große und gemeindeferne Wohneinrichtungen für ps ychisch kranke Personen. Wenn diese komplementären Hilfen künftig noch stärker gemeindenah angeboten werden, bedeutet dies einen schrittweisen Rückbau der großen Heime in Rheinland-Pfalz. Auch hier gibt es schon beispielhafte Entwicklungen. Selbstverständlich sind wir da aber erst auf einem Weg.

So hat der Schönfelder Hof durch den Aufbau gemeindepsychiatrischer Zentren in der Eifel schrittweise sein stationäres Angebot in Zemmer verkleinert. Die Rheinhessen-Fachklinik Alzey hat mit ihrem dezentralen Heimbereich in Bad Kreuznach, Bingen und Oppenheim recht ähnliche Angebote geschaffen.

Der Aufbau der gemeindenahen Hilfen kann nur finanziert werden, wenn parallel dazu die Kapazitäten der großen gemeindefernen Einrichtungen verkleinert werden. Die Umstrukturierung der Krankenhausversorgung belegt, dass eine solche Umsteuerung möglich ist. Am Ende profitieren die behinderten Menschen davon.

Ich möchte noch auf eine Frage eingehen, wobei ich nicht mehr genau weiß, wer sie gestellt hat. Es ist sicher, dass in der Pfalz mindestens ein kinder- und jugendpsychiatrisches Angebot entstehen wird, auch im Westerwald.

Zu dem Thema „Krankenhausunterricht“ wurde in der Großen Anfrage aufgeführt, dass parallel zum Ausbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie mehr Stunden für den Krankenhausunterricht zur Verfügung gestellt wurden. Das gilt im Rahmen der personellen Möglichkeiten selbstverständlich auch für die Zukunft.

Rückschauend auf die zehn Jahre Psychiatriereform kann ich feststellen, dass dieser enorme Entwicklungsprozess vom Engagement der Menschen und von ihrer Bereitschaft lebt, Vorurteile aufzugeben und sich der Realität der psychischen Erkrankungen zu stellen.

(Beifall bei SPD und FDP)

Die Landesregierung wird diesen Prozess weiter engagiert vorantreiben und begleiten. Ich denke, es wäre sehr schön, wenn wir auch in Zukunft im Parlament und im Sozialpolitischen Ausschuss die Gelegenheit ergreifen würden, dieses Thema auch durch Diskussion miteinander konstruktiv zu begleiten. Es ist ein wichtiges Thema für dieses Land. Es ist ein wichtiger Schwerpunkt im Sozialministerium, den wir mit Sicherheit in dem Sinn, wie ich es eben ausgeführt habe, auch in Zukunft weiter betreiben werden.

Vielen Dank.

Da keine Wortmeldungen mehr vorliegen, hat dieser Tagesordnungspunkt seine Erledigung gefunden.

Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:

Erste Schlussfolgerungen aus der PISA-Studie Antrag der Fraktion der CDU – Drucksache 14/1001 –

dazu: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung und Jugend – Drucksache 14/1041 –

Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie PISA 2000 Antrag (Alternativantrag) der Fraktionen der SPD und FDP – Drucksache 14/1083 –

Ich erteile der Berichterstatterin Frau Leppla das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Durch Beschluss des Landtags vom 25. April 2002 ist der Antrag – Drucksache 14/1001 – an den Ausschuss für Bildung und Jugend überwiesen worden. Der Ausschuss

für Bildung und Jugend hat den Antrag in seiner 9. Sitzung am 2. Mai 2002 beraten. Die Beschlussem pfehlung lautet: Der Antrag wird abgelehnt.

(Beifall bei SPD und FDP)

Vielen Dank.

Für die CDU-Fraktion hat Herr Abgeordneter Keller das Wort.