Protokoll der Sitzung vom 01.07.2004

(Frau Thomas, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wenigstens einer, der dankbar ist!)

Frau Thomas, das muss man doch einmal sagen dürfen. Das Thema, das wir diskutieren, ist doch erst der Anfang; denn die niedrige Wahlbeteiligung, die wir heute beklagen, wird doch noch viel dramatischer und drastischer. Das können wir für die vergangenen Jahre von Kommunalwahl zu Kommunalwahl sowie von Landtagswahl zu Landtagswahl verfolgen. Deshalb müssen wir gemeinsam einen Weg finden, um die Ursachen zu analysieren. Außerdem müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir zu einer höheren Wahlbeteiligung kommen.

Meine Damen und Herren, über den Vorschlag von Herrn Minister Zuber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Auch seitens der Fraktion der FDP gibt es zu diesem Vorschlag nicht nur einhellige Zustimmung. Ich würde vielleicht sogar noch einen Schritt weiter gehen. Diejenigen, die vor drei Wochen als Wahlhelfer im Wahllokal tätig waren, die Wahlzettel zum Teil mit ausgezählt haben,

(Hartloff, SPD: Und auch noch selbst kandidiert haben!)

wissen, wovon ich rede. Ich komme fast zu der Feststellung, dass man sich Gedanken machen muss, ob man nicht sogar einen Befähigungsnachweis erbringen muss, damit man überhaupt wählen darf. Das sind doch Dinge, die jeder, der im Wahllokal tätig ist – – – Wir alle waren für das Kumulieren und Panaschieren sowie für mehr Bürgerbeteiligung. Wenn man aber die Stimmzettel sieht und Revue passieren lässt, will ich gar nicht darüber diskutieren, wie viel Prozent der Wähler die Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens nicht ausnutzen.

Meine Damen und Herren, wenn ich dann noch feststelle, dass gerade bei den Jungwählern – wir haben alle fünf Jahre Kommunalwahlen und alle fünf Jahre Landtagswahlen, das heißt, bei jeder Wahl kommen fünf Jahrgänge von Neuwählern hinzu – die Wahlbeteiligung mit am niedrigsten ist, dann müssen wir uns doch Gedanken machen.

Ich habe eine Erfahrung gemacht, die mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Ich habe einen Lehrling gesucht. Es haben sich zwölf Hauptschüler für diese Lehrlingsstelle als Großhandelskaufmann beworben. Daraufhin habe ich eine Vorauswahl getroffen und fünf junge Leute zum Einstellungsgespräch gebeten. Bei den anderen hatte das eh keinen Zweck, weil die Noten im Bereich von „ausreichend“ bis „mangelhaft“ lagen.

Jedem Bewerber habe ich die gleichen zehn ganz simplen Fragen gestellt. Es waren Fragen dabei wie: Wie viel Gramm hat ein Kilogramm? Wie viel Quadratmeter hat ein Hektar? – Darüber hinaus waren folgende Fragen dabei: Wie heißt der Landrat des Landkreises Südwestpfalz? Wie heißt der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz – Von den fünf Bewerbern hat ein Bewerber geantwortet: Bush.

(Vereinzelt Heiterkeit im Hause)

Meine Damen und Herren, das ist für mich nicht zum Lachen.

(Jullien, CDU: Das war die falsche Frage!)

Nein, Herr Kollege Jullien.

Wenn jemand mit einem Hauptschulabschluss oder einem Berufsfachschulabschluss nicht weiß, wie der Landrat seines Kreises oder der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz heißt, dann ist das für mich ein Defizit. Dann bin ich wieder bei dem Thema, ob nicht ein Befähigungsnachweis erbracht werden muss.

Wir müssen uns die Frage stellen, ob nicht das Fach „Sozialkunde“ – – – Als ich die Schule absolviert habe, war Sozialkunde ein Pflichtfach. In diesem Unterricht wurde durchgenommen, welche Aufgaben die Bundesversammlung hat und wie sie sich zusammensetzt. Außerdem wurde besprochen, wie das föderale System funktioniert und welche Aufgaben Bundesrat und Bundestag haben.

Meine Damen und Herren, wenn heute Hauptschüler – Sie können genauso gut Gymnasiasten nehmen –

nicht mehr über die Grundvoraussetzungen verfügen, die jeder in der Schule mitbekommen sollte, um unser politisches System zu verstehen, dann stimmt mich das nachdenklich.

Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist die Parteien- und Politikverdrossenheit. Auch in diesem Zusammenhang müssen wir einmal nach den Ursachen fragen.

(Glocke der Präsidentin)

Ob der Weg zur Wahlpflicht der richtige Weg ist, wage ich zu bezweifeln. Es war aber zumindest ein Anstoß in die richtige Richtung, damit wir gemeinsam über dieses Thema ernsthaft diskutieren. Im zweiten Durchgang möchte ich einige Vorschläge unterbreiten, wie wir dieses Problem gemeinsam lösen können. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass es eine Patentlösung nicht geben wird. Schuldzuweisungen innerhalb und unterhalb der demokratischen Parteien bringen uns auch nicht weiter. Ich denke, dass wir uns mit diesem Thema in den nächsten Jahren noch mehr und ernsthafter befassen müssen als bisher.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei FDP und SPD)

Das Wort hat Herr Staatsminister Zuber.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich freue mich darüber, dass die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr kurzfristig das Phänomen der geringen Wahlbeteiligung zum Thema dieser Aktuellen Stunde gemacht hat. Damit habe ich eines meiner Ziele erreicht, nämlich eine Diskussion über die geringe Wahlbeteiligung und ihre Ursachen in Gang zu bringen. Niemand sollte glauben, dass die Thematik mit der heutigen Aktuellen Stunde erledigt ist.

(Beifall der Abg. Frau Grützmacher, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Seit mindestens einem Jahrzehnt entwickelt sich die Wahlbeteiligung bei uns in Deutschland rückläufig. Gerade am vergangenen Wochenende konnten wir in einigen Wahlbezirken bei Stichwahlen feststellen, dass sogar weniger als 20 % – der Minusrekord von 11,9 % ist genannt worden – der Wahlberechtigten sich beteiligten und von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten.

Das halte ich für eine äußerst bedenkliche Entwicklung, insbesondere und nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass ich mir immer vorstelle, dass sich die Generation unserer Großväter und Großmütter massiv für ein freiheitliches und demokratisches Wahlsystem eingesetzt hat, manche dafür ins Gefängnis gegangen sind und wir auf das heutige Wahlrecht mit Fug und Recht stolz sein können.

Umso enttäuschender ist für mich – ich denke, für Sie alle als überzeugte Demokraten der Nachkriegsgeneration – das Verhalten eines Teils unserer Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit ihrem Wahlrecht. Dies ist für mich nicht nachvollziehbar.

In meinem kurzen Interview im Anschluss an die Stichwahl im Landkreis Alzey-Worms habe ich deshalb zugegebenermaßen etwas provokant den Vorschlag in die Diskussion gebracht, ob es sich nicht vielleicht lohne, über eine Wahlpflicht bei bestimmten Wahlen nachzudenken. Ich denke, dass dies nichts Abwegiges ist. Wir wissen, dass es in dem einen oder anderen Land in Europa eine Wahlpflicht gibt. Diese Länder machen damit deutlich, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur Rechte haben, sondern auch Pflichten.

Deshalb ist der zweite Teil der Überschrift in Ihrem Antrag zur Aktuellen Stunde so nicht haltbar. Es gibt keinen ausgearbeiteten Vorschlag von mir, sondern das war meine persönliche Auffassung.

Soweit es mir nunmehr gelungen ist, hierüber eine Diskussion insbesondere bei denjenigen, die dazu berufen sind, nämlich in den politischen Parteien, zu entfachen, bin ich sehr froh darüber; denn neben der moralischen Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger, an unserem Gemeinwesen mitzuwirken, ist es insbesondere auch die Aufgabe der Parteien aufgrund unseres grundgesetzlichen Auftrages, an der politischen Willensbildung mitzuwirken.

Bei meinem Vorschlag, über eine Wahlpflicht nachzudenken, war ich mir natürlich völlig darüber bewusst, dass dies ohne eine grundgesetzliche Änderung nicht möglich ist, obwohl es unter Juristen auch hierzu unterschiedliche Auffassungen gibt. Daher ist es mein Petitum, dass alle demokratischen Parteien darüber nachdenken müssen, wie sie auf diese schlechte Wahlbeteiligung reagieren.

Soweit die GRÜNEN fordern, die Bürger noch stärker an den Entscheidungen zu beteiligen, habe ich mich bereits in der Landtagssitzung vom 28. April 2004 kritisch zu diesem Vorschlag geäußert. Ich will dies noch einmal ganz kurz begründen. Damals habe ich darauf hingewiesen, dass ein Bürgerentscheid, der die Wirkung eines Ratsbeschlusses hat, die Bürgerschaft in vergleichbarer Weise repräsentieren sollte, so wie das eine Mehrheit im Rat täte. Damals habe ich unterstellt, dass ausgehend von einer Wahlbeteiligung von 50 % bei einer Kommunalwahl ein Ratsbeschluss mindestens 25 % der Bürgerschaft repräsentiert. Aus diesem Grund sollte man bei einer eventuellen Senkung des Quorums sehr sorgfältig die Frage der Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der repräsentativen Demokratie überprüfen. Meine Damen und Herren, es darf schließlich auch nicht so sein, dass eine politisch engagierte Minderheit die gewählten Vertretungsorgane nach Belieben übergehen kann.

Soweit die GRÜNEN das Problem der geringen Wahlbeteiligung mit einer verstärkten Bürgerbeteiligung,

womöglich auch – darüber ist auch diskutiert worden – unter Absenkung des Quorums angehen wollen,

(Pörksen, SPD: Wegfall!)

halte ich dies für höchst problematisch und wenig zielführend. Das ist auch nicht zielführend im Zusammenhang mit dem, was wir derzeit diskutieren.

Zum einen würde unsere repräsentative Demokratie weiter ausgehöhlt. Zum andern würde die Akzeptanz von Entscheidungen auch nicht größer werden; denn auch die Beteiligung an den bisherigen Entscheidungen war äußerst gering. Ob ein Mehr an Wahlmöglichkeiten die Wählerzahlen ansteigen lässt, halte ich zumindest für äußerst fragwürdig. Man kann sogar in die umgekehrte Richtung argumentieren, zumal wir in RheinlandPfalz in den vergangenen Jahren durch die Einführung der Urwahlen sowie durch das Kumulieren und Panaschieren zusätzliche Möglichkeiten geschaffen haben.

Der Lösungsansatz der CDU, den Wählerinnen und Wählern die Wahlzettel bei Kommunalwahlen nach Hause zu schicken, ist kein neuer Vorschlag. Wir haben darüber bereits vor einigen Jahren debattiert. Damals sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass ein solches Verfahren mit dem Gebot der geheimen Wahl zumindest in Konflikt steht. Selbst wenn man über diese Hürde springen würde, zeigen jedoch die Ergebnisse in BadenWürttemberg, wo seit einigen Jahren diese so genannte Wahlmöglichkeit am Küchentisch gängige Praxis ist, dass sie auch nicht dazu beiträgt – die Zahlen sind von Herrn Pörksen genannt worden –, die Bürger zum Wahlgang zu motivieren.

Meine Damen und Herren, die Politik – lassen Sie mich dies abschließend feststellen – muss deshalb eine Diskussion um die Wahlbeteiligung anstoßen. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Wir sollten alle gemeinsam dafür Sorge tragen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger selbst nicht ihrer Grundlage für die Herrschaft des Volkes, wie Demokratie übersetzt heißt, berauben. Wir sollten also die Frage, wie wir eine höhere Wahlbeteiligung erreichen, als einen Dauerauftrag an uns ansehen. Vor allen Dingen sollten wir diese Frage auch bei dem einen oder anderen relevanten Gesetzentwurf bedenken.

Vielen Dank.

(Beifall der SPD und der FDP)

Ich erteile der Frau Abgeordneten Grützmacher das Wort.

Meine Damen und Herren, wir haben jetzt von vielen Rednern Vorschläge gehört, was man alles machen kann und welche Möglichkeiten es insbesondere für die Parteien oder für den Gesetzgeber gibt, da etwas zu machen.

Ich will noch einmal auf die Europawahlen eingehen, weil ich da ein Phänomen entdecke, das meiner Meinung nach sehr viel damit zu tun hat, dass die Beteiligung an der Europawahl – zumindestens in den Ländern, in denen keine anderen Wahlen stattfanden – noch einmal niedriger lag. In Hessen waren es 37,8 %, während es bei uns 58 % waren. Wir haben aber die kluge Entscheidung gefällt, dass wir die Europawahlen zusammen mit den Kommunalwahlen durchführen. Auf jeden Fall ist aber gerade bei Europawahlen die Wahlbeteiligung oft sehr gering. Dafür gibt es viele Gründe. Herr Hörter hat das auch schon gesagt.

Ein Grund erscheint mir aber besonders wichtig. Es ist doch so, dass die Wählerinnen in Deutschland in den meisten Fällen die Spitzenkandidatinnen, die von den Parteien in das Europaparlament geschickt werden, überhaupt nicht kennen.

(Pörksen, SPD: Wie heißt denn die von den GRÜNEN?)

Ja, überlegen Sie mal. Sie kennen ihn.

Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen war, aber bei uns in Wörth war als Werbung für die Europawahl nur Frau Merkel auf einem riesigen Plakat zu sehen. Sie warb auch nicht für Europa,

(Zuruf des Abg. Schreiner, CDU)

sondern sie beschäftigte sich mit innenpolitischen Themen. Von Europa war da nichts zu sehen.

(Zuruf der Abg. Frau Kohnle-Gros, CDU)