Protokoll der Sitzung vom 27.01.2007

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist der nationale Gedenktag, an dem wir an alle Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Es ist der Tag, an dem vor 62 Jahren das Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee, durch die 60. Armee der Ukrainischen Front, befreit wurde. Man fand nur rund 7.600 Überlebende, ausgemergelt, fast tot, darunter etwa 600 Kinder.

Herr Dr. Kahn, ich begrüße Sie als wichtigen Zeitzeugen. Ich bitte die Abgeordneten und die Mitglieder der Landesregierung, sich vom Platz zu erheben und einen Moment der Ruhe einzuhalten.

(Die Anwesenden erheben sich von ihrem Platz)

Herr Dr. Kahn, meine Damen und Herren, wir haben uns erhoben aus Respekt und Mitgefühl für die Opfer. Wir denken an das, was Sie und viele Millionen anderer Opfer des Nationalsozialismus erleiden mussten. Wir denen an die verfolgten und ermordeten Juden, an Sinti und Roma, die Kranken, Behinderten und politisch Verfolgten. Wir haben uns erhoben, um die Würde zu respektieren, die diese Opfer hatten und die man ihnen nehmen wollte. Wir haben uns erhoben, um zu versprechen, dass so etwas nie wieder geschehen wird. Ich bedanke mich.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

Meine Damen und Herren, vor 62 Jahren kamen die Soldaten in Auschwitz an. Wir wurden in Deutschland – insbesondere meine Generation, die nach dem Krieg geboren wurde – lange im Unsicheren darüber gehalten, was denn da geschehen war. Es war klar, dass Auschwitz nicht aus dem Nichts kam. Ich muss Ihnen leider eine lange Liste von Dingen vorlesen, die abgelaufen sind, bis es Auschwitz gab. Diese Liste ist uns in der Form nie präsentiert worden. Von vielen Hunderten von Maßnahmen will ich Ihnen folgende vortragen:

1. April 1933: Reichsweit werden jüdische Geschäfte boykottiert.

7. April 1933: Juden dürfen keine Beamte mehr sein.

14. Juli 1933: Gesetz über die Einziehung jüdischen Vermögens.

Am 15. September 1935 wurden die Nürnberger Rassengesetze erlassen, mit denen die Unterscheidung

zwischen Ariern und Nichtariern vorgenommen wurde. Das war vollkommen unwissenschaftlich, aber die Grundlage für all das, was folgen sollte.

21. Dezember 1935: Jüdische Lehrer, Ärzte und Professoren werden aus dem Staatsdienst entlassen.

11. Januar 1936: Berufsverbot für jüdische Steuerberater.

25. Januar 1937: Berufsverbot für jüdische Viehhändler.

13. Februar 1937: Juden können keine Notare sein.

15. April 1937: Juden dürfen nicht mehr promovieren.

18. Januar 1938: Keine Zulassung jüdischer Schüler zur Reifeprüfung an öffentlichen Schulen.

16. Februar 1938: Juden dürfen nicht mehr als Tierärzte bestallt werden.

25. Juli 1938: Jüdischen Ärzten wird die Zulassung entzogen.

17. August 1938: Männliche Juden müssen zusätzlich den Vornamen „Israel“, Frauen den Vornamen „Sara“ führen.

5. Oktober 1938: Die Reisepässe werden eingezogen und mit einem großen „J“ versehen.

9. November 1938: Reichspogromnacht – Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnungen durch die Nationalsozialisten und Ermordung von vielen Menschen.

12. November 1938: Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes: Die Kosten der Reparaturen der Schäden, die die Nationalsozialisten angerichtet hatten, müssen die geschädigten Juden bezahlen. Soweit es Versicherungsleistungen gibt, beschlagnahmt sie der Staat.

12. November 1938: Zwangsveräußerung von Gewerbebetrieben, Grundvermögen und Wertpapieren.

15. November 1938: Jüdische Kinder dürfen keine deutschen Schulen mehr besuchen.

Ende des Jahres 1938: Juden dürfen sich nur noch eine begrenzte Zeit in der Öffentlichkeit aufhalten, dürfen keine Speise- und Schlafwagen der Bahn und keine öffentlichen Bäder mehr benutzen.

21. Februar 1939: Juden müssen Gold, Silber und Edelsteine an den Staat abliefern. – Die Liste ist noch nicht zu Ende.

1. September 1939: Ausgehverbot für Juden im Sommer nach 21:00 Uhr, im Winter nach 20:00 Uhr.

20. September 1939: Juden dürfen keine Radios mehr besitzen.

7. Dezember 1939: Juden erhalten keine Kleiderkarten mehr.

11. März 1940: Lebensmittelkarten für Juden werden mit „J“ versehen. Sie erhalten keine rationierten Lebensmittel mehr.

19. Juli 1940: Juden dürfen kein Telefon mehr besitzen.

22. Oktober 1940: Deportation der pfälzischen Juden ins unbesetzte Frankreich.

5. Januar 1941: Juden dürfen keine Leihbüchereien mehr benutzen.

1. September 1941: Juden müssen den Judenstern an ihrer Kleidung tragen.

16. Oktober 1941: Beginn der Deportationen nach Osten, auch aus dem Regierungsbezirk Trier.

25. November 1941: Juden verlieren dann die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland verlegen. Durch die Deportation ins Ausland verlegen die Juden also ihren gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland und verlieren somit die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Zynismus der Bürokratie ist unbeschreiblich.

12. Dezember 1941: Juden dürfen keine öffentlichen Fernsprecher mehr benutzen.

20. Januar 1942: Auf der berüchtigten WannseeKonferenz wird die sogenannte Endlösung der Judenfrage beschlossen.

13. März 1942: Juden müssen ihre Wohnungstür mit einem schwarzen Judenstern kennzeichnen.

Ab dem 22. März 1942: Mehrfache Deportationen aus Koblenz.

Ab dem 24. März 1942: Mehrfache Deportationen aus Mainz. Im Dahlheimer Hof werden zahllose Leute eingepfercht.

Ab dem 24. April 1942: Mehrfache Deportationen aus Trier.

17. Juni 1943: Deportation der letzten Juden aus Trier.

Meine Damen und Herren, Auschwitz kam nicht aus dem Nichts. Es kam aus all diesen Maßnahmen, und das kann auch nachgelesen werden. Der ehemalige Justizminister Caesar hat dies dokumentiert. Die Deutschen haben sich über das jüdische Eigentum hergemacht und es versteigert. Auf einer Karteikarte aus damaliger Zeit heißt es beispielsweise: Ein Bett: 10 Reichsmark. – Auf diese Weise wurden die Wohnungen leer geräumt. Auch Radios usw. wurden den Juden weggenommen.

Das Grauen des Massenmordes hat ganz einfache und bürokratische Vorläufer. Es waren Maßnahmen, die Menschen entrechteten und entwürdigten. Das ist ein Teil der Lehre, die wir begreifen müssen.

Die Mehrzahl der Menschen, die heute lebt, ist ohne persönliche Schuld, aber nicht ohne Verantwortung. Wir haben die Verantwortung für das, was geschah, aber insbesondere für die Zukunft. Es ist notwendig, das, was ich versucht habe zu skizzieren, stets in Erinnerung zu halten; denn das Wissen macht uns betroffen und muss uns zum Handeln veranlassen.

Meine Damen und Herren, deshalb haben wir uns heute hier getroffen. Ich danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind, insbesondere Herrn Dr. Heinz Kahn. Er schreibt über sich selbst, er gehöre zu einer großen deutschen rheinischen Familie, von der er allein übrig geblieben sei, ebenso wie seine Ehefrau, die ich an dieser Stelle herzlich begrüße. Er kommt aus Hermeskeil und wird darüber berichten, was es bedeutet, ein junger Mensch in dieser Zeit gewesen zu sein. Er erfährt, dass seine Eltern und seine Schwestern ermordet worden sind und kann nach einem Todesmarsch nach Buchenwald, wo ihn die Amerikaner befreien, nach Trier zurückkehren. Auch was er dann erfährt, ist kein Ruhmesblatt für uns und für unsere Vorväter; denn sie haben das infrage gestellt, was ihm angetan wurde.

In einer gestrigen Veranstaltung im Mainzer Dom ging es um die Frage der Kriegsdienstverweigerer im Nazireich. Sie haben ewig, bis zum Jahr 1991 für ihr Recht kämpfen müssen. In den 50er-Jahren saßen ihnen die gleichen Personen gegenüber, die in den 40er-Jahren für diese Verbrechen verantwortlich waren. Ein Gericht hatte damals gesagt, man hätte beispielsweise bei der Frage des Umgangs mit den Männern des 20. Juli gar nicht anders handeln können.

Aus diesem Grunde bitten wir Sie, uns aus dieser Zeit zu berichten, Herr Dr. Kahn. Wir wollen das weitertragen und können das weitertragen.

Ich begrüße den Landesvorsitzenden der Jüdischen Gemeinden, Herrn Dr. Peter Waldmann. Für die Sinti und Roma begrüße ich Herrn Ludwig Georg. Herr Daweli Reinhardt lässt sich entschuldigen, da er erkrankt ist. An dieser Stelle begrüße ich die Enkel von Daweli Reinhardt, die mit ihrer Musik diese Sitzung mitgestalten. Zugleich bedanke ich mich sehr herzlich dafür.