Protokoll der Sitzung vom 27.01.2008

.............................................................................................................................. 2417 Präsident Mertes:......................................................................................................................................... 2411 Prof. Dr. Kißener:......................................................................................................................................... 2413

40. Plenarsitzung am 27. Januar 2008 aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus

B e g i n n d e r S i t z u n g: 11:30 Uhr.

Die Wildgänse

Aus: 4 Lieder nach Alt-Chinesischen Gedichten, Gedicht von Wej Jingwu, Musik: Pavel Haas

Begrüßung

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die bewegende Musik, die wir soeben gehört haben, stammt aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Die jüdischen Komponisten Pavel Haas und Viktor Ullmann gehörten zu denjenigen Künstlern, denen die Nationalsozialisten erlaubt hatten, am Anfang für ihr Vorzeigekonzentrationslager – „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, so hieß das Thema – ein Kulturprogramm zu organisieren. Dies wurde natürlich missbraucht.

1944 beschlossen die Nationalsozialisten, das Musikleben in Theresienstadt zu vernichten, und deportierten alle Musiker nach Auschwitz, wo sie in Gaskammern ermordet worden sind, so auch Pavel Haas und Victor Ullmann. Soeben haben Sie eine der wenigen erhalten gebliebenen Kompositionen gehört.

Ich darf der Mezzosopranistin Elizabeth Neiman und ihrem Begleiter Peter Geisselbrecht danken, dass sie sich dieser raren Zeugnisse der Hoffnung und Verzweiflung angenommen haben. Herzlichen Dank dafür.

(Beifall im Hause)

Meine Damen und Herren, „Es gibt gewisse Situationen, die so extrem sind, dass es einer außerordentlichen Anstrengung bedarf, um ihre Ungeheuerlichkeit zu begreifen, sofern man sie nicht miterlebt hat.“ Dieses Zitat von Walter Laqueur, einem aus Breslau nach Amerika geflüchteten Historiker, beschreibt, warum wir in dieser Stunde zusammengekommen sind.

Wir sind zusammengekommen, um über die Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nachzudenken und ihrer Opfer zu gedenken. Wir müssen uns außerordentlich anstrengen zu begreifen, was geschehen ist: Der 27. Januar ist nicht nur der erste Gedenktag in diesem Jahr, er ist auch der wichtigste.

Meine Damen und Herren, heute, nicht gestern, nicht morgen, sondern heute ist der Gedenktag. Heute vor 63 Jahren haben sowjetische Truppen, hat die „Rote Armee“ am Nachmittag das Konzentrationslager Auschwitz befreit.

Es musste ein Mann wie der damalige Bundespräsident Professor Dr. Roman Herzog sein, dem wir abnehmen

konnten, dass wir auch die „Rote Armee“ als Befreier verstehen müssen. Er hat es uns auch vorgelebt und diesen Gedenktag – leider ist es kein Feiertag – eingerichtet.

Kurz vor der Befreiung des Konzentrationslagers hatte die SS die Krematorien in die Luft gesprengt. Sie werden fragen, was dieser Satz soll. Er beweist, die Nationalsozialisten wussten sehr genau, was sie getan hatten und dass man ihnen diese Verbrechen vorwerfen würde. Wenn wir über Auschwitz reden, dann reden wir über 1,4 Millionen tote Menschen.

Wir müssten über viel mehr reden, wir müssten über diejenigen Menschen reden, die durch Sonderkommandos, also von Mensch zu Mensch, erschossen wurden, über das, was hinter dem Bug stattgefunden hat, einem Fluss, der heute zwischen Weißrussland und Polen liegt. Das haben Menschen Menschen angetan, während das Monströse an Auschwitz war, dass dort mehr als eine Million Menschen industriell ermordet wurden.

Ich bitte Sie, die Mitglieder des Landtags, die Landesregierung und unsere Gäste, sich zum Gedenken an die Opfer von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen)

Meine Damen und Herren, wir gedenken der 6 Millionen europäischen Juden, die die Nationalsozialisten ermordet haben.

Anderthalb Millionen dieser jüdischen Opfer waren unter 14 Jahren.

Wir haben uns erhoben, um an die Sinti und Roma zu denken,

an die Frauen und Männer des Widerstandes,

an die verfolgten Christen,

aber auch an die Opfer der Militärgerichtsbarkeit. Die deutsche Militärgerichtsbarkeit hat ca. 40.000 deutsche Soldaten zum Tode verurteilt, die Amerikaner, die den Krieg gewonnen haben, vier.

Wir denken an die Homosexuellen,

an die Behinderten,

an die vielen Kriegsgefangenen,

die politischen Häftlinge,

an die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter und

all die Opfer, die ihr Leben während dieser Gewaltherrschaft geben mussten.

Denken wir an die millionenfach durchkreuzten Lebenspläne, die zerstörten Wünsche und Träume, an das unendliche menschliche Leid.

Wir haben uns erhoben, um zu versprechen, dass wir alles Mögliche tun, damit dies nie wieder geschieht. Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

Meine Damen und Herren, ich darf Gäste im rheinlandpfälzischen Landtag begrüßen: Für die Jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz darf ich Frau Stella Schindler-Siegreich, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Mainz begrüßen, für die Sinti und Roma darf ich den Landesvorsitzenden des Verbands der Sinti und Roma, Herrn Jacques Delfeld, begrüßen. Für die Kirchen begrüße ich Monsignore Klaus Mayer, den früheren Pfarrer von St. Stephan, und Herrn Dr. Jochen Buchter, den Bevollmächtigten der Evangelischen Kirche in Rheinland-Pfalz.

Ich begrüße die Vertreterinnen und Vertreter von Institutionen, Vereinen und Initiativen im Land, die sich der Gedenkarbeit widmen. Meine Damen und Herren, wenn Sie nachher aus dem Saal herausgehen, werden Sie sehen, der Landtag hat eine kleine Broschüre aufgelegt, in der viele der Initiativen und Veranstaltungen zu sehen sind, die in diesem Land organisiert werden. Ganz besonders möchte ich zum Beispiel dem Bistum Mainz danken, das seit zehn Jahren in jedem Jahr mit einer Ausstellung und einem Gedenkgottesdienst an diesem Tag besonderer Personen oder Gruppen gedenkt, die der Gewalt nicht entrinnen konnten.

Meine Damen und Herren, heute verfügen wir über ein Gewaltenteilungsprinzip, über unverrückbare Artikel im Grundgesetz und eine föderale Struktur. Dazu gehört es auch, dass wir eine unabhängige Justiz haben. Ich freue mich, dass der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Herr Professor Dr. Karl Friedrich Mayer, bei uns ist.

Meine Damen und Herren, ich freue mich natürlich – das ist etwas ganz Besonderes –, ehemalige Mitglieder des Landtags begrüßen zu dürfen, besonders Frau Luise Herklotz aus Speyer. Sie war von Anfang an im Landtag vertreten. Ich kenne sie sehr gut. Liebe Luise, schön, dass Du gekommen bist, schön, dass Du mit angepackt hast, als es galt, dieses Land neu aufzubauen. Herzlichen willkommen, Luise Herklotz!

Ein herzliches Willkommen auch unserem ehemaligen Innenminister Heinz Schwarz. Seien Sie herzlich willkommen an dieser alten Wirkungsstätte, lieber Herr Schwarz, mit der Sie vieles verbindet. Wir danken Ihnen für das, was Sie in Ihrer Zeit für dieses Land geleistet haben.

(Beifall im Hause)

Meine Damen und Herren, damit unser Land RheinlandPfalz und die Bundesrepublik entstehen konnten, mussten neue Strukturen geschaffen werden. Aus diesem Grunde darf ich den französischen Generalkonsul, Herrn Dr. Henri Reynaud, begrüßen. Seine Vorvorgänger hatten erlaubt, dass 1948 – was nicht einfach war – in der französischen Zone die Rittersturzkonferenz stattfinden konnte. Von dieser Konferenz ist damals das Signal ausgegangen, dass die Bundesrepublik gegründet werden konnte. Seien Sie herzlich willkommen!

Ich freue mich, dass wir Herrn Professor Dr. Michael Kißener, den Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität, gewinnen konnten, heute mit uns auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage zu gehen, wie die nationalsozialistischen Verbrechen überhaupt möglich waren. Obwohl ich sicher bin, dass Sie der geeignete und richtige Mann für diese Aufgabe sind, werden wir nie eine endgültige Antwort erhalten, so schrecklich ist die Dimension. Seien Sie herzlich willkommen, Herr Professor Dr. Kißener!

Ich freue mich, dass Ministerpräsident Kurt Beck und die Mitglieder der Landesregierung insgesamt in dieser Gedenkstunde bei uns sind. Sie bringen damit zum Ausdruck, dass auch Sie diesem Tag eine ganz besondere Bedeutung beimessen.

Unter unseren Gästen ist auch die türkische Generalkonsulin. Frau Aydan Yamancan, seien Sie und Ihre Mitarbeiter ebenfalls herzlich willkommen!

An diesem schulfreien Sonntag sind Schülerinnen und Schüler der Elisabeth-von-Thüringen-Schule Mainz bei uns. Meine Damen und Herren, um sie geht es, stellvertretend. Ich las in der „Frankfurter Rundschau“, dass jüngere Menschen fänden, es werde zu viel Erinnerungsarbeit geleistet. Für sie sei die Zeit des sogenannten Dritten Reichs so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg.

Machen wir uns bewusst, wir können einen Anknüpfungspunkt mit Fremdenhass, Intoleranz und Ignoranz finden, das war der Humus, auf dem das entstanden ist, von dem wir heute reden und den es heute immer noch gibt. Dagegen muss man aktiv als Demokrat, als Schüler und als Mensch kämpfen. Nur so ist das Versprechen des „Nie wieder“ einzulösen.

Wir wissen, dass der Staat Israel in diesem Jahr 60 Jahre alt wird. Der Landtag von Rheinland-Pfalz nimmt dies zum Anlass für einen Austausch zwischen deutschen und israelischen Schülerinnen, aber auch palästinensischen Schülerinnen. Gemeinsam mit der Landesregierung wollen wir das organisieren. Wir werden Veranstaltungen durchführen und bleiben uns der besonderen Verantwortung für Israel bewusst, die wir auch an diesem 27. Januar nicht vergessen.

Ich bedanke mich.

(Beifall im Hause)

A la Marcia

Musik: Viktor Ullmann, Klaviersolo aus Sonate VII