Protokoll der Sitzung vom 27.01.2008

Musik: Viktor Ullmann, Klaviersolo aus Sonate VII

Herbst

Musik: Viktor Ullmann Text: Gedicht von Georg Trakl

Vortrag Auf der Suche nach Antwort. Historische Deutung der nationalsozialistischen Verfolgungsverbrechen

Professor Dr. Michael Kißener, Mainz:

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Ministerinnen und Minister, verehrte Abgeordnete des rheinland-pfälzischen Landtags, meine sehr geehrten Damen und Herren!

„Dieses Buch handelt davon, was geschah, als Teile der deutschen Eliten und Massen deutscher Normalbürger sich dafür entschieden, das kritische Denken einzustellen und sich stattdessen mit Haut und Haar einer Politik zu verschreiben, die auf Glaube, Hoffnung, Hass und einem sentimentalen Kollektivstolz auf die eigene Rasse und Nationalität basierte …“

„Das Buch befasst sich mit dem fortschreitenden, zuletzt fast totalen moralischen Bankrott einer hochmodernen Industriegesellschaft im Herzen Europas, deren Mitglieder sich in großer Zahl der Mühe eigenen Nachdenkens entledigten …“

Mit diesen Sätzen hat der britische Historiker Michael Burleigh seine im Jahr 2000 erschienene große Darstellung über das Dritte Reich eingeleitet.

Ich meine, deutlicher lässt sich das Rätsel kaum benennen, das die nationalsozialistische Vernichtungspolitik bis heute dem Historiker aufgibt, schonungsloser lässt sich kaum bekennen, wie schwer dem Historiker angesichts der Dimensionen des Verbrechens auch über 60 Jahre danach eine rationale Erklärung für dieses historische Geschehen fällt.

Anders als der Zeitzeuge, der uns aus seiner sehr persönlichen Sicht und so authentisch, wie es nur ein Miterlebender kann, die vergangene Wirklichkeit wenigstens für einen Augenblick wieder fühlbar macht, suchen Historiker seit über 60 Jahren nach Erklärungen, versuchen Ursachen, Motive und Wirkfaktoren zu bestimmen, um zu verstehen, warum es so kam, wie es kam. Und doch hat noch jede Theorie, jede Erklärung einen Rest von Unerklärbarkeit zurückgelassen, bleibt bis heute, wie der deutsch-israelische Historiker Dan Diner sagt, ein „Niemandsland des Verstehens“ übrig.

Meine Damen und Herren, von dieser Suche nach Erklärungen und den dabei gefundenen Antworten möchte ich Ihnen im Folgenden berichten. Was ich Ihnen vorstellen werde, erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit – dazu wäre weit mehr Zeit nötig. Aber es wird vielleicht doch eine Vorstellung von den enormen Anstrengungen vermitteln, die auf diesem Gebiet bis heute erfolgen und verständlich werden lassen, warum es so schwierig ist, zu erklären, was am Ende sich doch immer wieder dem Verstehen gründlich entzieht.

Schon während der NS-Herrschaft selbst wie unmittelbar danach in der Besatzungszeit sind erste Anläufe unternommen und Theorien entwickelt worden, das Dritte

Reich und seine Verbrechen zu erklären, sie gleichsam irgendwie in den historischen Kontext einzuordnen. Die Faschismustheorie, die Totalitarismustheorie, aber auch langfristig prägende Kontinuitätstheorien entstanden schon in dieser Zeit.

Hier bei uns in der französischen Besatzungszone zum Beispiel erlangte die von französischer Seite mit großem Nachdruck vertretene Auffassung erhebliche Bedeutung, ein rund 200 Jahre alter preußischer Militarismus und ein deutscher Untertanengeist seien die eigentliche Ursache der Entgleisungen der nationalsozialistischen Zeit. Die historische Sonderentwicklung, die Deutschland in diesem Sinne von der zivilisierten Welt getrennt habe, müsse daher rückgängig gemacht und die Deutschen durch Entnazifizierung und Umerziehung auf den Pfad der westeuropäischen Humanität zurückgeführt werden.

Natürlich waren solche „Analysen“ trotz vielleicht manch Bedenkenswertem reichlich grob, von politischen Vorannahmen ebenso wie von politischen Nebenabsichten geleitet, aber sie lenkten doch schon den Blick auf lange Traditionslinien, die hinter den nationalsozialistischen Verbrechen stehen.

Solche langfristigen Vorprägungen zu erforschen, ist bis heute ein Zweig der historischen NS-Forschung bemüht. Der Befund dieser Forschungen ist eindeutig: Praktisch nichts von dem, was zu den bekannten Untaten und Verbrechen des Nationalsozialismus zu rechnen ist, war 1933 voraussetzungslos, gleichsam von den Nationalsozialisten völlig neu erfunden.

Die Sterilisationen an geistig und körperlich behinderten Menschen, die am Anfang stehen, dann die Mordaktionen an ihnen, verharmlosend als „Euthanasie“ im Dritten Reich bezeichnet, hatten eine Basis im sozialdarwinistischen und biologistischen Denken des 19. Jahrhunderts, in der von Medizinern propagierten aktiven „Eugenik“, die die Heranbildung eines starken konkurrenzfähigen – wie man damals sagte –, „erbgesunden“ Volkes anstrebte.

Tabus waren längst gebrochen, das zuvor nie Gedachte war schon formuliert, als 1920 der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche in ihrem Buch mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ jene radikalen Schlussfolgerungen zogen, die sich auch die Nationalsozialisten dann zu eigen machten. Ökonomische Berechnungen, die aufzeigen sollten, welch angeblich ungeheure Summen der Staat bislang für ohnehin unheilbar Kranke verschwende, statt sie in die Bildung gesunder Kinder zu investieren, waren dann nur noch der Schlussstein in einer immer radikaler werdenden Entwicklung kalten, angeblich naturwissenschaftlichen Denkens.

Sogar in einem in Neuwied erschienen „Hausbuch für die deutsche Familie“ verglich schließlich ein Professor Hermann Boehm den treu sorgenden Anstaltsarzt mit einem unfähigen Gärtner, der – ich zitiere – „auf seinem Beet das Unkraut mit hingebender Liebe pflegt und die Edelpflanzen verkommen lässt, weil diese nach seiner Ansicht sich selbst versorgen müssen.“ Verharmlosende Metaphern für eine brutale Tötungsabsicht.

Ganz ähnlich lagen die Verhältnisse bei der Verfolgung der Sinti und Roma. Seit Jahrhunderten schon galten die im 15. Jahrhundert ins Reich eingewanderten Sinti als verachtenswerte sogenannte „Zigeuner“, umherziehende Gauner, eben „Zieh-Gauner“, denen man Spionagetätigkeit für die Türken vorwarf. Selbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die Verfolgungen nachließen, wurde ihnen keine Niederlassungsfreiheit gewährt, weil sich mit dem Spionagevorwurf ein religiöser Vorwurf verbunden hatte: Diese Menschen, so meinte man, zögen von Gott gestraft umher, weil sie, so nur eine der verschiedenen Vorurteilsvarianten, die Nägel geschmiedet hätten, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen worden sei.

Schlimmer aber lastete noch ein Urteil auf ihnen, das ein Aufklärer, Heinrich Moritz Grellmann, formuliert hatte, der in seinem Buch über die „Zigeuner“ dieser angeblich orientalischen Rasse angeborene Eigenschaften wie Faulheit, Unreinlichkeit, einen Hang zum Diebstahl und sexuelle Überaktivität zuschrieb, die grundsätzlich nicht veränderbar seien.

Auch hier war also schon der Boden bereitet, waren Vorurteilsstrukturen tief in der Bevölkerung verwurzelt, als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen und am Ende im Konzentrationslager AuschwitzBirkenau eigene, wie sie es nannten, „Zigeunerlager“ einrichteten, in denen grausame medizinische Experimente an diesen Menschen durchgeführt wurden.

In besonderer Weise galten diese langfristig geprägten Vorurteilsstrukturen für die größte Opfergruppe im Nationalsozialismus, die Juden. Die jahrhundertealte christliche Stigmatisierung der Juden als „Mörder Jesu“, präzise wohl als „christlicher Antijudaismus“ zu bezeichnen, hat im Unterschied zum rassistisch begründeten Antisemitismus des 19. Jahrhunderts ganz andere Wurzeln. Insofern führt keine direkte Linie von den Judenpogromen im Prag des 14. Jahrhunderts zur Rampe von Auschwitz. Aber dieser christliche Antijudaismus machte es dem modernen Antisemitismus, der im Deutschland des 19. Jahrhunderts Teil der mächtigen nationalen Bewegung wurde, natürlich viel leichter, in den Köpfen vieler Menschen einen Platz zu finden.

Wie weitgehend und konkret das war, zeigt ein ziemlich banales, aber, wie ich meine, aufschlussreiches Beispiel: In der Weimarer Republik war es gang und gäbe, dass die auch heute noch als Urlaubsziele so beliebten deutschen Nord- und Ostseebäder in den Zeitungen um die Gunst der Touristen warben, indem sie ihre Strände als „judenfrei“ anpriesen. Auf Borkum intonierte die Kurkapelle zum Beispiel täglich das so beliebte gleichermaßen nationalistische wie antisemitische Borkumlied – ich zitiere –:

„Es herrscht im grünen Inselland ein echter deutscher Sinn, drum alle, die uns stammverwandt, ziehn freudig zu dir hin. An Borkums Strand nur Deutschtum gilt, nur deutsch ist das Panier. Wir halten rein den Ehrenschild Germanias für und für!“

Auf dieses übereifrige nationalistische Selbstlob folgten dann zügellose antisemitische Verunglimpfungen und altbekannte antijüdische Vorurteile, bis das Publikum

schließlich einstimmen konnte in den dreimaligen Ausruf, die Juden müssten „hinaus, hinaus, hinaus“.

Eine lange Geschichte von Diffamierungen und gesellschaftlichen Vorurteilen, wie ich sie für die geistig und körperlich Behinderten, für die Sinti und Roma und für die Juden nur angedeutet habe, ließe sich unschwer auch für andere Opfergruppen nachzeichnen: für die Homosexuellen, für die Zeugen Jehovas, für die sogenannten „Asozialen“ und natürlich auch für die dann als Zwangsarbeiter so geschundenen Polen und Russen, denn auch der Antislawismus hatte ältere rassistische Wurzeln.

Meine Damen und Herren, das erklärt schon viel, allerdings gab es solche negativen „kulturellen“ Traditionen ja auch in anderen europäischen Ländern. Antisemitismus, Antiziganismus, Antislawismus waren kein ausschließlich deutsches Phänomen. Der jüdische deutschamerikanische Historiker George L. Mosse hat sogar einmal recht provokant formuliert: „Wenn man... Leuten im Jahre 1914 erzählt hätte, dass innerhalb einer Generation die meisten europäischen Juden ermordet sein würden, wäre ihre Antwort höchstwahrscheinlich gewesen: Die Franzosen sind zu jedem Verbrechen fähig. Man könnte sich auch vorstellen, dass die Leute die Russen, die Polen oder die Österreicher verdächtigt hätten. Die Deutschen wären ihnen wohl zuletzt eingefallen.“

Langfristige Vorprägungen und Traditionen helfen uns also zu verstehen, sie erklären uns aber den besonders einzigartigen deutschen Fall noch nicht hinlänglich. Neuerdings rücken Historiker deshalb wieder den Ersten Weltkrieg als das Urerlebnis der Menschen des 20. Jahrhunderts verstärkt in das Blickfeld der Erklärungssuche, und das gleich in mehrfacher Hinsicht.

Allzu lange haben wir die enthemmenden und entmenschlichenden Folgen dieses ersten „totalen Krieges“ unterschätzt. Die vollständige „Vernichtung“ des Gegners entfaltete in diesem Krieg als militärisches Ziel erstmals volle Wirkung. Das tägliche tausendfache Sterben hat den Wert des einzelnen Lebens in den Augen vieler Zeitgenossen, übrigens gerade auch vieler Ärzte, beträchtlich sinken lassen.

Das spielte sich dann in einer enorm gestiegenen Gewaltbereitschaft auch der Weimarer Jahre wieder. Straßenschlachten, Saalschlachten, Putschversuche und dergleichen mehr waren insbesondere zu Beginn und zum Ende der Republik hin ja geradezu an der Tagesordnung. Obwohl jeder sehen und erfahren konnte, dass und wie rücksichtslos Nationalsozialisten und SA-Leute prügelten und mordeten, wurde die NSDAP gewählt.

Das mag, wie manche Historiker meinen, auch damit etwas zu tun haben, dass in vielen Menschen in dieser als Chaos empfundenen Gegenwart die Sehnsucht nach einer kraftvollen, gleichsam charismatischen Führergestalt geboren wurde, die viele dann in Adolf Hitler sehen wollten. Charismatischen Führern folgen Menschen gleichsam „instinktiv“, auf sie werden Hoffnungen projiziert, ihnen versucht man gleichsam „entgegenzuarbeiten“, ihre politischen Ziele umzusetzen, ohne dass es dazu eigener Aufforderungen oder Befehle bedürfte.

Erklärt uns das am Ende auch den Übergang von verbreiteten und tradierten Vorurteilsstrukturen und einer diskriminierenden Alltagspraxis der Vielen zur Mordpraxis einer spezifischen Gruppe von direkten Tätern? Übertrafen sich die dem charismatischen „Führer“ ergebenen Handlanger in den Verwaltungen, Stäben und vor Ort am Ende immer mehr in ihrer Radikalität, um ihrem „Führer“ „entgegenzuarbeiten“, einem „Führer“, der die Vernichtung von Millionen von Menschen dann gar nicht mehr selbst zu befehlen brauchte?

Diese „kumulative Radikalisierung“ mag dann umso leichter gefallen sein, als der ganze Prozess der Vernichtung von Millionen von Menschen, wie wir schon seit langem wissen, ganz arbeitsteilig organisiert wurde, mithin keiner sich für das große Verbrechen persönlich verantwortlich fühlen musste, sondern eben nur jeder an seinem Ort seine vermeintliche Pflicht dem „Führer“ gegenüber erfüllte, wie so oft gesagt wurde.

Oder, meine Damen und Herren, sollte man vielleicht gar nicht so abgehoben psychologisch argumentieren und vielmehr in das Blickfeld rücken, dass brutale wirtschaftliche Ausbeutungssinteressen die Kriegsführung und Vernichtungsmaschinerie im Osten begleiteten und das Handeln der Verantwortlichen leiteten, die davon auch persönlich profitierten, wie neuerdings, auf ältere Thesen zurückgreifend, auch wieder betont wird?

Die jüngste Täterforschung sieht noch einen ganz anderen Zusammenhang, der wiederum in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurückverweist. Der Krieg, der als Schmach und Schande empfundene Versailler Friede und die so glücklose Republik brachten unter anderem auch eine junge, tatbereite nationalistische Rechte hervor, die das „deutsche Volkstum“ als Gegenbegriff zum „Versailler System“ auf der anderen Seite überhöhte.

Der in Ludwigshafen geborene Lehrersohn Edgar Jung, einer der Hintermänner des Mordes an dem Separatistenführer Heinz in Speyer 1924, war ein solcher Vertreter dieser extremen Rechten, die die Nationalsozialisten nutzen wollten, um ihre Massenbasis in der ungeliebten Republik zu deren Sturz zu verbreitern. Während Jung am Ende dann aber doch von dem Pöbelhaften der Bewegung abgestoßen und 1934 im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches ermordet wurde, fügten sich andere, wie der Gründer des deutschnationalen Jugendbundes in Mainz, Werner Best, in den NS-Staat ein, machten Karriere im Reichssicherheitshauptamt und exekutierten am Ende auch das Vernichtungsprogramm.

Wir sind auf diese Gruppe von Mittätern erst aufmerksam geworden, als sich in den 1990er-Jahren auch in Osteuropa die Archive öffneten und Forschungen zur Realität der deutschen Besatzungsherrschaft im Osten möglich wurden. Dabei wurde schlagartig deutlich, dass es nicht primitive Sadisten waren, die an verantwortlichen Stellen des militärischen und zivilen Verwaltungsapparates saßen, sondern überwiegend Männer aus bürgerlichen Kreisen mit einer Sozialisation in soldatischen und extrem nationalen Kampfverbänden der Zeit um 1918/19, die auch später noch ihr Tun als nationale Pflichterfüllung in Zeiten des Krieges rechtfertigten.

Meine Damen und Herren, spätestens hier wird allerdings auch deutlich, dass alles dies wohl kaum aus sich selbst heraus Wirkung entfalten konnte, dass es vielmehr auch einer initiativen, mächtigen Kraft bedurfte, um diesen Potentialen praktische Konsequenzen folgen zu lassen.

Damit stoßen wir zur unter Historikern der schon so lange diskutierten Frage entgegen, wie denn das Wesen, wie die Antriebskräfte des nationalsozialistischen Staates zu erfassen wären. Dabei ist eines sicher: Der Nationalsozialismus hat sich zu keinem Zeitpunkt als eine von vielen politischen Alternativen seiner Zeit verstanden. Er zielte im Grunde auf die Schaffung eines neuen Menschen, dabei allerdings nicht nur auf die Erneuerung des menschlichen Denkens, sondern auch auf einen Menschen mit neuer Physis.

Ein Deutschland-Bericht der illegalen, emigrierten Sozialdemokratischen Partei beschrieb das politische System des Hitlerstaates schon im April 1937 – wie ich finde – sehr treffend: „Weltanschauung im nationalsozialistischen Sinne hat schlechterdings nichts mit Weltanschauung im landläufigen Sinne zu tun, sondern ist im Vollsinne Religion als den Menschen ganz ergreifende und durchformende Verkündigung mit Unbedingtheitsanspruch im Endlichen … Die nationalsozialistische Weltanschauung ist in Wahrheit politische Religion darin, dass sie Fanatismus entzündet und über alles Maß der politischen Forderung auf willige Gefolgschaft hinaus gegen alle ‚Andersgläubigen’ unduldsam ist. Der heutige Staat als Träger dieser politischen Religion ist also in Wahrheit gleichsam ein Kirchenstaat, das heißt ein Staat, zutiefst gebunden und verpflichtet einer politischen Religion“.

Das politische Ziel dieses Staates bestand zum einen in der Schaffung einer mystisch überhöhten reinen „Volksgemeinschaft“, mit der ein als sicher angenommener Konkurrenzkampf um die knappen Ressourcen der Welt gewonnen werden sollte. „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“, lautete eine viel zitierte Maxime dieser Zeit. Hitler sprach von der Volksgemeinschaft als einer Art Heiligtum: „Stände vergehen, Klassen ändern sich, Menschenschicksale wandeln sich, etwas bleibt und muss uns bleiben: Das Volk an sich als Substanz von Fleisch und Blut“.

Die Teilhabe an dieser Volksgemeinschaft verlangte einerseits die rassistisch definierte Geeignetheit und andererseits das gläubige, freudige, aktive Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Loyalität alleine konnte nicht genügen, Passivität galt bereits als Vergehen: Einsatz, Engagement, ja Hingebung waren gefordert. Das war ein wahrhaft totalitärer Gesellschaftsansatz, dessen Radikalität auf die Ausgegrenzten mit aller Härte durchschlagen musste.

Mehr noch: Mit dem Aufbau der Volksgemeinschaft verband sich als negatives Ziel die Abwehr einer angeblichen Bedrohung apokalyptischen Ausmaßes. Schon in „Mein Kampf“ hatte Hitler unzweideutig klargestellt, worin er seine Mission letztlich sah: „Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wie

der wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen … So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ Was Hitler hier vorgedacht hatte, dem fühlten sich seine Paladine zutiefst verpflichtet und trachteten danach, es der „Volksgemeinschaft“ als Richtschnur des Handelns regelrecht „einzuimpfen“.

Als Hitler im Juni 1941 den Angriff auf die Sowjetunion befahl und er damit im eigentlichen Wortsinne seinen ureigensten, immer angestrebten Krieg begann, da erklärte Hermann Göring der Welt ganz offen, welcher Art dieser Krieg nun sein würde: „Dieser Krieg“, so führte er aus, „ist nicht der zweite Weltkrieg. Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg. Ob hier der Germane und Arier steht oder ob der Jude die Welt beherrscht, darum geht es letzten Endes, und darum kämpfen wir draußen.“

Die totalitäre, religiös überhöhte Volksgemeinschaftsideologie und der apokalyptische, fanatische „Erlösungsantisemitismus“, wie ihn der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2007, Saul Friedländer, genannt hat, beschreiben, wie ich meine, den Kern der sogenannten nationalsozialistischen Weltanschauung und lassen das kriminelle Potenzial erahnen, das davon ausging, ein Potenzial, das in einer Gesellschaft wie der deutschen, in der tradierte Vorurteilsstrukturen existierten und die zutiefst von dem verlorenen Ersten Weltkrieg geprägt war, Wirkung entfalten konnte.

Meine Damen und Herren. aber reicht das auch aus, um zu erklären, warum die große Mehrheit der ganz normalen Bevölkerung so apathisch und still blieb gegenüber dem Unrecht, gerade wenn man jüngsten Forschungen nach davon ausgehen muss, dass die deutsche Bevölkerung in ihrer Mehrheit keineswegs die aggressive Judenverfolgung guthieß?

Reicht das aus, um zu erklären, warum sich Ärzte und Krankenschwestern nicht rührten, als sie das menschliche Leid sahen, das den Euthanasieopfern zugefügt wurde, warum Kirchen, Soldaten, Richter, Bürger nicht laut aufschrien, als die Juden für jeden sichtbar abgeholt wurden und sich die Gerüchte über die Konzentrationslager verbreiteten, warum Bauern, Werksleiter, Meister nicht einschritten, als die Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern so erbärmlich und menschenunwürdig behandelt wurden?