Protokoll der Sitzung vom 23.09.2015

(Hans-Josef Bracht, CDU: Das Asylrecht aufheben oder was?)

Und damit hätten die Menschen eine Klarheit, und sie müssten nicht über einen Weg flüchten, von dem sie inzwischen längst begriffen haben, dass das nicht der Weg ist, um hier Arbeit finden zu können.

Klarheit und Wahrheit: Das ist auch hier wichtig; denn was wir jetzt neu regeln, das muss Bestand haben, und deshalb wird es nicht nur reichen, vorhandene Regelungen zusammenzufassen und diesen eine neue Überschrift zu geben, sondern wir müssen tatsächlich überlegen, welche Regelungen dann auch Substanz haben.

(Hans-Josef Bracht, CDU: Das ändert doch nichts am Asylrecht!)

Meine lieben Kollegen und meine lieben Kolleginnen, letztlich ist und bleibt die Bewältigung der Flüchtlingsfrage eine europäische Frage. Als überzeugte Europäerin muss ich dieses Thema auch noch ansprechen. Was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, das war mir persönlich peinlich und außerordentlich beschämend. Es war Blockadepolitik statt Solidarität, und es war auch sehr chaotisch. Sind wir in Europa wirklich so weit gekommen, dass alle nur noch überlegen, wie sie schwierige Themen möglichst von sich fernhalten können?

Wir erleben gerade, wie schnell es dann geht, dass selbst Kernelemente unseres europäischen Zusammenwachsens infrage stehen. Ich spreche vom SchengenAbkommen. Dieses Schengen-Abkommen ist eine zentrale Errungenschaft der Europäischen Union, besonders für die Grenzregion Rheinland-Pfalz. Wir alle leben in diesen Grenzregionen, und wir kennen es noch aus eigener Erfahrung, als es eben nicht so war.

Auch wenn ich der Entscheidung, vorübergehend im Süden wieder Grenzkontrollen durchzuführen, zugestimmt habe, so muss doch klar sein, dass sie nur vorübergehend sein können. Und so war es gestern fast schon tröstlich, als die Innenminister, der Innenministerrat auf der europäischen Ebene, endlich, wenn auch nur mit einem Mehrheitsbeschluss, zu einer Regelung bezogen auf die Verteilung der 120.000 Flüchtlinge gekommen ist – unter dem Vorsitz unseres Freundes, des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn, der auch einen anderen Begriff von Europa hat, den ich wirklich vollumfänglich teile.

Heute erst, in diesen Stunden, treffen sich in Brüssel die Staats- und Regierungschefs. Nach politisch verlorenen Wochen, aus meiner Sicht.

Von dem Brüsseler Gipfel heute erwarte ich, dass Europa endlich aufwacht, das heißt zum einen, dass in dieser Ausnahmesituation die Transitländer von Deutschland nicht alleine gelassen werden dürfen. Die EU muss außerdem eine Westbalkanstrategie auflegen. Entwicklungschancen für diese Staaten und ihre junge Bevölkerung sind für die Zukunft Europas von allergrößter Wichtigkeit. Wenn das nicht gelingt, bleibt der Migrationsdruck aus diesen Ländern dauerhaft hoch.

Ich halte es auch für dringend geboten, dass Deutschland und die europäischen Partner den nahe Syrien gelegenen größten Flüchtlingscamps eine Soforthilfe – zum Beispiel sind über 1,5 Milliarden Euro vorgeschlagen worden – zur Verfügung stellen und die Vereinten Nationen ihren Einsatz verstärken. Die bevorstehende UN-Generalversammlung wird dafür hoffentlich neue Impulse geben.

Ja, wir müssen auch dort endlich hinsehen und endlich handeln, statt die Augen zu verschließen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage es auch den Rheinland-Pfälzern und RheinlandPfälzerinnen so drastisch und so ganz und gar ehrlich

gemeint, gerade spüren wir so ganz konkret mit diesen Flüchtlingswellen, die wir erleben, dass sich die Zukunft von Europa auch außerhalb von Europa entscheidet. Willy Brandt nannte es Weltinnenpolitik, eine Politik, die weit über nationale, in diesem Fall europäische Grenzen hinausgeht.

Hier in Rheinland-Pfalz, in einer Region vieler gefallener Grenzen, erleben wir tagtäglich, wie sehr uns das geeinte Europa bereichert. Aus wirtschaftlichen Gründen ganz wortwörtlich, aber immer zugleich, weil wir die gemeinsame Wertebasis spüren. Die europäische Idee ermöglicht uns Wohlstand, Freiheit, Vielfalt und Sicherheit und auch große Solidarität.

Ich bin hier ganz klar: Keiner in Europa ist nur für sich alleine da. Wir sind eine Solidargemeinschaft. Wenn diese Gemeinschaft bei der Fluchtaufnahme nicht funktioniert, dann wird sie zunehmend auch nicht mehr bei der solidarischen Umverteilung von Agrargeldern oder aus dem Strukturfonds funktionieren können. Der Präsident der Europäischen Kommission hat recht. Es gibt hier zu wenig Europa und zu wenig Union.

Ich bin fest davon überzeugt, auch wenn wir nur ein ganz kleines Rädchen in diesem Geschehen sind, es ist auch immer wieder unsere Pflicht, deutlich zu machen, dass gerade dieses Rheinland-Pfalz zu Europa steht, von Europa lebt und Europa im solidarischen Sinne empfindet, und dafür auch eintritt, auf allen Ebenen, auf denen wir das können. Das tue ich auch.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kollegen und liebe Kolleginnen, wir sollten uns keine Illusionen machen über die Größe der Herausforderung. Es wird auch Rückschläge geben, und nicht jede Anstrengung ist bei allen populär. Aber wir können aus eigener Erfahrung sagen, es lohnt sich für alle, weltoffen zu sein. Solidarität und Perspektive gehören zusammen.

Wir praktizieren Solidarität und arbeiten zugleich an neuen Perspektiven für unser Land.

Ich habe Ihnen heute die Werte, entlang derer wir handeln, und die konkreten Maßnahmen dargelegt. Rheinland-Pfalz zeigt angesichts dieser Herausforderungen Kraft und Haltung. Rheinland-Pfalz hat schnell gehandelt und stellt die Chancen von Integration in den Mittelpunkt.

Rheinland-Pfalz verfolgt dabei ein Konzept, das die Belange aller Bürger und Bürgerinnen sieht und unsere gemeinsamen Regeln durchsetzt, und Rheinland-Pfalz fordert vom Bund und von der EU, dass nun endlich auch sie entschlossen anpacken, wo das bisher fehlte. Von den Gipfeltreffen heute in Brüssel und morgen in Berlin erwarten wir konkrete Lösungen.

Wir sind stark gefordert, aber wir sind nicht überfordert, weil wir engagiert zusammenarbeiten und uns in Solidarität mit der Bevölkerung sehen.

Weil es eine außergewöhnliche Situation ist, möchte ich auch noch zwei, drei Sätze an unsere Bürger und Bürge

rinnen richten, auch hier im Parlament.

Wir alle erleben in diesen Tagen, dass so viele Menschen vor Krieg und Verfolgung zu uns flüchten wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Behörden des Landes tun alles Menschenmögliche, um der organisatorischen Herausforderung für Unterkunft, Verpflegung und Betreuung gerecht zu werden und Sicherheit zu gewährleisten.

Wir werden dabei nur erfolgreich sein, wenn alle mithelfen, wenn auch Sie in Ihrem persönlichen Umfeld für Offenheit werben und Offenheit und Solidarität in den Vereinen und Verbänden, in der Nachbarschaft und sehr persönlich praktizieren und wir alle klar widersprechen, wo immer sich Ressentiments oder gar Hass zeigen.

Die Landesregierung steht dafür, immer die gesamte Gesellschaft im Blick zu behalten. Alle Menschen mit geringem Einkommen, Menschen, die Zugang zum Arbeitsmarkt suchen, und die Benachteiligten brauchen unsere Hilfe, und das Land steht für diese Hilfe ein. Solidarität für Menschen in Not ist nun einmal unteilbar.

Genau deshalb lassen wir es nicht zu, dass die eine Gruppe gegen eine andere Gruppe ausgespielt wird.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir stehen bei der Aufnahme von Flüchtlingen jetzt vor einem Thema, das uns auf Jahre beschäftigen wird. Viele derer, die kommen, werden bleiben. Wir können sie gut brauchen, aber das geht nur gut, wenn neben der Erstversorgung von Beginn an der Weg zur Integration geöffnet wird, zu dem immer beide Seiten beitragen müssen.

Das ist ein Weg, der klare Regeln braucht, für deren Einhaltung wir sorgen werden, ein Weg der Verlässlichkeit und der neuen Möglichkeiten, vor allem aber ein Weg der humanitären Verantwortung im besten Sinne der Nächstenliebe.

Wir werden weiter mit allem Nachdruck an einer Verbesserung der Lebensverhältnisse für alle Menschen in unserem Land arbeiten; denn Solidarität wird umso besser gelingen, wenn unsere Gesellschaft als Ganzes stark bleibt und die europäische Idee sich gerade jetzt bewährt.

Ich hoffe sehr, dass das gelingt. Das ist unser Weg. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen und lassen Sie uns dabei die Geschichte unseres eigenen Landes im Gedächtnis behalten, eine Geschichte, die immer wieder auch schwierig war, vor allem am Anfang nach Faschismus, Krieg und Zerstörung, eine Geschichte aber auch, die zur Erfolgsgeschichte wurde, weil wir dazugelernt haben, weltoffen wurden und zusammen angepackt haben.

Ich danke Ihnen.

(Anhaltend starker Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, begrüße ich als Gäste auf der

Zuschauertribüne den VDK-Ortsverband Hamm, den Jugendstadtrat Speyer sowie den Integrationskurs Deutsch des Internationelen Bundes (IB) Frankenthal. Seien Sie herzlich willkommen im Landtag!

(Beifall im Hause)

Für die CDU-Fraktion spricht Frau Kollegin Klöckner.

Die Redezeit hat sich verlängert, da Frau Ministerpräsidentin Dreyer 50 Minuten gesprochen hat. Dann haben Sie die 1,5-fache Redezeit. Für die anderen Fraktionen verlängert sich die Redezeit selbstverständlich auch, so wie es in der Geschäftsordnung steht.

Frau Ministerpräsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Präsidentin! Europa und die Welt sind in bewegten Zeiten. Dadurch ist auch Rheinland-Pfalz in bewegten Zeiten.

Syrien geht in einem brutalen Bürgerkrieg unter, in Libyen Vernichtung und Krieg, in der Türkei brechen Konflikte mit Kurdengruppen wieder auf, der Irak ist extrem instabil, der Libanon, die Türkei und Jordanien versuchen, Millionen Flüchtlingen eine Zuflucht zu bieten. Sie sind am Limit.

Selten hat eine Kampagne der Caritas so gut gepasst wie der Satz: Weit weg ist näher, als du denkst. – Die weltweite Lage hat Auswirkungen auf Europa. Ob es dazu gemeinsam bereit ist, unser Europa, oder nicht, viele Menschen klopfen an unsere Tür, Menschen, die dem Tod entronnen sind.

Sie bringen unzählige Schicksale und Tragödien mit. Ich bin mir sicher, jeder, egal aus welcher Fraktion, hat bei all seinen Besuchen direkt vor Ort, bei seinen Kontakten mit Flüchtlingen und den vielen Helferinnen und Helfern jeweils eine eigene individuelle Geschichte erfahren. Deshalb sind Flüchtlinge nicht eine homogene Gruppe, es sind alles Individuen. Sie bringen unzählige Schicksale und Tragödien mit, ertrinkende Familien im Mittelmeer, völlig erschöpfte Menschen auf der Balkanroute, Schlepper, die die Not ausnutzen, schlimme hygienische Verhältnisse, Ausnahmezustände inmitten auch Europas.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtling, das könnte jeder von uns sein, wenn wir nicht hier geboren wären oder nicht hier leben würden. Flüchtlinge, das sind Menschen, und die Herkunft ist kein Verdienst, allenfalls Zufall.

Wer seine Heimat verlassen muss, weil er verfolgt wird, seine Meinung nicht sagen darf, weil er sich politisch anders positioniert, weil er einen anderen Glauben hat als den, der den Machthabern entspricht, oder gar keinen Glauben hat, wer vor Krieg und Zerstörung flieht, der braucht Schutz und Hilfe. Recht auf Asyl ist und bleibt ein Menschenrecht. Das betone ich als Christdemokratin.

(Beifall der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist es eine Frage des Anstands, eine Frage des Menschenbildes, dass wir mit jedem, der zu uns kommt, ganz gleich, ob er eine

Bleibeperspektive hat oder keine, ordentlich umgehen, so wie wir mit jedem Menschen umgehen, einfach, weil er ein Mensch ist.

(Beifall der CDU)