Protokoll der Sitzung vom 22.03.2012

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich begrüße Gäste im Landtag. Es ist die 11. Klasse der Ketteler-Schule in Mainz zu Gast. Herzlich willkommen!

(Beifall im Hause)

Für die Landesregierung spricht Frau Staatssekretärin Kraege.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Dr. Enders, zunächst etwas zur Klarstellung: Soweit ich weiß, war bis 2009 Ulla Schmidt Bundesgesundheitsministerin. Unter Bundesgesundheitsminister Bahr, der der FDP angehört, ist meines Wissens in dieser Legislaturperiode erst ein GKV-Reformgesetz verabschiedet worden. Das bringt zusätzliche finanzielle Belastungen für die Kassen, die derzeit noch nicht bezifferbar sind. Dies nur deshalb, weil Sie eingangs darauf hingewiesen haben, dass die jetzige, finanziell vorteilhafte Situation der Kassen ein Erfolg der schwarz-gelben Bundesregierung wäre.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich meine, es ist wichtig, dass die Debatte, die im Bund seit Dezember vergangenen Jahres geführt wird, auch in diesem Haus geführt wird. Deshalb bedanke ich mich ausdrücklich bei der SPD-Fraktion für die Beantragung der Aktuellen Stunde.

Bei den Debattenbeiträgen, die wir gehört haben, aber auch bei denen, die wir in der Zeitung in der Vergangenheit verfolgen konnten, sind drei Dinge vielleicht ein bisschen in den Hintergrund getreten, die ich gerne zu Beginn einführen möchte.

Erstens ist das Geld bei den Krankenkassen, über das wir sprechen, das Geld der Versicherten und der Arbeitgeber, wobei die Versicherten, die bei den Beiträgen zu 0,9 Prozentpunkten stärker belastet sind, daran sicherlich einen höheren Anteil haben.

Zweitens ist die wirtschaftliche Situation der 146 Krankenkassen in Deutschland sehr unterschiedlich. Wir haben gesunde, wir haben kränkelnde, aber wir haben auch kranke Krankenkassen in Deutschland.

Drittens muss jeder, der laut über eine Senkung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfonds nachdenkt, gleichzeitig auch Auskunft darüber geben, welche sogenannten versicherungsfremden Leistungen er einschränken oder abschaffen will; denn zur Absicherung dieser Leistungen dient der Bundeszuschuss. Der Bundeszuschuss stellt keine staatliche Alimentierung der Gesetzlichen Krankenversicherung dar, sondern er ist der Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen, die die Gesetzlichen Krankenkassen im Auftrag der Gesellschaft bzw. des Staats erbringen. Das sind beispielsweise die Beitragsfreiheit der Kinder, die Beitragsfreiheit während der Elternzeit, die medizinische Betreuung während der Schwangerschaft oder Geburt, die Empfängnisverhütung für Minderjährige, das Mutterschaftsgeld oder das Krankengeld für die Betreuung eines Kindes. An diesen Leistungen wollen wir keine Abstriche vornehmen.

Wir vertreten stattdessen die Auffassung, dass die vorhandenen Überschüsse der Gesetzlichen Krankenversicherung sowohl bei den Krankenkassen als auch im Gesundheitsfonds vorrangig dazu genutzt werden sollen, um das System gegen die Auswirkungen konjunktureller Schwankungen und damit verbundener Folgen für den Arbeitsmarkt, gegen weiter steigende Gesundheits

kosten auch aufgrund des demografischen Wandels und gegen sonstige Unwägbarkeiten abzusichern.

Herr Dr. Enders, das ist der Punkt, an dem wir durchaus nicht unterschiedlicher Meinung sind, aber wir sind eben auch der Meinung, dass es aufgrund der jetzigen finanziellen Situation der Kassen den Spielraum gibt, neben dieser ganz elementaren Stabilisierung des Systems über einen weitaus kleineren Betrag zu reden, der dafür genutzt werden soll, die Praxisgebühr abzuschaffen, um die Patienten von diesen finanziellen Belastungen zu befreien und die mit der Praxisgebühr verbundene Bürokratie in den Arztpraxen abzuschaffen. Das können Sie wahrscheinlich am ehesten noch aus eigener Anschauung nachvollziehen.

Die Landesregierung setzt sich aus gesundheits-, aber auch aus sozialpolitischen Gründen für die Abschaffung der Praxisgebühr ein. Frau Anklam-Trapp ist ausführlich auf die sozialpolitischen Erwägungen eingegangen.

Herr Dr. Enders, noch etwas zur Erinnerung und Klarstellung der Historie. Ich meine, das, was Sie uns vorhin präsentiert haben, war doch ein bisschen Geschichtsklitterung. Die Praxisgebühr ist 2003 – das ist richtig – mit der CDU/CSU im GKV-Modernisierungsgesetz vereinbart worden. Dies aber nur deshalb, weil sie der saure Apfel war, in den wir beißen mussten, weil die CDU/CSU mit ganz anderen Forderungen aufgelaufen ist. Sie wollten damals eine 10 %ige Beteiligung aller Patientinnen und Patienten an den Behandlungskosten, aber mindestens einen Betrag von fünf Euro. Das hätte natürlich zu einer noch sehr viel stärkeren sozialen Schieflage geführt.

Die Lotsenfunktion, die Sie bei der jetzigen Praxisgebühr sehen, sehen wir so nicht. Es hätte aber eine Lotsenfunktion geben können. Die haben wir nämlich damals in die Verhandlungen eingebracht. Wir haben vorgeschlagen, dass die Praxisgebühr dann entfällt, wenn zuerst zum Hausarzt gegangen wird und damit der Hausarzt in seiner Funktion als Portalarzt gestärkt wird. Gerade das ist aber nicht der Fall. Gerade beim Hausarzt muss man die zehn Euro entrichten. Das ist aus unserer Sicht wirklich eine Fehlkonstruktion, die man damals nolens volens mitgemacht hat.

Die allgemeine Steuerungswirkung, die man dieser Praxisgebühr zugeschrieben hat, hat sie überhaupt nicht erfüllt. Dazu liegen Untersuchungen vor. Es gibt eine gute Bertelsmann-Studie darüber vom Herbst 2005. Darin wird eindeutig nachgewiesen, dass am Anfang die Zahl der Arztbesuche zurückgegangen ist, aber es ist nicht ein deutlicher Rückgang der Arztbesuche von allen Patientinnen und Patienten übriggeblieben, sondern bei den sozial Schwachen wird der Weg zum Arzt deutlich weniger häufig eingeschlagen als vorher. Insofern ist das, was Frau Dreyer ausgeführt hat, keine Polemik, sondern es ist schlichte Realität, dass die Praxisgebühr dazu führt, dass sich diese Teile der Gesellschaft überlegen, ob sie sich einen Arztbesuch finanziell leisten können, dass dadurch die Zweiklassengesellschaft gefördert wird und sich mittel- und langfristig die gesundheitliche Versorgung dieses Teils der Bevölkerung verschlechtern und dadurch zur Chronifizierung von Erkrankungen beigetragen wird.

Auch die Klage der Ärzte über die unglaublichen Bürokratiekosten und den Bürokratieaufwand sind für uns durchaus nachvollziehbar. Sie müssen die Praxisgebühr einbehalten, sie quittieren diese, und sie müssen sie gegebenenfalls bei säumigen Zahlern anmahnen. Wir finden, diese Zeit sollte besser der Versorgung der Patientinnen und Patienten zugutekommen.

Für Rheinland-Pfalz würde die Abschaffung der Praxisgebühr bedeuten, dass die Patientinnen und Patienten um 83 Millionen Euro bei den Ärztinnen und Ärzten und um 17,7 Millionen Euro bei den Zahnärztinnen und Zahnärzten entlastet werden. Es ist auch sachgerecht, dass man in erster Linie die Patientinnen und Patienten entlastet und keine allgemeine Beitragssenkung vornimmt; denn sie tragen mit 0,9 Prozentpunkten ohnehin schon die höhere Beitragslast. Ich meine, das ist im weitesten Sinne nicht nur eine sinnvolle gesundheitspolitische, sondern vor allen Dingen auch eine sehr, sehr sinnvolle sozialpolitische Maßnahme. Jetzt hat man den finanziellen Spielraum; den sollte man nutzen.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Für die Fraktion der SPD hat Frau Anklam-Trapp das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank für das Wort.

Sehr geehrter Herr Dr. Enders, ich wundere mich sehr, dass Sie als derjenige, der immer an vorderster Stelle für eine sinnvolle Verwendung der wertvollen Zeit und für Bürokratieabbau streitet, an dieser Stelle kein einziges Wort über Ihre ärztlichen Kollegen verlieren, die dadurch in den Praxen einen unglaublichen Bürokratieaufwand haben. Lassen Sie mich diese Verwunderung zum Ausdruck bringen.

(Zuruf des Abg. Dr. Enders, CDU)

Ich bedanke mich ausdrücklich bei Frau Staatssekretärin Kraege, dass sie noch einmal deutlich die Kompromisslösung, die 2003 vorgelegt und 2005 akzeptiert wurde, beleuchtet hat. Das gilt ebenso für die Problematik, wenn man die 2 Milliarden Euro an Zuschüssen an das Gesundheitssystem herausnimmt, die für gesetzliche versicherungsfremde Leistungen benötigt werden. In diesem Betrag sind das Mutterschaftsgeld, das Krankengeld bei der Betreuung von kranken Kindern und andere Dinge enthalten.

Wir haben jetzt die Chance, in einem sicher und gut funktionierenden System in Rheinland-Pfalz, mit dem Wunsch, dass wir die Praxisgebühr nicht mehr haben wollen, 100 Millionen Euro im Jahr in den Einkommenstaschen der Rheinland-Pfälzerinnen und RheinlandPfälzer zu halten. Wenn man es auf die Bundesrepublik überträgt, trifft es die gleichen Menschen.

Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt im guten Sinne dafür streiten, mit diesem Geld der Beitragszahler das Beste zu tun, dann denke ich, sind wir hier an der richtigen Stelle. Wir in Rheinland-Pfalz sagen, dass wir die Praxisgebühr in Zukunft nicht möchten. Ergreifen wir diese historische Chance.

Vielen Dank.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erteile Herrn Dr. Enders das Wort.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann an dieser Stelle den Sturm im Wasserglas nicht nachvollziehen.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Jetzt ist Geld in der Kasse drin, 20 Milliarden Euro. Das ist auf die Bürger umgerechnet gar nicht so viel. Es ist ein kleines Taschengeld. Schon wollen Sie es auszahlen.

(Wiechmann, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das gibt es doch nicht!)

Das ist für mich nicht nachvollziehbar.

(Wiechmann, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kleines Taschengeld?)

Umgerechnet auf die Bundesrepublik ist das sehr wenig Geld.

(Hering, SPD: Es kommt immer auf das Gehalt an!)

Man sollte nicht gleich reflexartig schreien und nach Veränderungen rufen.

(Beifall der CDU – Zuruf des Abg. Wiechmann, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich will noch etwas verdeutlichen. Frau Anklam-Trapp, Sie waren vor mir dran und haben mich auf etwas angesprochen. Im Koalitionsvertrag steht, dass die Modalitäten des Einzugs der Praxisgebühr zur Disposition stehen. Das wird geprüft werden. Da stimme ich Ihnen zu. Das bestätigen alle niedergelassenen Kollegen. Bei der Einführung hat mich gewundert, dass die Ärzte das Geld einsammeln müssen, um es an die Krankenkasse abzuführen. Das ist ein Anachronismus. Aber das ändert nichts an der Zielsetzung und der Notwendigkeit, die wir heute nach wie vor haben, weil wir das Geld brauchen.

Ich kann mir vorstellen, dass man einen Weg findet, eine Hausarztpraxis von 120 Arbeitsstunden pro Jahr für diese Modalitäten zu entlasten, indem dieses Geld von den Krankenkassen am Jahresende unter Umgehung

der Ärzte selbst eingezogen wird, damit diese Ärzte Zeit haben, die sie für die Patienten brauchen.

Eigentlich wollte ich nicht darauf eingehen, aber Herr Kollege Dr. Schmidt hat wieder die Bürgerversicherung ins Spiel gebracht. Das ist ein softer Begriff, eine Mogelpackung. Ich bin gespannt, was daraus wird, wenn es eine Mehrheit geben sollte, die das umsetzt. Sie müssen dann den Leuten sagen, dass im System 9 Milliarden Euro fehlen werden, wenn die PKV abgeschafft ist. Es wird manche Arztpraxis geben, die die eine oder andere Stelle für Fachpersonal nicht mehr finanzieren kann. Die Diskussion über die Bürgerversicherung ist nichts anderes, als mit Neidgefühl zu spielen.

(Beifall der CDU – Zurufe von der SPD)

So ist es. Es sind 9 Milliarden Euro, die querfinanziert werden. Es geht keinem einzigen GKV-Versicherten besser, wenn diese Bürgerversicherung eingeführt wird.

(Zuruf des Ministerpräsidenten Beck)

Ich sage noch etwas. Ich bin selbst set 28 Jahren Arzt. Ich behandele Kassenpatienten und Privatpatienten mit genau den gleichen Medikamenten.

(Glocke des Präsidenten – Frau Ebli, SPD: Sie vielleicht!)

Es wäre absurd, den Ärztinnen und Ärzten immer wieder zu unterstellen, das wäre anders.