Protokoll der Sitzung vom 21.06.2012

Heimerziehung 50er und 60er Jahre: Leid und Unrecht anerkennen und den Opfern helfen Antrag der Fraktionen der SPD, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/1357 –

Die Grundredezeit pro Fraktion beträgt fünf Minuten.

Als Berichterstatterin erteile ich Frau Kohnle-Gros das Wort.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen gemeinsamen Antrag, den Herr Präsident Schnabel soeben auch mit seiner Drucksachen-Nummer bezeichnet hat. Es gab ursprünglich zwei Anträge im Landtag zum selben Thema, und letztendlich sind beide Anträge durch Beschluss des Landtags vom 19. Januar dieses Jahres an den Ausschuss überwiesen worden. Wir haben im Ausschuss eine Anhörung durchgeführt, eine – wie ich finde, wenn ich es einmal so sagen darf – sehr weiterführende Anhörung – Sie werden nachher auch hören, weshalb ich das so sage –, die uns als Mitglieder dieses Ausschusses letztendlich dazu bewogen hat, noch einmal miteinander ins Gespräch zu kommen und aus unseren beiden Anträgen einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, in den in der Tat auch Punkte aus der Anhörung aufgenommen wurden. Es ist sozusagen ein sehr gutes Dokument dessen entstanden, was die Landesregierung und das Parlament an dieser Stelle zu sagen haben.

Ich darf daher um eine offene Beratung bitten. Der Ausschuss empfiehlt natürlich die Annahme des gemeinsamen Antrags.

(Beifall im Hause)

Ich erteile Frau Kollegin Bröskamp von der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN das Wort. Ich möchte bei dieser Gelegenheit Herrn Steinbach sagen, dass wir die Uhr immer erst anstellen, wenn der Redner mit seiner Rede beginnt. Es geht also keine Redezeit durch die etwas längere Ansage verloren.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Abgeordnete! Dieser gemeinsame Antrag ist zwar ein wenig holprig entstanden, aber jetzt ist er da. Ich denke, dass wir heute zunächst einmal über das Ergebnis reden und sicherlich in gewisser Weise auch zufrieden sein können.

Ich möchte aber die Chance nutzen, noch einmal die Situation darzustellen. Warum sind Kinder und Jugendliche zu dieser Zeit in Heime eingewiesen worden? – Sie sind nicht eingewiesen worden, weil sie kriminell waren oder weil es gefährliche Kinder und Jugendliche waren, sondern es waren niedere Gründe, die ich bei meiner letzten Rede schon einmal benannt habe. Diese niederen Gründe führten dazu, dass Kinder – Kleinstkinder, Babys sowie Jugendliche – in die Heime eingewiesen worden sind.

Wir dürfen nicht vergessen, dass auch schon zu der Zeit unser Rechtsstaat bestand und Grundrechte, die in der Verfassung niedergeschrieben waren, schon galten: das Rechtsstaatsprinzip, die Menschenwürde, das Recht auf die persönliche Freiheit und körperliche Integrität, das Verbot von Zwangsarbeit oder Kinderarbeit und das Recht auf religiöse Selbstbestimmung. – Allerdings – das ist die Tragik – wurde dies in den Heimen zum Teil

verachtend missachtet, und zwar in der Form, dass eine Kontrollfunktion nicht vorhanden war. Wenn man in der Literatur nachliest, wird man sehr schnell fündig, dass zum Beispiel ehemalige SS-Aufseher auch in Heimen tätig waren. Ich denke, dazu brauche ich nicht viel zu sagen; denn die Art und Weise, dies überhaupt in irgendeiner Form erfassen zu können, kann ich persönlich sicherlich nicht vermitteln.

Es gab für die betroffenen Kinder und Jugendlichen oft fehlende oder nur unzureichende schulische und berufliche Förderung, das heißt, ihnen wurde es verwehrt, die Schule zu besuchen oder eine Ausbildung zu machen.

Sie wurden dazu gezwungen, Arbeiten zu verrichten, unter anderem in der Produktion und auch in der Landwirtschaft. Es wurden an ihnen Versuche mit Medikamenten durchgeführt. Diese Kinder und Jugendlichen sind zum Teil sediert worden. Es wurde sexuelle Gewalt angewandt und Strafen wie körperliche Züchtigung, Arreststrafe und Essensentzug. Wir hatten das Beispiel in der Anhörung auch. Es wurde deutlich, dass Kinder und Jugendliche dazu gezwungen wurden, Erbrochenes wieder zu essen. Es wurden demütigende Strafen angewandt, Kollektivstrafen, und es gab Kontaktsperren und natürlich auch die Briefzensur.

Mit ist es ganz besonders wichtig, das hier auch noch einmal anzusprechen; denn ich gehe einfach davon aus, dass die Bedeutung, die dieser Antrag eigentlich hat, und der Umgang von uns in Rheinland-Pfalz dadurch noch einmal deutlicher werden.

Ich möchte aber auch nicht vergessen – ich lege großen Wert darauf –, auch kritische Punkte anzumerken, wie zum Beispiel die Verzichtserklärung, die unterschrieben werden muss, oder auch die Befristung der Antragseinreichung auf das Jahr 2014. Ich sehe diese Punkte kritisch und hätte mir gewünscht, dass das nicht der Beschluss gewesen wäre.

Ich sehe auch die Kritik von vielen Betroffenen und nehme das auch sehr ernst. Ich möchte auch das hier zum Ausdruck bringen. Ich glaube aber, dass wir mit der Einrichtung des runden Tisches und mit der Gründung des Beirates – das wird in dem Antrag auch deutlich – ganz besonderen Wert darauf legen, dass wir Betroffene in dem Beirat haben werden, wir auch hier ein Zeichen setzen und die Betroffenen deutlich zu Wort kommen lassen. Meine Fraktion und ich befürworten das sehr. Da wir alle den Antrag gemeinsam eingereicht haben, gehe ich davon aus, SPD und CDU sehen das selbstverständlich auch so.

Ganz wichtig ist – das ist der letzte Punkt –, ich möchte davor warnen, dass wir aufgrund von Finanzdiskussionen irgendwelcher Art die Standards, die wir haben, heute herunterschrauben. Ich bitte darum, dass wir diese Diskussion im Sinne der Betroffenen nie führen und die Standards, die wir haben, auch umsetzen.

(Glocke des Präsidenten)

Es ist uns auch wichtig, daran festzuhalten und die Zukunft im Blick zu haben.

Danke schön.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Für die CDU-Fraktion erteile ich Frau Kollegin HuthHaage das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Gäste! Es war wichtig und richtig, dass sich der Landtag mit der Situation der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren befasst hat. Wir mussten vieles erfahren. Wir haben vieles gelernt. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben auch einiges gemeinsam erarbeitet.

Meine Damen und Herren, Nachkriegsdeutschland war traumatisiert. Viele Menschen waren traumatisiert, viele litten unter den Folgen von Krieg und der Diktatur des Dritten Reiches. In dieser Situation kamen viele Kinder, viele Jugendliche und junge Menschen in Heime. Sie haben dort teilweise auch ein guten Zuhause gefunden, sind gut und liebevoll erzogen worden. Aber wir haben gehört – in der Anhörung und eben ist es auch noch einmal anschaulich dargestellt worden –, viele junge Menschen haben auch großes Leid erfahren müssen. Ihnen ist großes Unrecht angetan worden, und sie sind misshandelt worden. Auch – das haben Sie eben auch betont – unter damaligem Recht waren das schon Straftaten, die hätten geahndet werden müssen.

Meine Damen und Herren, deswegen ist es wichtig und richtig, dass wir in unserem gemeinsamen Antrag zuallererst dieses Leid anerkennen und unser Bedauern für das erlittene Unrecht aussprechen, das Kinder und Jugendliche auch in Heimen in Rheinland-Pfalz erfahren haben.

Meine Damen und Herren, meine Fraktion ist dankbar für die gute Arbeit und Vorarbeit, die der Runde Tisch „Heimerziehung“ in Berlin geleistet hat. Dort waren alle Fraktionen und sehr viele Träger mit dabei, alle, die beteiligt waren. Das hat uns die Arbeit ein Stück weit erleichtert. Wir hatten da eine gute Vorlage.

Ich bin auch sehr dankbar für die Anhörung, die wir im Ausschuss hatten. Diese Anhörung war extrem wichtig. Marlies Kohnle-Gros hat es eben auch angesprochen. Es gab wertvolle Hinweise für unseren Antrag. Die Verzichtserklärung ist eine solche. Aber ich denke, der wirklich zentrale Kritikpunkt, Frau Ministerin, war die Konstruktion der regionalen Anlaufstelle. Es haben wirklich alle Anzuhörenden betont, dass es schon sehr kritisch gesehen wird, diese doch traumatisierten Menschen jetzt ausgerechnet wieder zum Landesjugendamt zu schicken. Diese Stelle ausgerechnet da anzusiedeln, wäre unserer Meinung nach nicht nötig gewesen. Man hätte da andere Konstruktionen finden können. Man hätte das über die Verbände anders organisieren können.

Wir haben die beiden Mitarbeiterinnen kennengelernt – ich habe das auch im Ausschuss gesagt –, die hervorragend qualifiziert sind, die wirklich einen guten Eindruck gemacht haben, denen wir das auch zutrauen, mit diesen Menschen vertrauensvoll zu arbeiten. Aber ich glaube, unter einem anderen Türschild wäre es für die Betroffenen einfacher gewesen.

Frau Ministerin, Sie haben deutlich gemacht, dass Sie das auch aufnehmen und die Verbände stark einbinden wollen. Wir möchten Sie ausdrücklich dazu ermuntern, das zu tun. Wir denken, das ist der richtige Weg.

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei allen, die an dem gemeinsamen Antrag mitgearbeitet haben und daran beteiligt waren. Es ist wichtig, dass wir die Verantwortung daraus ableiten, die wir für die Gegenwart und für die Zukunft für Kinder und Jugendliche haben, die heute in unseren Heimen leben.

Wir glauben auch, dass es wichtig ist, dass wir uns in Zukunft gerade im Ausschuss intensiv mit diesen Themen befassen werden, mit der Heimerziehung, Fragen der aktuellen Heimerziehung, aber dass wir auch immer wieder reflektieren, wie die Arbeit der regionalen Anlaufstelle läuft, was da an Anfragen ankommt. Es wäre uns wichtig, dass das jetzt kein Abschlussbericht ist, sondern dass wir das als Auftrag nehmen, um gemeinsam die Zukunft zu gestalten, um das Leid der Menschen zu mildern, die betroffen waren, und gleichzeitig sicherzustellen, dass Kinder und Jugendliche, die derzeit in Heimen leben, ein gutes Leben und eine gute Zukunft haben werden.

In diesem Sinne herzlichen Dank.

(Beifall der CDU und des Abg. Dr. Schmidt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die SPD-Fraktion erteile ich Frau Sahler-Fesel das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich freue mich für die SPD-Fraktion, dass wir uns bei diesem wichtigen Thema zu einem gemeinsamen Antrag zusammengefunden haben. Ich glaube, es hätte keiner verstanden, wenn wir bei diesem Thema streitig über zwei Anträge abgestimmt hätten. Das war uns allen bewusst, und so ist hier ein guter gemeinsamer Antrag herausgekommen.

Was ist für uns noch einmal wichtig? Ich möchte nichts wiederholen, sondern nur einzelne Punkte betonen. Wichtig ist für die SPD-Fraktion genauso wie für die beiden anderen Fraktionen, dass wir das Unrecht, das den ehemaligen Heimkindern geschehen ist, anerkennen und wir ganz klar als Landtag zum Ausdruck bringen, dass diese ehemaligen Heimkinder an dem, was ihnen passiert ist, keine Schuld haben. In der Anhörung

wurde immer wieder deutlich gemacht, dass das wirklich wichtig ist.

Es war aber genauso wichtig, auch im Antrag die Schuldigen zu benennen, das heißt zum einen die Träger, wobei es auch im Sinne des Antrages ist, dass für Rheinland-Pfalz, was noch nicht passiert ist, eine Dokumentation erstellt wird, also die tatsächlichen Gegebenheiten für Rheinland-Pfalz aufgestellt werden. Wie Frau Huth-Haage eben schon gesagt hat, es gab mit Sicherheit gute Träger und gute Heimerziehung, aber es gab – wir müssen es bisher nur annehmen – wohl auch genau diese Fälle in Rheinland-Pfalz, da sich bei der Anlaufstelle schon einige Personen gemeldet haben, sodass wir dann in der Trägerschaft der Kirchen, auch in der Trägerschaft des Landes, die Archive, soweit vorhanden, natürlich öffnen müssen, um zu schauen, was nun wirklich an Dokumentation da ist. Wir müssen das für Rheinland-Pfalz auch schonungslos aufarbeiten, damit man hier sieht, wir wollen uns dieser Vergangenheit auch wirklich stellen.

Die Basis ist der Abschlussbericht des runden Tisches. Aber die Aufarbeitung für Rheinland-Pfalz steht uns noch bevor. Eine tatsächliche Wiedergutmachung – es geht um die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre – ist natürlich nicht möglich. Das ist uns, und ich denke auch jedem, bewusst. Aber es geht darum, die jetzt noch bestehenden Folgen in der Art abzumildern, dass dann auch die Möglichkeit, Hilfen zu bekommen, ziemlich unbürokratisch erfolgen muss.

Der Fonds „Heimerziehung West“ ist für fünf Jahre mit insgesamt 120 Millionen Euro aufgelegt worden. Je ein Drittel zahlen Bund, Land und die Kirchen. Der Fonds sieht vor, dass in jedem Bundesland eine Anlaufstelle eingerichtet wird. Hier ist er beim Landesjugendamt eingerichtet worden. Das war ein Diskussionspunkt.

Diejenigen, die sich bisher gemeldet hatten – das waren schon einige, als wir die Anhörung hatten –, hatten damit kein Problem. Wir haben mit aufgenommen, dass die Wohlfahrtsverbände mit einbezogen werden.

In der Planung war mit enthalten, dass es ein niedrigschwelliges Angebot ist und es eine Geh-Struktur haben soll. Gespräche müssen nicht im Landesamt stattfinden. Durch die Beratung durch ehemalige Heimkinder, zu denen man Kontakt aufgenommen hat, soll eine größtmögliche Transparenz geschaffen werden. Durch die inzwischen besetzte Stelle soll es eine fundierte Anlaufstelle geben, bei der sich die betroffenen Menschen melden und um Hilfe nachsuchen können.

Die Sache mit dem Rechtsverzicht sehen wir genauso. Ganz wichtig in diesem Antrag ist der Beirat. Zu dieser Stelle wird ein Beirat eingerichtet. Da sind wir wieder mit allen Fraktionen in einem Boot. Wir haben im Antrag geschrieben, dass wir als Fraktionen vertreten sein wollen. Wir wollen einen Vertreter oder eine Vertreterin entsenden. Damit begleiten wir die weitere Arbeit dieser Stelle. Es sollen Betroffene mit eingebunden werden. Wir verstehen das so, dass sowohl politische als auch fachliche Begleitung vorhanden ist. Es soll auch in die Zukunft hinein wirken. Es soll darauf wirken, dass die vorhandenen Qualitätsstandards in unseren Heimen

erhalten bleiben und weiterentwickelt werden. Damit soll im Sinne der Kinder, der Jugendlichen und der guten Erziehungsarbeit die beste Erziehungsarbeit für die Kinder, die in öffentlicher Hand erzogen werden, gewährleistet werden.

In dem Sinne wünsche ich sowohl dieser Anlaufstelle, dass sie möglichst schnell möglichst die Betroffenen erreicht, die sich in Rheinland-Pfalz melden wollen, als auch uns im Beirat, dass wir eine konstruktive und gute Zusammenarbeit haben. Ich brauche nicht darum zu bitten, dass wir alle gemeinsam abstimmen. Ich freue mich noch einmal über den gemeinsamen Antrag.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich erteile Frau Staatsministerin Alt das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche hat die Bundesregierung die Einrichtung eines Fonds beschlossen, der die Opfer von Heimerziehung der ehemaligen DDR unterstützt. Diese Maßnahme folgt dem Fonds für die Heimerziehung in den westdeutschen Bundesländern, den wir heute mit diesem Antrag für unser Land Rheinland-Pfalz umsetzen wollen.

Quer durch alle Parteien in Deutschland gibt es das gemeinsame Anliegen, diese Menschen zu unterstützen, die damals in den Heimen Unrecht erlitten hatten. Daher bin ich sehr froh, dass es uns in Rheinland-Pfalz gelungen ist, einen fraktionsübergreifenden Antrag „Heimerziehung“ auf den Weg zu bringen. Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, mich ganz herzlich bei allen Fraktionen, bei der CDU-Fraktion, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD-Fraktion, dafür zu bedanken, dass in sehr vielen intensiven Gesprächen eine Lösung gefunden worden ist, damit wir heute einen gemeinsamen Antrag verabschieden können. Meinen herzlichsten Dank dafür.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)