Dort, wo Nationalstaaten wirkungsvoller und bürgernäher agieren können, muss sich Europa zurücknehmen, um dort umso kraftvoller auftreten zu können, wo nur der Kontinent als Ganzes zu einer vernünftigen Lösung in der Lage ist.
Europa braucht neues Selbstbewusstsein. Lassen Sie uns Leidenschaft aufbringen für unsere Überzeugungen und Grundsätze, die Gewissheit, Teil eines Ganzen, eines Miteinanders zu sein. Das ist es, was wir jungen Menschen in einer Gesellschaft, die sich fragmentiert und individualisiert, von Anfang an mitgeben müssen, ist, Teil einer Nation zu sein, Teil Europas, mit gemeinsamer Geschichte, gemeinsamen Wurzeln, gemeinsamen Zielen und gemeinsamen Werten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Holocaust bleibt unsere moralische Verpflichtung, Europa unsere Zukunft und die Demokratie der Rahmen unseres Zusammenlebens.
Wir dürfen weitere Gäste im Landtag begrüßen: die Blaskapelle aus Mutterstadt – herzlich willkommen –,
Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Ministerin Dr. Hubig! Es hätte wohl keinen besseren Termin für eine solche Regierungserklärung zum Thema „Demokratie macht Schule“ geben können als heute, drei Tage nach der Gedenksitzung mit den tief berührenden Worten von Henriette Kretz, die uns alle als Zeitzeugin nachhaltig beeindruckte,
heute, am 30. Januar, 86 Jahre nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und der damit verbundenen Umwandlung der jungen und damals brüchigen parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik in eine Diktatur mit abscheulichem Ausmaß an Rassenwahn, Verfolgung, Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung.
Es ist ein starkes Zeichen, dass wir heute klar und deutlich formulieren, in unseren Schulen angesichts der spaltenden Tendenzen in Deutschland und Europa die Demokratiebildung weiter stärken zu wollen, die Erinnerungskultur wachzuhalten und Europa noch intensiver erfahrbar machen zu wollen.
Ich möchte meine Ausführungen unter das Zitat des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey stellen: „Demokratie muss in jeder Generation neu geboren werden, und Bildung ist ihre Hebamme.“ Das ist ein schönes Bild und ein treffender Vergleich; denn dieser Satz vergegenwärtigt, dass Demokratie mehr ist als nur eine Regierungsform.
Demokratie ist zugleich eine Gesellschaftsform und eine Frage, wie wir miteinander umgehen wollen, wie wir das Bewusstsein in unserer Gesellschaft bilden. Es zeigt aber auch, dass wir Demokratie nicht als selbstverständlich ansehen dürfen, wir uns jeden Tag neu um ein demokratisches Miteinander bemühen müssen und es dazu Wissen und Haltung bedarf. Damit kann man nicht früh genug beginnen. Wir beginnen in der Kita.
Erstens ist die Erinnerung an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte als Mahnung wachzuhalten, damit sich die Gräueltaten des Holocausts niemals wiederholen. Geschichtsrevisionistische Aussagen à la Höcke oder Gauland gehören nicht dazu. Da bedarf es klarer Abgrenzung auch von manchem hier aus diesem Hause.
Das zu erkennen, ist die große Aufgabe, die wir als Gesellschaft in unseren Schulen haben und darüber hinaus den Schülerinnen und Schülern beibringen müssen.
Zweitens müssen wir gerade jetzt, wo die Spaltung der Gesellschaft von mancher Seite voranzutreiben versucht wird, Demokratiebildung stärken, um eine Haltung zu verinnerlichen, die sich an Menschenwürde, Menschenrechten und Chancengerechtigkeit orientiert und ein kritisches
Urteilsvermögen dafür fördert, rassistische und menschenverachtende Tendenzen rechtzeitig zu erkennen und ihnen mutig und entschieden entgegenzutreten.
Wie die Hebamme sich um die werdende Mutter und das Kind kümmert, Tipps und Hilfen gibt, geben unsere Schulen ihren anvertrauten Schülerinnen und Schülern Unterstützung für die demokratische Gesellschaft. Und das tun sie sehr engagiert.
Übrigens, Schülerinnen und Schüler anzustiften, Lehrkräfte zu denunzieren, ist keine Maßnahme der Demokratiebildung, ganz im Gegenteil!
Ein „Lehrerpranger“, den auch die AfD in Rheinland-Pfalz ins Auge gefasst hat, ist geschichtsvergessen, ist Zeugnis eines befremdlichen Freiheitsbegriff, zutiefst antidemokratisch und zerstört das Vertrauensverhältnis, das zwischen Schülern und Lehrern notwendig ist, damit gute Bildung gelingt.
Deshalb werden wir auch alles tun, damit organisierte Denunziation weder an Schulen noch sonst wo in unserem Land eine Chance bekommt.
Drittens müssen wir den europäischen Gedanken vertiefen und Europa im praktischen Leben erfahrbar machen, um den Wert friedlicher Konfliktlösungen, Gemeinschaft über Nationen hinweg, Frieden und Freiheit zu erlernen. Dafür benötigen wir entsprechend nachhaltige Bildungsangebote zur Teilhabe an unserer demokratischen Gesellschaft. Die Lage unseres Landes in der Grenzregion zu unseren europäischen Nachbarn bietet dazu eine hervorragende Ausgangsposition.
Wir fangen bei diesen drei Punkten nicht bei null an. Schon seit vielen Jahren gibt es an unseren Schulen sehr gute Angebote der demokratischen Bildung. Engagierte Lehrerinnen und Lehrer nehmen eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe wahr, unsere Kinder zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen, die weit über das reine Vermitteln von Wissen hinausgeht. Demokratie ist dabei immer auch eine Grundhaltung, die in der gesamten Schulgemeinschaft gelebt werden muss und nicht nur ausschließlich in einzelnen Unterrichtsfächern vermittelt wird.
Wer zum Beispiel einmal den Demokratietag besucht hat, der erlebt, wie Schülerinnen und Schüler für Demokratie glühen, der kann vielfältige Programme, Modelle und Ideen selbstbewusster junger Menschen erleben, die ansteckend wirken. Diese Vernetzung ist gut und stärkt die handelnden Akteure.
Im nächsten Schritt müssen wir aus meiner Sicht auch diejenigen Schulen von den Best Practice-Beispielen profitieren lassen, die sich erst auf den Weg machen. Der Auftrag an unsere Schulen, dass jede Schülerin und jeder
Schüler mindestens einmal während der Schulzeit eine der Gedenkstätten oder Gedenkorte besucht oder mit Zeitzeugen gesprochen haben soll, ist für uns besonders wichtig und richtig. Deshalb begrüßen wir es, dass über eine neue Richtlinie die heute schon bestehenden Möglichkeiten für schulische Projekte vergrößert werden.
Viele von uns haben es schon selbst im Parlament mehrfach erlebt. Wenn Zeitzeugen von ihren schrecklichen Erlebnissen erzählen, prägt sich das ins Gedächtnis. Das ist etwas anderes, als es im Geschichtsbuch nachzulesen.
Der Einsatz für unsere Demokratie beginnt bei der Erinnerungskultur, also dem Umgang der Gesellschaft, aber auch jedes Einzelnen mit seiner Vergangenheit und seiner Geschichte.
Angesichts des Holocaust-Gedenktags am vergangenen Sonntag hat uns Frau Henriette Kretz mit ihrem ergreifenden Zeitzeugenbericht noch einmal sehr verdeutlicht, dass wir auch in der heutigen Zeit wachsam sein müssen, Unrecht erkennen und nicht verharmlosen, nicht wegschauen oder schweigen dürfen und handeln müssen. Unsere Demokratie muss wehrhaft sein.
Deshalb begrüßen wir Sozialdemokraten, dass die Landesregierung die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus noch stärker in der Demokratiebildung verankern möchte. Hinzert, Dachau, Lidice, drei Orte als Beispiel für etliche Orte, die mir persönlich tief im Gedächtnis sind. Dachau besuchte ich als junge Frau, Lidice im letzten Jahr mit dem Ausschuss für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur. Hinzert liegt nicht weit von meinem Heimatort entfernt. Es ist im Verhältnis zu anderen Gedenkorten nur eine relativ kleine Gedenkstätte, bei der ich aber bei jedem Besuch immer wieder von Neuem von der Unmenschlichkeit des Naziregimes berührt bin.
Fassungslos gemacht hat mich bei meinen bisherigen Besuchen in KZ-Gedenkstätten wie Dachau, Lidice und Hinzert, mit welcher Akribie diese Vernichtungsmaschinerie funktioniert hat. Die Frage, wie es sein kann, dass die Nazis in Lidice ein ganzes Dorf systematisch ausgelöscht haben, in Dachau zu stehen und nicht glauben zu können, dass Menschen zu solch einem millionenfachen Mord fähig sind, all das bringt mich immer wieder zu der Frage: Warum hat es so wenige gegeben, die Widerstand geleistet haben?
Es bestürzt mich, dass immer noch nicht alle Menschen aus meiner Region in Hinzert gewesen sind, um sich mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Wer einmal in KZ-Gedenkstätten wie Osthofen oder Hinzert war, der wird den unvorstellbaren Zivilisationsbruch nie wieder vergessen. Deshalb müssen wir auch heute noch dafür sorgen, dass sich die junge Generation mit unserer deutschen Geschichte auseinandersetzt, damit sie sich nie wieder wiederholt.
In diesem Zusammenhang finden wir die Möglichkeit des Schüleraustauschs mit Israel und die Fortbildungsmög
lichkeiten für Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen einer Studienreise nach Israel, die Schoah und deren Auswirkungen bis heute zu thematisieren, für extrem sinnvoll.
Auch innerhalb von Rheinland-Pfalz wird in diesem Bereich viel getan. Dass die pädagogische Gedenkarbeit in den Schulen auch personell mit einer Servicestelle im Pädagogischen Landesinstitut unterstützt wird, stärkt unsere Lehrkräfte ebenso wie die verpflichtende Aufnahme des Themas in die Lehramtsausbildung aller Lehrämter.
Folgerichtig ist es, sich auch in den Schulen gegen jegliche Form von Antisemitismus zu stellen und den Lehrkräften Fortbildungsmöglichkeiten anzubieten. Mit Dieter Burgard haben wir in Rheinland-Pfalz den bundesweit ersten Antisemitismusbeauftragten, der auch in Schulen mit dem Thema der Präventionsarbeit unterwegs ist.
Um unseren Schülerinnen und Schülern noch mehr Informationen über das Judentum und jüdisches Leben zu vermitteln, können wir auch mit den vielen ehrenamtlichen Organisationen zusammenarbeiten. In Laufersweiler im Hunsrück gibt es zum Beispiel eine ehemalige Synagoge, in der der Förderverein gezielt Programme für Schulklassen, Gruppen, aber auch für neu zugewanderte Menschen anbietet, um Antisemitismus vorzubeugen.
Dort ist außerdem das Forst-Mayer Studien- und Begegnungszentrum für das Landjudentum angesiedelt, in dem wir vieles lernen können.
Wir müssen die vielfältigen Angebote der pädagogischen Gedenkarbeit allen Schulen zugänglich machen, um unsere Schülerinnen und Schüler zu befähigen, Verantwortung für eine menschliche und demokratische Zukunft zu übernehmen und gegen nationalistische und rassistische Aussagen gewappnet zu sein.
Wir als Parlamentarier sollten auch weiterhin als gute Vorbilder vorneweg gehen. Ich rege zum Beispiel an, dass wir bald eine Sitzung des Bildungsausschusses in einer unserer KZ-Gedenkstätten in Osthofen oder Hinzert abhalten, um vor Ort zu erfahren, welche Bildungsangebote dort am besten angenommen werden.