Protokoll der Sitzung vom 28.09.2000

In diesen Punkten spiegelt sich tatsächlich der Geist dieser Konferenz wider, nicht zuletzt angeregt und provoziert durch eine ebenso offene wie pragmatische Rede des russischen Duma-Abgeordneten; der Präsident hat darauf hingewiesen.

Es gab zwei konkrete Punkte, die wir als Delegation durchsetzen konnten: die Einrichtung einer internationalen Sommerakademie zur Schulung und Ausbildung von Experten und die organisatorische Stärkung der Jugendarbeit und des Jugendaustauschs durch eine Stiftung.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal eines deutlich sagen: Insbesondere den Aspekt - auch Sie haben darauf hingewiesen, Herr Lehnert -, bei der Jugend für Europa zu werben, uns dort einzusetzen, dass Europa eine Zukunft hat - auch im Geiste, im Kopf -, halte ich für ganz, ganz wichtig. Deswegen freue ich mich, dass gerade dieser Antrag von den Delegierten auch einstimmig angenommen worden ist.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW sowie des Abgeordneten Pe- ter Lehnert [CDU])

Die Abschlussresolution nennt weitere Bereiche. Der Präsident hat sie genannt. Wir werden sie beraten. Im Europaausschuss hat es eine erste Diskussionsrunde gegeben. Wir werden diese Resolution zusammen mit den entsprechenden NGOs weiter umsetzen. Mir geht es um einen ganz besonderen Aspekt, der bei den Diskussionen in Malmö eine Rolle gespielt hat. Es war gewissermaßen das heimliche Thema der Konferenz, nämlich die EU-Erweiterung.

Ich darf vielleicht auch an dieser Stelle eine Bemerkung anfügen, Herr Lehnert. Es ist Bundeskanzler Kohl gewesen, der den Ländern in Osteuropa versprochen hat, bis zum Jahre 2000 würden die Voraussetzungen dafür geschaffen. Das erinnerte mich an die „blühenden Landschaften“ in anderen Bereichen und wir sammeln heute die Folgen dieser Versprechungen auch dort ein.

(Beifall bei SPD und SSW)

Es geht eben nicht nur um Beitritte - so, wie man vielleicht einem Verband beitritt oder eine Gesellschaft um neue Mitglieder vergrößert -, es geht um nichts weniger als um die friedliche und stabile Zukunft unseres Kontinents, um die Wiedervereinigung Europas. Immer wieder - hier möchte ich einen Punkt aufnehmen, den auch die Ministerpräsidentin angesprochen hat - kommen aber Zweifel auf, dass wir die EUErweiterung so oder vielleicht gar nicht wollten. Es gibt da eine Politik der Nadelstiche, insbesondere aus einem südlichen Land dieser Region, und ich möchte einige Beispiele nennen, die das verdeutlichen.

(Wolfgang Kubicki [F.D.P.]: Es gibt auch andere Nadelstiche zu Europa!)

- Ich nenne ein paar Beispiele, Herr Kubicki; dann werden Sie sehen, was ich meine. - Wenn wider besseres Wissen spekuliert wird, dass die EU viel zu wenig Geld für die Erweiterung habe, wenn von „Überschwemmung“ - was ist das für ein Wort! - des deutschen Arbeitsmarktes mit osteuropäischen Billigarbeitern gedroht wird, dann wecken diese Zwischentöne in Europa Zweifel an der deutschen Haltung zur Erweiterung

(Lothar Hay [SPD]: Genau so ist es!)

und sie erzeugen auch bei uns im Land Zweifel an Europa. Davor möchte ich doch warnen.

(Beifall bei der SPD)

Wer europapolitische Probleme als Hebel für innenpolitische Konfrontation benutzt, wer Ängste vor

(Rolf Fischer)

Heimatverlust oder Überfremdung schürt, der schafft kein Europa, der schadet Europa.

(Beifall bei SPD und SSW)

Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass der EUKommissionspräsident Prodi vor wenigen Tagen gerade in diesen Fragen eine Richtigstellung vorgenommen und diese Aspekte dorthin verwiesen hat, wo sie hingehören, nämlich in den Bereich der Spekulation.

Ich möchte eines deutlich sagen: Wenn die neuen Länder in Osteuropa daran scheitern, ihre Demokratien zu festigen, ihre Wirtschaften zu modernisieren, die Umwelt zu schützen und soziale Sicherheit aufzubauen, dann scheitern wir mit ihnen. Kurz gesagt: Zur Erweiterung gibt es keine Alternative!

(Beifall der Abgeordneten Ursula Kähler [SPD])

Schon deshalb muss der Beitrag des russischen DumaAbgeordneten in Malmö, der ja Isolation beklagte, von uns besonders ernst genommen werden.

Die Gespräche zur Erweiterung laufen; vom EUGipfel in Nizza erwarten die Beitrittskandidaten ein klares Szenario für die weiteren Verhandlungen inklusive eines festen Zeitplans. Die Berichte der Landesregierung über diese Problematik geben ein stimmiges Bild der Lage wieder.

Ein Punkt ist für mich besonders wichtig: Wir müssen uns um eine breite demokratische Legitimation in Europa für Europa bemühen. Das heißt, wir müssen die parlamentarischen Kräfte - zum Beispiel das Europaparlament - weiter stärken. Und es gilt: Europaparlament und die Parlamente der Länder sind Partner, nicht Konkurrenten.

Dieser Gedanke führt mich zurück zur Parlamentarierkonferenz und zur Ostseepolitik. Ich glaube, dass wir die parlamentarische Dynamik verstärken müssen. Sonst verlieren wir als Parlamente im Verhältnis zu den Regierungen im Ostseerat weiter an Boden.

Ich möchte deshalb am Schluss meiner Rede zwei sehr vorsichtige Denkanstöße geben, nicht als Antrag, nicht als Vorlage, sondern wirklich nur als Anregung: Wie wäre es, wenn wir nun - nach zehn Jahren ist dies vielleicht ein geeigneter Zeitpunkt dafür - einmal über eine neue Form der Parlamentarierkonferenz nachdächten? Wie wäre es, wenn wir als politisches Ziel über die Realisierung einer parlamentarischen Versammlung oder als Fernziel - ich sage das ganz vorsichtig mit aller Sensibilität, weil ich die Vorbehalte kenne - sogar über ein Ostseeparlament diskutierten? Eine parlamentarische Versammlung ist klarer, deutlicher und stärker als eine Konferenz. Die Verbindlich

keit der Beschlüsse und die Möglichkeit ihrer Umsetzung können dadurch nur verbessert werden.

Ich bin überzeugt: Die Parlamente rund um die Ostsee rücken durch eine solche Regelung noch enger zusammen. Dies ist ja ein Ziel, das wir erreichen wollen.

(Beifall bei der SPD)

Wir sollten dies vielleicht einmal mit dem neuen Vorsitzenden des Standing Committee, dem Landtagspräsidenten, diskutieren.

Mein zweiter und letzter Vorschlag: Wenn wir im nächsten Jahr in Greifswald tagen, sollten wir als Schleswig-Holsteiner die Diskussion der Minderheitenfrage im Ostseeraum auf die Tagesordnung setzen.

(Beifall bei SPD und SSW)

Dies passt zum Thema „Bürgergesellschaft“, es passt zu Schleswig-Holstein, es passt zum Ostseeraum und es passt natürlich auch zu Europa.

Damit komme ich zu meinem letzten Satz: In der Europapolitik geht manches zu langsam; ich hoffe, diese Rede war nicht zu schnell.

(Beifall bei SPD und SSW - Wolfgang Ku- bicki [F.D.P.]: Das kann es ja wohl nicht sein! Das gibt nachher eine wunderbare De- batte!)

Das Wort hat jetzt Herr Abgeordneter Behm.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Diskussion passt sehr gut zu dem Referendum, das heute in unserem Nachbarland Dänemark stattfindet. Man kann nur hoffen, dass die Dänen gut entscheiden.

(Beifall bei der F.D.P.)

Ein erster Überblick über das Thema Ostseekooperation ist nur sehr schwer zu gewinnen. Zu Recht befassen wir uns mit den Komplexen „Aktivitäten im Ostseeraum“, „Erweiterungsprozess der Europäischen Union“, „Sicherheitskonzept im Ostseeraum“ und „Ostseeparlamentarierkonferenz“ in einem Block. Ein Wust von Papier, gefüllt mit Denkschriften, Studien, Beschlüssen - meist unverbindlicher Art - und Resolutionen kommt auf den Parlamentarier zu.

Mir als Mitglied des Europaausschusses des Landtages und auch als Teilnehmer an der Ostseeparlamentarierkonferenz in Malmö stellen sich die Fragen: Was ist seit dem Umbruch in Europa schon erreicht worden? Wo gibt es gravierende Defizite? Wo wird echte Ent

(Joachim Behm)

wicklung nur durch Resolutions- und Beschlussaktionismus getarnt? Wo drohen Gefahren für das Zusammenleben der Völker rund um die Ostsee?

Abschließend zufriedenstellende Antworten wird es zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben können, aber die Verantwortlichen werden ganz sicher positive Zwischenergebnisse vorweisen können. Das Herausragende ist ganz ohne Zweifel: Verantwortliche Persönlichkeiten aus allen Anrainerstaaten der Ostsee treffen sich regelmäßig und sprechen miteinander über ihre Probleme im eigenen Land und auch über Umstände, die das grenzüberschreitende Miteinander noch erschweren. Immer wieder wird neu festgestellt: Wer hätte sich das vor zehn Jahren erträumen können! Soweit zum Allgemeinen und zum „sittlich Wertvollen“, wie ich es immer zu nennen pflege!

Aber dennoch, auch in meinem Beitrag geht es weiter mit positiven Aspekten, bevor ich Mängel benennen möchte.

Die drei skandinavischen Länder, die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen und Deutschland gehen so offen und freundschaftlich miteinander um, dass alle anstehenden Probleme schnell und meistens auch unbürokratisch gelöst werden können. Die von der Landesregierung gemeinsam mit der Industrie- und Handelskammer Kiel unterhaltenen Kontaktbüros in Vilnius, Riga und Tallin leisten dabei für alle Bereiche der Kontaktpflege gute Arbeit, und das bei relativ geringen Kosten. Zu nennen sind hier der Kulturaustausch, die Wirtschaftsbeziehungen, der Tourismus, Sport- und Jugendfragen. Dies trifft zunehmend auch auf die Beziehungen mit Polen zu, unserem Nachbarland im Osten, mit dem wir seit mehreren hundert Jahren eine Geschichts- und Schicksalsgemeinschaft teilen.

Eine persönliche Bemerkung muss ich an dieser Stelle einflechten. Als Offizier der Bundeswehr gehörte ich acht Jahre zum unmittelbar unterstellten Bereich des NATO-Kommandos LAND-JUT in Rendsburg. Fast hätte ich es in meiner aktiven Dienstzeit geschafft, mit diesem Kommando in meine Geburtsstadt Stettin umzuziehen. Allein an diesem Umstand kann man ermessen, welch einen Geschichtssprung wir miterleben dürfen.

(Beifall des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Und auch folgende Bemerkung sei gestattet: Die dänischen, polnischen und deutschen Soldaten bilden in diesem Kommando in Stettin, dem NATO-Ostseekommando, jetzt schon eine fast problemlose strategische Einheit.

Dem aufmerksamen Zuhörer meiner Ausführungen ist nicht entgangen, dass ich die Russische Föderation als Ostseeanrainer noch nicht erwähnt habe. Den offiziellen Regierungsvertretern und den Diplomaten sind bei der Beschreibung der Problematik mit der Russischen Föderation häufig - der Schreibhand und auch dem Munde - Zügel angelegt. In den Köpfen dieser Personen mag es etwas großzügiger zugehen. Ich erlaube mir einmal die parlamentarische Freiheit, einige Dinge direkt anzusprechen.

Russland ist keine Großmacht mehr und die Russen wissen das. Die Einschränkung, dass die Russische Föderation auch eine Atommacht ist, muss angefügt werden. Deswegen kann man, ohne dass unsere russischen Nachbarn irritiert sind, die Russische Föderation als Großmacht im Übergang bezeichnen. Russland möchte im Ostseeraum wenigstens als Großmacht im Übergang respektiert werden. Dafür sollten wir Verständnis haben. Der Landtagspräsident ist in seinen Ausführungen auch hierauf eingegangen.

Die Oblast Kaliningrad, das nördliche Ostpreußen, ist keine selbständige politische Einheit, sondern ist Teil der Russischen Föderation. Das muss bei all unseren Aktivitäten beachtet werden. Letztlich wird in Moskau entschieden, welche Kontakte gewünscht werden und welche auf Misstrauen stoßen. Dies unterscheidet diese Region von der Oblast St. Petersburg. Dort scheint man eine großzügigere Regelung im Umgang mit dem Nachbarn zu akzeptieren.

Ich sage dies, weil sich manche Aktivitäten gerade mit Kaliningrad so schwer durchhalten lassen und zum Teil auch wieder versandet sind. Allerdings konzentrieren sich unsere Aktivitäten stark auf dieses Gebiet und es konnten immer wieder hoffnungsvolle Akzente für eine Zusammenarbeit herausgearbeitet werden.