Protokoll der Sitzung vom 26.01.2005

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! So viel Verständliches über Europa wie in der letzten Zeit hat es selten gegeben. Es ging darum, ob das Parlament seine Macht ausnutzen konnte, zu entscheiden, welche Regierungen sich der Präsident aussuchen würde und was die Kriterien sein sollten. Das klang richtig nach Parlamentarismus und nach Abstimmung. Ich fand es gut, dass in Europa nicht nur von Abkürzungen, Geld und anderen Dingen gesprochen wurde, die man sowieso nicht versteht.

(Beifall bei SPD und FDP)

Die beiden Anläufe, die Herr Barroso brauchte, um seine Kommission zusammenzubekommen, haben verdeutlicht: Das war keine Krise, sondern das Parlament hat sehr selbstbewusst seine Rechte in die Hand genommen.

Die Diskussion über die Europäische Verfassung ist nun ein zweiter Punkt, mit dem wir uns zu beschäftigen haben. Welches Europa wollen wir haben? Wie transportieren wir die kulturellen, religiösen und humanistischen Traditionen in eine moderne, offene und liberale Gesellschaft, die sich aus vielen kulturellen Quellen speist? Wollen wir die Türken dazu einladen, mit uns zusammen zu beweisen, dass sich auch muslimische Länder demokratischen und weltoffenen Formeln öffnen oder haben wir Angst davor? Das werden die Diskussionen der Zukunft sein.

Dies alles wird auch dazu beitragen, dass Europapolitik nicht nur ein Thema für Experten bleibt, sondern zu einer breiten politischen Diskussion einlädt. Das birgt allerdings auch die Gefahren, dass sich auch der Stammtisch eingeladen fühlt, an diesen Themen zum Teil mitzuschreiben. Deshalb müssen wir uns davor hüten, populistisch zu werden oder schnelle Antworten zu finden, die wir so schnell gar nicht finden können.

Die Verfassung ist nicht die Geißel innenpolitischer Auseinandersetzung und eigener Machtinteressen, sondern sie soll die Basis dafür bieten, dass alle Menschen in Europa das Gefühl haben, sie werden nach dem gleichen Recht behandelt, regiert und dass Richtlinien nach dem gleichen Recht erlassen werden. Europapolitik ist ein fester Bestandteil der Landespolitik. Es gibt kaum einen Bereich, der nicht von Europa berührt wird, von den Saatkrähen über die Kormorane, über Vogelschutz, über FFH, über Borstgrasra

sen und so weiter. Es ist immer auch das Land betroffen.

Viele sehen das nicht ein, einige ärgern sich darüber. Aber was nützt es? Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Richtlinie ist nichts, wonach man sich richten kann, sondern sie ist ein Gesetz, nach dem man sich zu richten hat.

Was allerdings passieren muss, ist der Bürokratieabbau, der stärker als Idee nach Brüssel getragen werden muss, sonst besteht die Gefahr, dass wir mit jedem Mitglied, das hinzukommt, den Durchblick vollkommen verlieren. Der Verfassungsentwurf hat dort eine gute Dynamik entwickelt. Deswegen schauen wir vor allem nach vorne und wollen die Entwicklung als Chance nutzen, um auch unsere Landesinteressen bei der Diskussion um die Verfassung mit zu verwirklichen.

Die Schwerpunkte der Landespolitik sind - zufällig, Gott sei Dank, glücklicherweise - auch die Schwerpunkte unserer Europapolitik. Die Initiative „Zukunft Meer“ ist hierfür ein gutes Beispiel. Unsere erfolgreiche Initiative für eine koordinierte europäische Meerespolitik zeigt, dass es auch für ein Land wie Schleswig-Holstein möglich ist, auf EU-Ebene etwas mitzubewegen, wenn man gute Ideen hat, in Brüssel Präsenz zeigt und die richtigen Leute kennt.

(Beifall bei der SPD)

Arbeit und Wirtschaft werden Nutzer europäischer Entwicklungen, um die Modernisierung in unserem Land zu unterstützen. Mit der Landesinitiative „ziel“ fördern wir die Wirtschaftscluster, die für uns von strategischem Interesse sind: Gesundheitswirtschaft, Mikrotechnologie, Informationstechnik, Ernährungswirtschaft, „Zukunft Meer“ und so weiter. Hier wollen wir, weil wir besonders gut sind, auch in Europa eine herausragende Alleinstellung haben, mit der wir im Wettbewerb positiv bestehen können.

Umwelt und Landwirtschaft: Zukunftsgerechtes Wirtschaften und lebenswerte Umwelt bedingen einander. Es hat sich gelohnt, dass wir seit 1988 für den systematischen Aufbau von alternativen Energien, unter anderem auch Windenergie, gesorgt haben. Hier sind wir in der Zwischenzeit als Europäer Weltmarktführer und hier tut sich auch noch eine ganze Menge an Märkten auf.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Bereich Bildung und Wissenschaft wollen wir im siebten Forschungsrahmenprogramm einen eigenen Schwerpunkt für Meereswirtschaft setzen. Es war wirklich beruhigend zu sehen, mit welchem Wissen,

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

Können und mit welchen Beziehungen der Koordinator für dieses Feld in Schleswig-Holstein, Professor Dr. Herzig, an die Arbeit herangegangen ist und Kollegen aus Paris, London und aus anderen Ländern eingeladen hat, um eine europäische Initiative für ein Tsunami-Frühwarnsystem aufbauen zu können.

Wir werden den Fremdsprachenunterricht an Schulen ausbauen. Die 26 Europaschulen helfen, die europäische Ausbildung unserer Kinder weiterzuentwickeln. Wir wollen die Europafähigkeit unseres Landes ausbauen. Hier haben wir große Möglichkeiten, Wirtschaft und Wissenschaft, Institutionen, Verbände und Kommunen an einen Tisch zu setzen.

Wir haben einen neuen Arbeitsschwerpunkt „Europafähigkeit“ entwickelt. Dazu gehören, um in Europa wahrgenommen zu werden, gute Beratungsstrukturen, enge Zusammenarbeit der Akteure, gute Weiterbildungsangebote und - was wir zusammen mit den kommunalen Landesverbänden zu besprechen haben - konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Europafähigkeit unserer Kommunen. Sie werden bald merken, wie schwierig es ist, im Europa der 25 als klitzekleine Einheit mit zwei bis 500 Einwohnern in Brüssel machtvoll aufzutreten. Da werden wir noch ein bisschen zu tun haben.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Wir werden dem Landtag zu Beginn der nächsten Legislaturperiode einen eigenen Bericht zur Europafähigkeit der Landesverwaltung vorlegen. Auch hier haben wir uns - wie selbstverständlich anderswo auch - anzupassen.

Meine Damen und Herren, Europa, das ist nicht Brüssel irgendwo, sondern es ist das, was wir bei uns aus dem machen, was uns Brüssel bietet. In SchleswigHolstein ist Europapolitik - Gott sei Dank auch in diesem Hause - ein integraler Bestandteil der Landespolitik geworden. Über alle Parteigrenzen hinweg interessieren sich Abgeordnete dafür und arbeiten sehr interessiert und auch mit großen Fähigkeiten uns anzuregen, mit. Nutzen wir also alle zusammen - Sie als Parlamentarier und wir als Regierung - unsere Chancen, die wir in Brüssel und in Europa für unser Land haben! Ich hoffe, dass das auch in den nächsten Legislaturperioden so bleiben wird, denn Europa wird mehr und mehr zusammenwachsen, es wird größer werden und es wird, wenn es endlich flügge geworden ist, seine Kräfte mit denen von Amerika oder Asien messen können.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die CDUFraktion erteile ich Herrn Abgeordneten Uwe Greve.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Gestaltung der praktischen schleswigholsteinischen Europapolitik angeht, gibt es wenig Unterschiede zwischen den Parteien. Auch die CDU sieht die europäische Komponente der schleswigholsteinischen Politik insbesondere in der Erweiterung der Zusammenarbeit mit den Anrainerstaaten der Ostsee. Auch wir sind der Überzeugung, dass der maritimen Wirtschaft und Forschung Vorrangigkeit eingeräumt werden muss, dass Meeresschutz und Sicherheit der Seewege auf der Ostsee für uns Schleswig-Holsteiner von lebenswichtiger Bedeutung sind, dass die Verkehrswege im Ostseeraum verbessert werden müssen. Ebenso halten wir die Nutzung des europäischen Forschungsnetzwerkes in vielen Sektoren für äußerst sinnvoll. Da gibt es in diesem Haus wohl keinen Dissens.

Dass die Landesregierung diesem Bericht Volumen gegeben hat durch eine Reihe von Aussagen, die nur wenig mit konkreter Europapolitik zu tun haben, wie zum Beispiel die Propagierung ihrer Vorstellung von Steuerpolitik, die von der Bundes-SPD vehement abgelehnt wird, ist in Wahlkampfzeiten zu verzeihen. Unverständlich ist mir aber, dass dieser Europabericht nirgends einen kritischen Ansatz zur Brüsseler Europapolitik enthält. Die Europapolitik ist für die Landesregierung in ihrem Kern nichts anderes als Vollzug von Brüsseler Vorgaben. Wenn Landespolitik in den nächsten zehn bis 20 Jahren überhaupt noch Sinn haben soll, dann müssen auch aus unserem Parlament eigene Impulse und wirkliche Subsidiarität wachsen und nicht alle Vorstellungen aus Brüssel einfach kritiklos übernommen werden.

(Beifall bei CDU und FDP)

Es ist nach wie vor nicht hinzunehmen, dass Deutsch nicht die dritte Amtssprache der Europäischen Union ist. Überaus wichtige Papiere, wie gerade jetzt wieder das Kommissionspapier zur Wirtschaftsmigration, liegen viele Tage, manchmal erst Wochen später, in deutscher Fassung vor. Die am meisten gesprochene Sprache Europas ist Deutsch. Deutschland ist der größte Nettozahler der EU und hat schon deshalb ein Recht auf die dritte Amtssprache. Ich verstehe nicht, dass wir nicht den Mut haben, ein solches Thema auch einmal im Landtag aufzugreifen.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

(Uwe Greve)

Ebenso kritisiert werden muss die Tendenz der Kommission zur Vereinheitlichung immer neuer Politikbereiche. Europas Aufstieg über Jahrhunderte sog seine Impulse gerade aus unterschiedlichen Strukturen, aus der Möglichkeit des Vergleichs, welche Organisationsform, aber auch welche Ideen, welche Triebkräfte den besten Fortschritt garantieren. Vereinheitlichung ist Stillstand. Wettbewerb von Ideen und Strukturen allein garantiert eine bessere Zukunft Deutschlands und Europas. Was da in Brüssel zum Beispiel über Arbeitsmarktpolitik oder Tourismus in Hunderten von Seiten zusammengeschrieben wird, ist zumeist für die lokale und regionale Politik in diesen Sektoren eine Sammlung von Binsenwahrheiten oder theoretischem Palaver. So etwas muss subsidiär, also unten entschieden werden.

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Überdehnung Europas kann das Ende einer vernunftgetragenen europäischen Politik bedeuten. Ich sage das jetzt in hoher Eindringlichkeit, Ruhe und Sachlichkeit, was ich über eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei zu sagen habe. Wer Chauvinismus und eine Rückkehr des Chauvinismus in Europa verhindern will, der muss aufpassen, dass gerade eine Überdehnung Europas und die damit verbundenen Probleme diesen Chauvinismus nicht neu hervorrufen. Wer der Türkei auf dem Wege helfen will, Demokratie und Islam zu vereinbaren, und glaubt, dass dies möglich ist, der kann diese Hilfe vielfältig anders gestalten als durch eine Mitgliedschaft in der EU. Die Sicherheitspartnerschaft mit der EU funktioniert seit Jahrzehnten. Wie sagte doch der heutige Ministerpräsident der Türkei, Erdogan, als er Bürgermeister von Istanbul war:

„Mit der Demokratie ist es wie mit einem Omnibus. Wenn man sein Ziel erreicht hat, steigt man aus.“

Ich weiß, dass eine Reihe von Abgeordneten von Rot/Grün - lange nicht alle - die kulturellen Unterschiede als hochwirksame historische und politische Kräfte nicht anerkennen. Die politische Wirklichkeit der nächsten Jahrzehnte wird Ihnen eine fatale Lehrstunde sein.

Die Triebkräfte von Religion und Kultur sind von höchster politischer Wirkung, wie die Geschichte beweist. Das Nebeneinander von gegensätzlichen - ich betone: von gegensätzlichen, nicht von gleichgerichteten - Kulturen führt zur Befruchtung, das Durcheinander zu Dauerkonflikten. Oberschichten empfinden das Leben in einer fremden Kultur als Bereicherung, Unterschichten empfinden das Leben in einer fremden Kultur als Bedrohung.

Die aus der Türkei zu erwartenden zusätzlichen Migrationsbewegungen, besonders in Richtung Deutschland, werden nach der Prognose aller seriösen Forscher weitere Glieder der Unterschichten nach Deutschland bringen. Noch stärkere Separation statt Integration wird die Folge sein. Wer Integration wirklich will, darf aus dieser Richtung keine weitere starke Zuwanderung wollen.

Auch sollten Zwischentöne türkischer Äußerungen bei uns nicht überhört werden. So sagte Vural Öger, größter türkischer Reiseunternehmer in Deutschland - mit deutschem Pass und auch als Europapolitiker uns nicht unbekannt - laut „FAZ“ vom 25. Mai 2004:

„Was Sultan Suleiman nicht geschafft hat, schaffen heute unsere geburtenfreudigen Türkinnen in der Bundesrepublik.“

Wer solche Töne überhört, liegt daneben.

(Glocke des Präsidenten)

- Ich komme zum Schluss. - Wie undurchdacht die Vorstellung ist, die Türkei zum Vollmitglied der Europäischen Union zu machen, zeigt das Schlussbeispiel. Die EU fordert von der Türkei

(Glocke des Präsidenten)

- ich bin sofort fertig -, die überragende Stellung des Militäroberbefehlshabers abzubauen, der sogar Ministerpräsidenten absetzen kann und abgesetzt hat. Gerade das Militär ist es jedoch,

(Glocke des Präsidenten)

das mehrmals die Rückkehr der Türkei in einen politischen Islamismus verhindert hat.

Ich bitte, diese Gedanken, in aller Ruhe hier ausgesprochen, nochmals zu durchdenken.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort für die Fraktion der SPD erteile ich jetzt der Frau Abgeordneten Ulrike Rodust.

Ich weise darauf hin, dass aufgrund der Redezeitüberschreitung der Landesregierung grundsätzlich eine Minute mehr zur Verfügung steht. Ansonsten bitte ich, die Glocke des Präsidenten durchaus als Zeichen zur Beendigung der Rede zu verstehen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Greve, die Betroffenheit, die Sie in diesem Hause ausgelöst haben, spricht für sich. Darum will ich darauf nicht weiter eingehen.

(Ulrike Rodust)