Protokoll der Sitzung vom 07.06.2000

(Vizepräsidentin Dr. Gabriele Kötschau übernimmt den Vorsitz)

Sicherlich ist das für Herrn Christian Pfeiffer ein Aspekt seiner Studie gewesen. Warum sollte er als Kriminologe auch andere Aspekte des Fernbleibens bewerten? Wobei ich, offen gesagt, immer noch rätsele ob der Methode und ob der ihm zugeführten Zahlen. Die Verpflichtung der Schulen, unentschuldigtes Fehlen zu vermerken, besteht. Allerdings besteht bislang keine Verpflichtung - auch nicht in den Schulaufsichtsbehörden -, diesbezügliche Statistiken zu erstellen. Ich weiß aus eigener Quelle, dass in den Landkreisen diesbezüglich auch gar keine Erhebungen angestellt worden sind, und ich denke, es wäre gefährlich, anhand eines Ausschnittes eine repräsentive Aussage über das unentschuldigte Fehlen von Schülerinnen und Schülern im ganzen Land zu machen. Denn wir wissen es selbst, entweder aus der eigenen Erfahrung, weil wir früher selbst einmal geschwänzt haben,

(Zurufe von der SPD: Was? - Brita Schmitz- Hübsch [CDU]: Sie haben eine Vorbildfunk- tion!)

oder von unseren Kindern, und wir können auch die Kolleginnen und Kollegen befragen, die hier im Hause sitzen und einst der praktizierende Pädagoginnen und Pädagogen gewesen sind: Die Leistungsverweigerung, etwa bei anstehenden Klassenarbeiten, nicht erledigte Hausaufgaben, Schulängste ganz allgemein, aber auch Kontaktschwierigkeiten wie das Gefühl, nicht zur Klassengemeinschaft dazuzugehören, sind nur wenige und sehr bekannte Gründe, aus denen heraus Kinder und Jugendliche den Schulbesuch verweigern. Meistens - das wissen wir auch - wird Schwänzen im Wesentlichen durch elterliche Entschuldigungen gedeckt oder, wenn es massiver aufgetreten ist, häufig sogar durch ärztliche Gutachten bestätigt. In diesem Zusammenhang kommen wir eben nicht mit den Verdachtsmomenten des Einstiegs

(Dr. Henning Höppner)

in die Jugendkriminalität weiter; im Gegenteil. Ich habe es schon betont: Ein ordnungsrechtlicher Ansatz bei der Bewältigung dieser Probleme führt uns in die falsche Richtung.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Sanktionen werden nichts bringen. Wir müssen Hilfen anbieten. Wir müssen die Hilfen auch deshalb anbieten, weil wir offen beobachten können, dass die Bereitschaft zum Schwänzen unter den sozial benachteiligten Menschen größer ist als bei anderen.

Die schulpolitischen Sprecher der vier Fraktionen haben sich im Hinblick auf die Sensibilität dieses Themas entschlossen, einen gemeinsamen Antrag zu stellen. Ich bitte Sie, diesem Antrag in der Drucksache 15/158 zuzustimmen.

(Beifall)

Das war die Jungfernrede des Abgeordneten Dr. Höppner.

(Beifall)

Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Klug.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus dem Film „Casablanca“ stammt die bekannte Formel: „Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen.“ Die Diskussion zum Thema Fernbleiben vom Unterricht, die vor dieser Landtagsdebatte geführt wurde, hatte eigentlich ein ähnliches Schema als Grundlage.

Die erste Szene: Der Abgeordnete Jost de Jager holt seitens der CDU-Fraktion zu einem schulpolitischen Globalrundumschlag gegen die Landesregierung aus.

Zweite Szene: Auftritt des Herrn Staatssekretärs Stegner! Die Landesregierung antwortet durch ihren bildungspolitischen Mann fürs Grobe: Die Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer aus Hannover bestehe nur aus „aufgeblasenen Zahlen“.

Folglich ist die rot-grüne Schulwelt wieder in Ordnung und die Regierung kann zur Tagesordnung übergehen, und zwar natürlich in der bewährten Arbeitsteilung: Frau Erdsiek-Rave ist für allfällige wie gute Nachrichten und schöne Events zuständig und der Herr Staatssekretär für die Ableugnung oder hilfsweise für die Beschönigung der unangenehmen Dinge.

(Beifall bei F.D.P. und CDU)

Während der Pause könnten die Herrschaften aus dem „Rucksack“ zur Erfrischung noch Rotkäppchen-Sekt

und grünen Wackelpudding reichen. Dann wäre die landespolitische Kleinkunstbühne fast perfekt.

(Heiterkeit bei F.D.P. und CDU)

Meine Damen und Herren, das ritualisierte Wechselspiel zwischen Schwarzmalerei und Schönfärberei führt in der Sache nicht weiter. Leider hat sich der Kollege de Jager - das muss ich kritisch anmerken bei seiner durchaus berechtigten Auseinandersetzung mit der Pfeiffer-Studie zu der Behauptung verleiten lassen, die Hauptschulen seien in diesem Lande - ich zitiere aus Ihrer Presseerklärung - „zu unattraktiven Restschulen verkommen“. Dieses Pauschalurteil wird den Leistungen und Anstrengungen vieler Hauptschulen in Schleswig-Holstein nicht gerecht.

(Beifall bei F.D.P., BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Solche allgemeinen Aussagen sind in einer Zeit, in der es darum geht, Negativklischees über diese Schulart zu überwinden und positive Beispiele, die es in diesem Bereich auch in diesem Lande glücklicherweise gibt, als Vorbilder in den Vordergrund zu stellen, nicht hilfreich. Im Übrigen gibt es meines Erachtens keine Schulart in diesem Lande, die von Standort zu Standort, von Schule zu Schule ein so unterschiedliches Bild aufweist wie die Hauptschulen. Auch das verbietet eigentlich diesbezügliche Pauschalurteile.

Auf der anderen Seite - das muss ich so sagen - stank die zunächst in Presseerklärungen zu hörende regierungsamtliche Abwiegelei irgendwie zum Himmel. Es mag ja sein, dass die Pfeiffer-Studie methodische Mängel aufweist, so zum Beispiel, wenn in ihr auch Zahlen über entschuldigtes Fernbleiben enthalten sind. Herr Pfeiffer hat selbst eingeräumt, dass im Hinblick hierauf drei bis vier Prozentpunkte in seinen Untersuchungsergebnissen enthalten seien. Gleichwohl bleibt das Faktum, dass diese bundesweite Untersuchung, in die acht Städte mit ungefähr 18.000 Schülern einbezogen waren, ein erhebliches Nord-Süd-Gefälle aufweist und dass die höchsten Zahlen für Kiel, für Hamburg und für Hannover ermittelt worden sind. Diese Untersuchung ist übrigens überall nach dem gleichen methodischen Verfahren angestellt worden. Deshalb besteht das entscheidende Problem, mit dem man sich auseinander setzen muss, in der Frage nach dem Gefälle und nach den sehr hohen Werten im Norden. Jedenfalls kann man daraus keinen Meisterbrief für die heile rot-grüne Schulwelt im Norden der Republik ableiten.

Es gibt folglich gute Gründe, sich mit dem Problem „unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht“ auseinander zu setzen. Das hat auch die Landesvor

(Dr. Ekkehard Klug)

sitzende der GEW in der „Norderstedter Zeitung“ vom 26. Mai zum Ausdruck gebracht, als sie gesagt hat, es handele sich bei dem unentschuldigten Fernbleiben vom Unterricht um ein „ernsthaftes und nicht zu leugnendes Problem“.

Die F.D.P.-Fraktion ist der Ansicht, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema auf der Basis der Pfeiffer-Studie und dem Bericht der Landesregierung mit den zu diesem Thema beizusteuernden Daten und höheren Einsichten zunächst im zuständigen Ausschuss erfolgen sollte. Wir vertrauen darauf, dass wir eine Diskussionsgrundlage erhalten, die im Ausschuss Grundlage der Beratung sein kann, und dass wir daraus gemeinsam Konsequenzen ableiten, Konsequenzen, die aus Sicht unserer Fraktion insbesondere im Bereich einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe liegen müssen.

Ritualisierte Formen des Schlagabtausches führen in der Tat nicht weiter. Deshalb ist es sehr erfreulich, dass sich heute am Ende doch noch alle Fraktionen zu einem gemeinsamen Antrag zusammengefunden haben. Dass auch der SSW sozusagen nicht unentschuldigt fernbleibt, ist sehr positiv zu registrieren.

(Beifall bei F.D.P., CDU und SSW)

Frau Abgeordnete Birk hat das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn Kinder und Jugendliche die Schule schwänzen, ist die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule besonders gefordert, und zwar nicht nur im Einzelfall als Krisenintervention, sondern präventiv, als am Gemeinwesen orientierte Schulorganisation und in kommunaler Sozialarbeit für Kinder und Jugendliche.

Herr Höppner hat darauf hingewiesen, dass wir als Parlament darauf angewiesen sind, Berichte zu erhalten, wie es im Lande steht. Das schleswigholsteinische Schulgesetz verweist auf diese Zusammenarbeit ebenso wie das Kinder- und Jugendhilfegesetz des Bundes sowie unser Landesjugendförderungsgesetz. Es ist erfreulich, dass Bildungsministerinnen und -minister sowie Jugendministerinnen und -minister sich einig sind, dass diese Zusammenarbeit in allen Bundesländern auf der Tagesordnung zu stehen hat.

Ich möchte an dieser Stelle auf positive Beispiele in Schleswig-Holstein verweisen, denn diese sind viel zu wenig bekannt. Ausdrücklich möchte ich zum Beispiel das Engagement der Haupt- und Realschule in Schafflund loben. Eltern, Schülerinnen und Schüler,

Lehrerinnen und Lehrer haben es in einer gemeinsamen Initiative geschafft, überwiegend männlichen Jugendlichen, die überhaupt keine Lust mehr hatten, zur Schule zu gehen, in einer Kleingruppe in der Schule ein Angebot zu machen. Diese Jugendlichen lernen auf diese Weise, wo ihre Fähigkeiten liegen. Sie arbeiten viel handwerklich, füllen aber auch ihre Lükken in anderen Lernstoffen auf. Ziel ist es, sie wieder in ihren Klassenverband zu integrieren. In dieser Lernphase sind sie nicht aus dem sonstigen Schulleben ausgeschlossen - ganz im Gegenteil.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie gewinnen wieder Zutrauen zu sich selbst, sie kommen wieder gern zur Schule. Das sollte das Ziel sein.

Ein zweites Beispiel ist in Flensburg schon vor einigen Jahren etabliert worden. Hier haben sich das Jugendaufbauwerk und eine Schule einer Gruppe von Mädchen angenommen, die jahrelang nicht mehr regelmäßig zur Schule gingen. In Gesprächen mit der Sozialpädagogin und der Lehrerin wurde herausgefunden, dass häufig Erfahrungen wie sexueller Missbrauch und Ähnliches mehr die Biographie der Mädchen schon so früh zerrüttet hatten, dass der Wille, an sich selbst zu glauben, einfach nicht mehr vorhanden war. Auch diese Mädchen sind wieder gern zur Schule gegangen, was unser Ziel sein sollte.

Hier könnten noch mehr Beispiele angeführt werden. Die Genannten sollen beispielhaft dafür stehen, dass sich in Schleswig-Holstein vielerorts schon sehr viel tut. Wir möchten aber, dass diese Beispiele im wahrsten Sinne des Wortes Schule machen. Das heißt, dass sich Jugendhilfe und Schule regelhaft besser miteinander verzahnen müssen und dass das, was in den Gesetzen auf dem Papier steht, noch besser als bisher in Realität umgesetzt wird.

Das bedeutet, dass wir uns mit dem Bericht sehr intensiv auseinander setzen, die Lücken feststellen und klären müssen, was zu tun ist. Ich glaube, wir werden nicht darum herumkommen, uns über mögliche Änderungen von Verordnungen und Gesetzen und auch von Finanzströmen zu unterhalten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich hoffe, dass wir hierbei zu einer genau so großen Einhelligkeit kommen, wie wir sie nach der Umformulierung des ursprünglichen Antrags, die in nicht unerheblicher Weise von unserer Seite erfolgte, erreicht haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Frau Abgeordnete Spoorendonk hat das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorweg. Auch der SSW trägt diesen gemeinsamen Antrag mit. Das ist also ein interfraktioneller Antrag.

(Beifall der Abgeordneten Heinz Maurus [CDU] und Karl-Martin Hentschel [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN])

Dass dies nicht aus dem Antrag hervorgeht, ist nur ein Fehler gewesen. Ich hatte den Kollegen Jost de Jager nicht richtig verstanden. Er kam auf mich zu, was ich hier dankend erwähnen möchte. Es ist also ein echter interfraktioneller Antrag.

Aufhänger dieser Debatte ist eine bundesweite Studie zur Jugendgewalt der kriminologischen Forschungsstelle Niedersachsen unter der Leitung von Christian Pfeiffer. Als Nebenprodukt dieser Studie wurde im Mai 1998 ein Anteil von 15,1 % fehlenden Schülerinnen und Schüler an Kieler Hauptschulen ermittelt. An dieser Stelle möchte ich mich auf den Kollegen Klug beziehen. Ich fand es in dem Ursprungsantrag der CDU mehr als unglücklich, dass gerade die Vorurteile gegen Hauptschulen und Restschulen noch einmal genannt wurden. Ein differenziertes Bild zum Absentismus kann man also von dieser Studie nicht erwarten, denn das Fernbleiben vom Unterricht war gar nicht Thema der Studie.

(Wortmeldung des Abgeordneten Jost de Ja- ger [CDU] - Glocke der Präsidentin)

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de Jager?