Protokoll der Sitzung vom 13.11.2002

Bericht und Beschlussempfehlung des Sozialausschusses Drucksache 15/2107

Es muss jemand aus dem Ausschuss Bericht erstatten. Herr Abgeordneter Eichstädt, bitte!

Notfalls kann dies unter Verweis auf die Vorlage geschehen.

(Heiterkeit)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verweise auf die Vorlage.

(Heiterkeit und Beifall)

Gibt es zu diesem Beitrag Wortmeldungen? Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort Herrn Abgeordneten Eichstädt.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann Ihnen nach dieser Kurzfassung einen etwas längeren Beitrag nicht ersparen.

Der Bericht über die fortschreitende Verschuldung von Kindern und Jugendlichen hat deutlich gemacht: Immer mehr junge Menschen tappen in die Schuldenfalle. Immer mehr junge Menschen beginnen ihren Start in das Berufsleben mit einem Minus auf dem Konto. Viele von ihnen werden ihr Leben lang nicht aus diesem Dilemma herausfinden.

Jetzt genießen, später zahlen. Warum wollen Sie länger warten? Genießen Sie die Vorzüge Ihres neuen Autos schon heute, zahlen Sie nach Weihnachten! Oder: Zahlen Sie nur 1,50 € pro Tag! Nahezu in allen Konsumbereichen sind derartige Werbesprüche Bestandteil der Werbestrategie. Schnäppchen werden angeboten, auf Raten, oft mit der Drohung, dieses Angebot gelte nur für kurze Zeit. Ergo: Wer nicht zuschlägt, ist dumm.

Werbung wird gezielt auf junge Menschen ausgerichtet, um die Milliarden an Taschengeld abzuschöpfen, Geld, welches Kindern zur Verfügung steht, und leider auch solches, das ihnen eigentlich gar nicht zur Verfügung steht. Schon lange wird nicht mehr alleine das angeblich unverzichtbare Produkt beworben, sondern mindestens ebenso aggressiv die Möglichkeit der Verschuldung als solche. Mein Haus, mein Boot, mein Auto: Wer das nicht hat, ist irgendwie hinter dem Mond und hat einfach den falschen Finanzberater, suggeriert eine Werbung.

Dies alles geht an den Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorbei. Sie machen mit und sind inzwischen in großer Zahl so sozialisiert, dass sie - wie eine Studie der Universität Oldenburg belegt - es überhaupt nicht peinlich finden, Schulden zu machen, und das Geliehene nur unpünktlich zurückzahlen.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Oder gar nicht!)

Meine Damen und Herren, ich will auf eine Schuldenfalle besonders hinweisen. Die ist das Handy. Für viele junge Menschen gehört das Telefonieren an jedem Ort und zu jeder Zeit zum Lebensgefühl. Man hat es. Nur dann bin ich in Verbindung und kann Kontakt aufnehmen, kann gerufen werden.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Vielleicht kann der Diskussionszirkel nach draußen gehen.

Gezielt wurde den Kindern und Jugendlichen durch Werbung ein Lebensgefühl vermittelt, das stark durch die Kommunikation per Handy und per SMS geprägt ist. Man hört, dass dieses Lebensgefühl auch einigen Abgeordneten dieses Hauses nicht ganz fremd ist.

(Beifall der Abgeordneten Lothar Hay [SPD] und Joachim Behm [FDP])

Ganze Taschengelder, ja, ganze Diäten gehen für die Handygebühren drauf. Handys sind bei den Jugendlichen ein nicht zu unterschätzender Grund, häufig der entscheidende, für den Schritt in die Schuldenfalle.

(Beifall des Abgeordneten Wolfgang Baasch [SPD])

Jeder zweite der 12- bis 19-Jährigen hat heute ein Mobiltelefon. 1999 waren es nur 14 %. Die Strategie der Handyprovider, erst den Jugendlichen und Kindern mit billigen Tarifen die Telefon- und SMSKommunikation schmackhaft zu machen und dann die Gebühren vor allem für SMS schrittweise zu erhöhen, ist exemplarisch für den Aufbau einer Schuldenfalle. Das Ergebnis: Telefonrechnungen von 500 €, 700 € sind nach Beobachtungen von Schuldnerberatern bei Schülern keine Einzelfälle.

Meine Damen und Herren, die fortschreitende Verschuldung von Kindern und Jugendlichen ist in dem uns vorliegenden Bericht umfassend beleuchtet worden, umfassend, aber nicht abschließend. Denn während sich viele Untersuchungen damit befasst haben, wie in privaten Haushalten allgemein die Verschuldung von immer mehr Menschen die Lebenswirklichkeit bestimmt, ist die Verschuldung von Kindern und Jugendlichen als eigenständiges Phänomen, das auch eigenständige Reaktionsmuster erfordert, bisher nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden.

Was können wir tun? Es wird wenig Sinn machen, von Jugendlichen oder Kindern einfach zu fordern, keine Schulden zu machen. Auch habe ich wenig Hoffnung, dass sich die Werbeindustrie oder ihre Auftraggeber entschließen, ihr Verhalten und ihre Strategie zu ändern.

(Beifall bei der SPD)

Vielmehr muss darauf hingewirkt werden, dass die Kinder und Jugendlichen schon früh, sehr früh fit werden, mit den Verlockungen und dem sozialen Druck so umzugehen, dass es möglichst nicht zu einer fortschreitenden Verschuldung kommt.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die von der Landesregierung im Bericht unter anderem genannten Handlungsfelder sind als erster Schritt deshalb folgerichtig: mehr Prävention in den Schulen, schon in der Grundschule Aufklärung und Taschengeldtraining, Zusammenarbeit von Schulen und Schuldnerberatungsstellen, ein Pilotprojekt Taschengeldberatung und eine Informationsschrift zur Verschuldung von Kindern und Jugendlichen und - was ich für wichtig halte - die Studie der CAU zur Situation von verschuldeten Familien als Ausgangspunkt für die Beratung weiterer Handlungsansätze.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten mit großer Aufmerksamkeit dieses von der Landesregierung in Auftrag gegebene Gutachten lesen, wenn es vorliegt, das mehr Aufschluss über die Situation von verschuldeten Familien und hoffentlich auch Kindern und Jugendlichen geben wird. Vielleicht ist es auch notwendig und sinnvoll, -

(Glocke des Präsidenten)

Bitte nur noch eine Schlussbemerkung.

- hier noch einmal nachzuarbeiten und eine Fragestellung nachzuschieben, die die spezielle und spezifische Situation von verschuldeten Kindern untersucht.

Ich komme zum Schluss. Es gibt - das ist deutlich geworden - Handlungsbedarf; denn es kann uns nicht gleichgültig sein, ob junge Menschen bei Eintritt in das Berufsleben schon mit dem ersten Gehalt ihr belastetes Konto nicht ausgleichen können: ein denkbar schlechter Start ins Leben. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, welche negativen Einflüsse dies auf die Motivation im Arbeitsprozess, aber auch auf die Chance haben wird, ein selbst bestimmtes Leben ohne den Druck einer Schuldenfalle zu führen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich erteile dem Abgeordneten Ritzek das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Betrachten Sie bitte meinen Beitrag als ergänzenden Beitrag zu dem des Vorredners. Denn ich glaube, es besteht kein Zweifel, dass dieses Problem von allen erkannt wurde und von allen gemeinsam gelöst werden muss.

(Manfred Ritzek)

Meine Damen und Herren, Mitte nächsten Jahres startet das UMTS-Handynetz. Dann können Sie auf dem kleinen Mikrohandyschirm bei geeigneten Geräten Straßenkarten, Bilder von der Freundin oder Videofilme abrufen und Schumi kann sein Auto in Italien sehen, so die aktuelle Werbung im Fernsehen. UMTS ist hundertmal schneller in der Übertragung als das gegenwärtige System. Allerdings erwarten die Anbieter auch 50 € pro Monat von den Handybenutzern.

Ich hoffe, dass die neue Generation der Geräte nicht dazu führt, dass unser Problem dadurch verstärkt wird.

(Beifall des Abgeordneten Werner Kalinka [CDU])

Erstmals gibt es einen Bericht der Landesregierung zum Thema „Schutz junger Menschen vor fortschreitender Verschuldung“. Es ist ein erster Versuch, inhaltlich noch herantastend. Ich habe der Ministerin einige Quellen genannt, wo möglicherweise noch Unterlagen beschafft werden können, die sie noch nicht hat.

Differenzierte Aussagen über Verhaltensweisen zur Verschuldung müssen noch erarbeitet werden. Immer mehr Jugendliche werden in Deutschland zu Schuldnern. Das bereits angesprochene Münchener Institut für Jugendforschung hat aus Befragungen für rund 19 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene einen Schuldenberg von zirka 3,6 Milliarden € ermittelt. Nach Angaben der Inkassobranche stehen junge Menschen bis zu 25 Jahren mit 5,1 Milliarden € in der Kreide.

Schon 6 % der 6- bis 12-Jährigen geben nach Angaben des Instituts zu, Schulden zu haben, zumeist zusammengepumpt von Freunden und Eltern. Der Schuldenberg steigt je nach Alter der Jugendlichen. Bei den 21- bis 25-Jährigen steigt laut Angaben des Instituts für Jugendforschung die Verschuldung auf mehr als 3.000 €. Ein Fünftel dieser Altersgruppe drücke diese Schuldenlast.

Kinder und Jugendliche können heute so viel Geld ausgeben wie keine Generation vor ihnen. Sie sind eine umworbene Konsumgesellschaft, deren Kaufkraft auf über 10 Milliarden € geschätzt wird. „Kaufe jetzt, zahle später“ ist nicht nur ein beliebter Slogan, mit dem Versandhäuser Kunden ködern, sondern offenbar auch der Wahlspruch vieler Jugendlicher. Vor allem die Nutzung neuer Medien und dabei ganz besonders die Kosten für die Mobiltelefone sind der Hauptgrund für Schulden bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

In einer etwas älteren dpa-Meldung - vom Juni 2000 - heißt es, dass mehr als 1,5 Millionen Handybesitzer dieses vermeintliche Statussymbol besitzen, ohne es sich leisten zu können. Forderungen in Höhe von fast 400 Millionen € mussten die Mobilfunkunternehmen im Jahre 2000 abschreiben. Das sind 3,5 % des gesamten Umsatzes.

Aber nicht nur das Handy ist Schuldenverursacher. Dazu gehören auch andere Geräte, die „in“ sind. Ein paar Tage Dauersurfen im Internet führt schnell zu wachsenden finanziellen Problemen. Hinzu kommt das Online-Shopping mit seinen Verlockungen. Es verleitet zum Einkaufen, da durch die indirekte Zahlungsweise die Hemmschwelle, über seine Verhältnisse zu leben, deutlich gesenkt wird. Durch die Nutzung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs besteht die Gefahr, dass sich die Jugendlichen ein ganz anderes Konsumverhalten angewöhnen, als wenn sie wirklich Bargeld in der Tasche hätten. Einmal ist es Kaufsucht, einmal sind es Statussymbolkäufe, einmal Frustkäufe, die Jugendliche in die Schuldenfalle treiben. Meist aber können sie den Verlockungen der Konsumgesellschaft nicht widerstehen.

Meine Damen und Herren, verstärkt wird dieses Verhalten der Jugendlichen durch eine ständig steigende Konsummentalität, die sich in den Elternhäusern, in den Familien breit macht. Mit großer Sorge wird festgestellt, dass die jungen Leute immer weniger Hemmungen haben, sich zu verschulden, so die Aussage der Inkassobranche. Eine Studie des bereits erwähnten Oldenburger Wissenschaftlers Armin Lewald belegt das auf dramatische Weise. Sein Fazit lautet: Für über 50 % der mehr als 1.000 befragten Schülerinnen und Schüler ist die Finanzierung von Käufen durch geliehenes Geld ein Akt selbstverständlicher Alltagsbewältigung. Die Bereitschaft zum Verzicht aus Geldmangel kennt nur etwa ein Drittel der Schüler. Je älter, umso weniger sind die Gewissensbisse bei der Verschuldung ausgeprägt. Schülerinnen und Schüler haben Erfahrungen im Umgang mit Leihen und Verleihen, mit Kredit und Schulden. Jugendliche sind nicht auf die Kreditgesellschaft vorbereitet. Sie wissen nicht oder verdrängen die Forderung, dass Kredite, Gebühren, Miete, Leasingraten am Einkommen zu orientieren sind. Das Nichtbezahlen von Rechnungen mit dem daraus folgenden Wechsel zu anderen Lieferanten oder schlimmer noch zur Beschaffungskriminalität wird zur Scheinlösung des Problems. Dieses Phänomen gibt es seit fünf Jahren mit wachsender Tendenz. Es ist also unsere Aufgabe, es zu analysieren und zu Präventionsmaßnahmen zu kommen.

Herr Abgeordneter Ritzek, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich komme zum Schluss.

Im aktuellen Fall muss auch geholfen werden. Ich bitte um Zustimmung zum Bericht der Landesregierung.

(Beifall bei der CDU)

Ich erteile das Wort Herrn Abgeordneten Dr. Garg.