Protokoll der Sitzung vom 29.08.2003

Natürlich wird man sich über das Thema Risiken unterhalten müssen. Was jetzt passiert, Herr Garg - das können Sie nicht leugnen -, der Risikostrukturausgleich leistet nicht das, was er eigentlich leisten soll, nämlich dafür zu sorgen, dass sich nicht einige Kassen die jungen, gesunden Mitglieder aussuchen und die anderen für die wirklichen Risiken zu tragen haben.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP])

Wir wissen doch, 20 % der Mitglieder verursachen 80 % der Kosten. Dieses Problem lösen Sie nur mit Solidarität.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD - Dr. Hei- ner Garg [FDP]: Durch den Kontrahierungs- zwang lässt sich das Problem lösen!)

Was im Augenblick passiert, ist, dass die Privatkassen und insbesondere die neu gegründeten Betriebs

krankenkassen dieses System missbrauchen. Hier müssen wir eine Änderung finden.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich habe eine Reihe von Dingen gesagt, Herr Dr. Garg, wie ich mir ein Gesundheitssystem vorstelle - nicht nur ich, sondern es gibt auch Experten, die hierzu Vorstellungen haben -, wie durch Positivliste, durch Integration von ambulant und stationär, durch Vermeidung von Doppeluntersuchungen, durch eine Führung über das Hausarztprinzip und durch eine Reihe von Interventionen tatsächlich mehr eine Situation entsteht, die Kosten einspart. Durch die Tatsache, dass wir alle älter werden, müssen wir durch, damit müssen wir uns auseinander setzen. Das löst kein Finanzsystem der Welt, es sei denn, wir wollen uns alle in irgendeiner Form in Luft auflösen. Aber das wird ja hier keiner befürworten,

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Man muss das Fi- nanzsystem darauf abstimmen!)

dass wir uns so verhalten, wie das offensichtlich ein Vertreter der Jungen Union propagiert.

Insofern verwahre ich mich gegen den Vorwurf, wir hätten keine inhaltlichen Vorschläge. Die Grünen waren die Ersten, die in all den Jahren, in denen sich noch niemand über eine Reform des Gesundheitssystems Gedanken gemacht hat, inhaltliche Strukturvorschläge gemacht haben.

(Brita Schmitz-Hübsch [CDU]: Ach du lie- ber Himmel!)

Insofern möchte ich noch einmal an die FDP gerichtet fragen: Wo denn - abgesehen davon, dass Sie alle Risiken privatisieren wollen, wie Sie es gerade in Ihren Modellen vorgeschlagen haben - ist Ihre Antwort? Kopfpauschalen oder Prämiensysteme sind nicht die Antwort. Wir brauchen Gerechtigkeit und wir brauchen nicht noch mehr Privatisierung von Risiko.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vereinzelt bei der SPD und Beifall des Ab- geordneten Lars Harms [SSW])

Ich erteile Frau Ministerin Erdsiek-Rave das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert. Da steht hier ein FDP-Po

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

litiker, stellt einen CSU-Politiker unter Sozialismusverdacht und die CDU im Landtag klatscht dazu.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das hat etwas. Es zeigt aber auch - jedenfalls ein bisschen -, wie ideologisiert die Debatten in Deutschland über Gesundheitspolitik immer noch sind. Davon müssen wir wegkommen. Herr Kalinka, der erste Schritt mit dem Kompromiss über die Eckwerte der zwischen SPD und CDU gefunden wurde, ist ein richtiger und wichtiger Schritt auf diesem Weg. Wir jedenfalls haben das begrüßt. Das ist nämlich auch ein Zeichen für die gemeinsame Verantwortung der politischen Parteien auf diesem wichtigen Feld. Ich werde mich heute nicht hinstellen und diesen Kompromiss zerreden. Er enthält nämlich auch gute Ansätze. Eines aber muss klar sein: Das ist nur der erste Schritt. Auf diesem schwierigen Weg, die gesetzlichen Krankenversicherung überhaupt zukunftsfest zu machen, müssen weitere Schritte folgen.

Eines muss auch klar sein: Die Einführung einer Bürgerversicherung, die schlicht mehr Geld in die Kassen spült, kann nicht am Anfang stehen. Über die Einführung einer neuen Versicherungsart kann erst dann überhaupt entschieden werden, wenn die Grundsanierung, sozusagen die Zukunftsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen, gesichert ist.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Herr Kalinka und offenbar die gesamte CDU hier im Haus, im Gegensatz zur CDU bundesweit - so muss man sagen -, weiß jetzt schon, wie es nicht gehen darf, nämlich auf keinen Fall mit einer Bürgerversicherung. Ein typischer Schnellschuss, der sich mit den ganzen komplexen Fragen und den typischen Ausgestaltungen und Modifizierungen einer Bürgerversicherung oder auch ihren Alternativen noch gar nicht auseinander setzt.

Gestern hat die Rürup-Kommission ihren Bericht an Ulla Schmidt übergeben. Auch die Fachöffentlichkeit kennt den Bericht erst seit ein paar Stunden. Die Kurzfassung liegt vor. Der kann man entnehmen, dass der Bericht keine abschließende Empfehlung enthält

(Veronika Kolb [FDP]: Traurig genug!)

zu den Alternativmodellen zur gesetzlichen Krankenversicherung. Er enthält auch keine Empfehlung zum Modell einer Bürgerversicherung. Es werden vielmehr die Varianten Bürgerversicherung, die mit den Vorstellungen von Herrn Lauterbach verbunden ist, und das alternative Kopfpauschalensystem aus der Feder von Herrn Rürup mit ihren jeweiligen Vorzü

gen und Nachteilen einander gegenüber gestellt. Allein dies ist schon ein Hinweis darauf, dass das zukunftsträchtigste Modell und der Stein der Weisen noch nicht gefunden sind. Dieser Auffassung schließt sich derzeit die Landesregierung an.

Ich will auf einen Punkt zu sprechen kommen, der für die Bewertung dieses Antrages wichtig ist. Das Modell der Bürgerversicherung und das alternativ diskutierte Kopfpauschalensystem schließen sich in vielen Teilelementen keineswegs aus. Sie sind in Einzelelementen sogar koppelbar. So könnte sich eine individuelle Kopfpauschale stärker an dem Solidargedanken der Bürgerversicherung orientieren, also einkommensabhängige Elemente berücksichtigen, und im Gegenzug könnte man Elemente des Kopfpauschalensystems mit der Bürgerversicherung kombinieren, etwa in der Frage der Mitversicherung von Familienangehörigen. All dies kann man erst dann wirklich seriös diskutieren, wenn man sich mit den Voten und den Analysen der Kommission in der gebotenen Sorgfalt auseinander gesetzt hat.

Man kann jedenfalls nicht wenigen Stunden nach der Veröffentlichung des Gutachtens schon Einzellösungen propagieren, die wirklich alle Probleme lösen. Das hat heute hier wohl auch niemand wirklich gewollt - außer Ihnen, Herr Kalinka, der Sie schon heute wissen, was alles nicht geht. - Sie sagen das ja ganz lapidar in Ihrem ersten Satz in Ihrem Antrag. Über die Spiegelstriche kann man ja reden. Je allgemeiner die Forderungen sind, desto leichter kann man sich sowieso verständigen. Dieser eine Satz, die Ablehnung der Bürgerversicherung, wobei man noch gar nicht wissen konnte, wie komplex das Ganze begründet wird und welche Alternativen da stehen, ist jedoch etwas vorschnell.

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kalinka?

Bitte.

Stimmen Sie mit mir überein, dass das Thema Bürgerversicherung nicht erst seit gestern, seit dem das Ergebnis der Kommission auf dem Tisch liegt, sondern seit Jahren öffentlich diskutiert wird?

- Das Thema Bürgerversicherung wird seit einigen

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

Wochen mehr oder weniger oberflächlich öffentlich diskutiert.

(Zuruf des Abgeordneten Werner Kalinka [CDU])

- Nein, Herr Kalinka. Uns liegt mit dem Bericht der Rürup-Kommission jetzt zum ersten Mal eine wirklich ausführliche Analyse und eine Darstellung der komplexen Problematik vor. Was bisher in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist, sind doch mehr oder weniger Schlagworte und ideologische Positionen. Das ist jedenfalls mein Eindruck.

Wir sollten nicht weiter Verunsicherung betreiben, sondern den Menschen klar und offen sagen, wie die Zukunftsperspektiven, wie die Probleme sind -

(Veronika Kolb [FDP]: Das hätten wir uns gewünscht!)

mit allen Risiken und Chancen, aber auch mit allen Möglichkeiten und Grenzen. Wir kommen nicht darum herum, die Vorschläge sehr sorgfältig zu analysieren und zu bewerten.

(Vereinzelter Beifall bei SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kalinka, Ihr Kollege im Bundestag, Herr Storm, hat dieser Woche gesagt, diese Reform verschaffe uns eine Atempause von mehreren Jahren. Ob das so richtig ist, weiß ich nicht. Sie aber für eine ruhige Reformdebatte in Sachen Versicherungssystem zu nutzen, ohne gleichzeitig Stillstand in der Gesundheitspolitik zu haben, finde ich richtig.

Die Landesregierung jedenfalls stellt sich dieser Aufgabe. Wir werden uns mit den Vorschlägen sehr qualifiziert auseinander setzen. Sie können sicher sein, dass wir uns auch auf der Bundesebene intensiv an der politischen Willensbildung beteiligen. Einer Aufforderung Ihrerseits dazu bedürfen wir jedenfalls nicht.

Abschließend will ich noch einmal sagen: Die Messlatte lautet Generationengerechtigkeit, Finanzierbarkeit, soziale Ausgewogenheit.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An diesen drei Messlatten und Maßstäben werden wir alle vorliegenden Vorschläge prüfen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Weitere Wortmeldungen sehe ich nicht. Damit schließe ich die Beratung. Es ist Antrag auf Abstim

mung in der Sache gestellt worden. Ich stelle also den Antrag der CDU, Einführung einer Bürgerversicherung im Gesundheitswesen abzulehnen, Drucksache 15/2832, zur Abstimmung. Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW gegen die Stimmen von CDU und FDP abgelehnt.

Wir müssen auf jeden Fall heute noch Punkt 23 a aufrufen. Das ist möglich, weil sich die Fraktionen darauf verständigt haben, diesen Antrag ohne Aussprache zu behandeln. Ich rufe also Punkt 23 a auf:

Kein Auslaufen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in den alten Bundesländern (GA-West) ab 2004