Protokoll der Sitzung vom 30.09.2005

(Anne Lütkes [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das lassen wir uns auch nicht un- terstellen!)

- Das tue ich auch nicht. Aber ich finde, man muss diese Diskussion noch einmal führen, ob man europäische Identität einfach so per Lehrplan in den Schulen „durchführen“ kann - unter dem Strich betrachtet wohl nicht. Man kommt weiter, wenn man es selbst erlebt und wenn es selbst gelebt wird. Dass die Europaschulen eine hervorragende Arbeit leisten,

(Anke Spoorendonk)

wissen wir. Ich möchte aber auch noch einmal ansprechen, dass es nicht nur um die Europaschulen gehen kann. Herr Kollege Ritzek hat immer wieder gesagt, es gebe auch andere Schulen und alle Schulen in Schleswig-Holstein seien gefragt. Da sind wir einer Meinung. Ich möchte auch noch einmal auf die hervorragende Arbeit der Europaklassen hinweisen, die Zusammenarbeit zwischen Niebüll und Tøndern. Das ist gelebte europäische Zusammenarbeit. Dort erfahren Schülerinnen und Schüler am eigenen Leibe, was es bringt, wenn man Unterricht nicht nur anders gestaltet, sondern wenn man sich auch aufeinander zubewegt, indem man also wirklich räumliche Distanzen überwindet. Ich denke, diese Arbeit darf nicht vergessen werden.

(Beifall bei SSW, SPD und FDP)

Gleichwohl darf man nicht übersehen, dass man in vielen europäischen Ländern sehr wohl im positiven Sinne ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein hat und nicht gedenkt, diese nationale Identität mit einer wie auch immer definierten europäischen Identität zu tauschen. Diese Tatsache muss man ganz einfach als europäische Realität anerkennen, wenn man die Zusammenarbeit innerhalb Europas voranbringen will. Herr Kollege Fischer hat es auch schon angesprochen. Es muss also darum gehen, dass die Menschen in Europa am eigenen Leib spüren, was ihnen die europäische Zusammenarbeit bringt, dass diese Zusammenarbeit den Alltag verändert, den Alltag bereichert, den Horizont erweitert. Dabei ist es natürlich auch wichtig, wie wir denn das Europa von morgen organisieren wollen. Aus Sicht des SSW ist es wichtig, daran festzuhalten, dass wir ein soziales Europa wollen, in dem der Sozialstaatsgedanke ein tragender Gedanke der europäischen Zusammenarbeit bleibt.

(Beifall bei SSW und FDP)

Vor diesem Hintergrund appelliere ich an alle, noch einmal ein bisschen weiter zu denken, denn wir führen diese Diskussion häufig als reine EU-Diskussion. Das macht ja auch nichts, aber europäische Zusammenarbeit hat noch einen weiteren Eckpfeiler, das ist die Arbeit des Europarates. Das ist eine Arbeit, die fast in Vergessenheit geraten ist. Wenn wir uns mit europäischen Werten befassen, dann ist die Arbeit des Europarates von entscheidender Bedeutung. Ich denke mir, es wäre schön, wenn wir uns um europäische Identität bemühen, dass wir dies einbeziehen.

(Beifall beim SSW)

Wir wollen - das sage ich zum Schluss - ein Europa, in dem die verschiedenen Nationalitäten, Minderheiten und Kulturen gleichberechtigt und friedlich ne

beneinander und miteinander leben und gedeihen können. Das ist die große Aufgabe, die wir in den nächsten Jahren zu bewältigen haben. Sie umzusetzen - das wissen wir alle -, ist ganz schwierig, kostet viel Kraft, aber die Sache ist es wert.

(Beifall)

Ich danke der Kollegin Spoorendonk und erteile nunmehr Frau Abgeordneter Anne Lütkes zu einem Dreiminutenbeitrag das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Klug, der Bildungsbegriff von Ihnen als bildungspolitischem Sprecher der FDP hat mich etwas entsetzt, denn unseren Hinweis, dass die Schaffung europäischer Identität bei der Bildung ansetzen und nicht aufhören muss, so zu interpretieren, es sei damit gemeint, einen Lehrervortrag, ein Marketingkonzept, einen Frontalunterricht über Europa initiieren zu wollen, finde ich doch - fast hätte ich gesagt - ein bisschen zu viel der Ehre.

Ich darf nur einmal in Richtung Sozialdemokraten daran erinnern, dass Oskar Negt deutlich darauf hingewiesen hat, dass das exemplarische Lernen die Entwicklung der Gedanken und der Identität ganz hervorragend voranbringt und dass es mir daran anknüpfend nicht notwendig schien, in unserem Antrag den Begriff Bildung ausführlich zu erläutern. Nach meinen Erfahrungen in den letzten fünf Jahren glaube ich, dass wir gerade in diesem Parlament gemeinsam von einem weiten Bildungsbegriff ausgehen dürfen.

Ich möchte deshalb noch einmal wiederholen, was ich auch in meiner Begründung zum Antrag gesagt habe. Ich muss etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen, oder - wie Habermas sagt -: In der Praxis von Bürgern entwickelt sich die Teilnahme, die Kommunikation und der Gemeinschaftssinn. - Ich sehe da einen Scheinwiderspruch, auf dem sich gut herumreiten lässt, der aber in der Praxis nicht konkret existiert. Das Gleiche geht auch an Frau Spoorendonk.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung. Ich schlage folgendes Verfahren vor. - Abstimmung zu a): Ich stelle zunächst fest, dass der Berichtsantrag in Nummer 2 der Drucksache 16/157 durch die Berichterstattung der Landesregierung seine Erledigung gefunden hat.

(Präsident Martin Kayenburg)

Weiter ist beantragt worden, die Nummern 1 und 3 des Antrages Drucksache 16/157 federführend dem Europaausschuss und mitberatend dem Bildungsausschuss zu überweisen sowie den mündlichen Bericht der Landesregierung, der auch noch in schriftlicher Fassung vorgelegt werden soll - im Übrigen verweise ich auf das Protokoll - federführend dem Europaausschuss und mitberatend dem Bildungsausschuss zur abschließenden Beratung zu überweisen. Wer so beschließen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist einstimmig so beschlossen.

Ich darf auf der Tribüne ganz herzlich den ehemaligen Vizepräsidenten des Landtages, Herrn Alfred Schulz, begrüßen. - Herzlich willkommen!

(Beifall)

Zu b) ist ebenfalls Ausschussüberweisung beantragt worden. Es ist beantragt worden, den Antrag Drucksache 16/218 dem Europaausschuss zu überweisen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich ebenfalls um sein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:

Mitwirkung des Schleswig-Holsteinischen Landtages bei der Subsidiaritätskontrolle und dem Frühwarnsystem im Zuge europäischer Gesetzgebungsverfahren Landtagsbeschluss vom 16. Juni 2005 Drucksache 16/110

Es ist ein mündlicher Bericht der Landesregierung erbeten worden. Ich erteile dem Minister für Justiz, Arbeit und Europa, Herrn Uwe Döring, das Wort. - Bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt nicht die Dinge wiederholen, die wir gerade eben schon genannt haben,

(Beifall)

nämlich die Gründe dafür, dass wir uns mit diesem Punkt beschäftigen, sondern gleich dazu übergehen, was wir unter Subsidiaritätskontrolle und der Möglichkeit verstehen, rechtzeitig Frühwarnsysteme aufzubauen.

Es ist schon von einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet durch die Ablehnung des Entwurfs der Europäischen Verfassung ein Regelwerk abgelehnt worden ist, das zum Teil das beheben wollte, was man kritisiert hat und was mit Grund der Ablehnung war. Denn das Frühwarnsystem war ja darin enthalten.

(Rolf Fischer [SPD]: Das war gut!)

- Das war ausgezeichnet. Das hat man damit zunächst einmal hinfällig gemacht.

Ich hoffe, dass wir im weiteren Beratungsprozess zu einem Ergebnis kommen, auch wenn die jetzige Form des Verfassungsvertrages sicherlich tot ist. Das muss man wohl so feststellen. Ich hoffe, dass die Teile der Verfassung, die nutzbar waren, gerettet werden und dass entsprechende Regelungen gefunden werden, sodass das möglichst schnell in Kraft treten kann. Das wäre für die Akzeptanz der Entscheidungen ganz wichtig.

(Beifall bei der SPD und der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Wir brauchen ein solches Frühwarnsystem, damit insbesondere die Länder, aber auch die Nationalstaaten rechtzeitig eingebunden sind. Die Verfassung sah vor, dass es in diesen Fragen eine Frist geben sollte, die mit sechs Wochen allerdings sehr eng bemessen war, in denen das beraten werden kann. Wenn am Schluss ein Drittel der nationalen Parlamente dies abgelehnt hätte, wäre es entweder hinfällig oder man hätte es noch einmal qualifiziert begründen müssen. Dies wird jetzt so schnell nicht kommen. Die Frage ist, was wir in der Zwischenzeit machen.

Wie notwendig so etwas ist, sehen wir gerade an den Punkten, die wir in den letzten Tagen öffentlich gemacht haben. Herr Kollege Austermann und ich haben einen Brief Richtung Berlin auf den Weg gebracht, nachdem uns die Information erreichte, dass die britische Präsidentschaft gravierende Änderungen plant. Sie alle wissen, dass die Finanzielle Vorausschau gekürzt werden soll. Zunächst war überlegt worden, auf dem Agrarsektor noch stärker zu kürzen. Das ist insbesondere am Widerstand von Frankreich und Deutschland gescheitert. Gleichzeitig wurde über den so genannten Britenrabatt diskutiert. Dort gab es heftigen Widerstand und letztlich das Scheitern der Finanziellen Vorausschau. Jetzt soll offenbar der Versuch gemacht werden, die Kürzungen in einem anderen Bereich zu erbringen, in einem Bereich, in dem man sich geringeren Widerstand erhofft. Das ist genau der Bereich, von dem wir nachhaltig profitieren. Es geht um die so genannte künftige Ziel 2Förderung. Es geht nicht um die Ziel 1-Förderung für benachteiligte Gebiete in den neu hinzugekommenen Mitgliedstaaten und in einigen anderen Regionen Europas, übrigens auch noch in einem Teil der ostdeutschen Länder. Es geht vielmehr um die Fördermittel für strukturschwache Gebiete in den alten Ländern der Bundesrepublik.

(Minister Uwe Döring)

Wenn die 250 Millionen € - im EU-Haushalt macht das 57 Milliarden € aus - fehlen werden, dann ist unsere Förderpolitik in Schleswig-Holstein am Ende. Das ist das ganze Geld von Herrn Austermann. Der EFRE wäre am Ende, der Europäische Sozialfonds in einigen Bereichen wahrscheinlich auch. Das wäre eine Katastrophe für uns.

Wir müssen gegenüber Berlin deutlich machen, dass wir das nicht akzeptieren können, auch keine anteilige Kürzung. Wir müssen mit diesen Mitteln weiterhin die Strukturen in diesem Lande mit aufbauen.

(Beifall im ganzen Haus)

Wir haben überlegt, wen wir eigentlich anschreiben sollen. Natürlich sind das erst einmal der Finanzminister und der Wirtschaftsminister. Ich möchte an dieser Stelle allerdings auch einmal den Vorschlag in die Diskussion einbringen, vor dem Hintergrund einer neuen Regierungsbildung in Berlin jemanden zu finden, der auf Ministerebene für Europa zuständig ist.

(Beifall bei der SPD und der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Wir haben inzwischen so viele nachhaltige Entscheidungen zu treffen, dass das für Außenpolitik eigentlich eine zu ernste Angelegenheit geworden ist. Es gibt genügend andere Dinge in der Welt, mit denen sich ein Außenminister beschäftigen muss. Hier geht es um knallharte europäische Innenpolitik und dafür muss es einen klaren Ansprechpartner geben.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Das wäre etwas für Schröder!)

- Es werden weitere Vorschläge entgegengenommen.

(Heiterkeit)

Ich bin nicht dafür, eine neue Bürokratie, ein neues Ministerium aufzubauen; man könnte so etwas im Kanzleramt ansiedeln. Man sollte sich wirklich einmal überlegen, ob das nicht sinnvoll ist. Andere Nationalstaaten praktizieren das mit entsprechendem Erfolg. Dort gibt es eindeutig zuständige Personen, die sich um Brüssel kümmern, die sich um das Geschehen dort kümmern. Das wäre vielleicht ein Weg, mit dem man entsprechende Erfolge erreichen könnte und wir als Länder klare Ansprechpartner hätten.

Ich komme jetzt zu den Punkten des Berichtsantrages und der Frage, wie wir bei uns ein entsprechendes System installieren können. Wir werden uns im Kabinett noch intensiv mit der Frage beschäftigen, wie es die Landesregierung eigentlich handhabt. Ich schlage Ihnen vor, dass wir sehr rechtzeitig alle Informationen, die wir als Regierung haben, an den Europaausschuss weiterleiten. Dies wird in Teilen allerdings

nicht gefiltert sein können. Das wollen Sie sicherlich auch gar nicht. Das heißt, Sie werden sich darauf einstellen müssen, dass viel Papier auf Sie zukommt. Das ist der eine Punkt.

Wir werden Sie sehr frühzeitig über alles das unterrichten, was wir in den Gremien, in denen wir beteiligt sind, in Brüssel beraten. Wir werden Ihnen diese Papiere so weit zur Entscheidung vorlegen - auch Informationen, wie wir sie jetzt bekommen haben -, dass Sie rechtzeitig zusammentreten können, um sich eine Meinung bilden und Entscheidungen treffen zu können.

Sie werden allerdings ein Problem haben, auch wenn die Regelungen einer künftigen Europäischen Verfassung in Kraft treten würden: Es sind in jedem Fall sehr sportliche Zeitpläne einzuhalten. Ich vermute einmal, dass alle diese Sachen keine Rücksicht auf die Tagungsintensität oder die Daten nehmen werden, zu denen der Landtag beziehungsweise der Europaausschuss planmäßig zusammenkommt. Das heißt - das ist meine Überlegung -, man wird miteinander vereinbaren müssen, dass der Europaausschuss eine besondere Funktion bekommt.