Der Ministerpräsident - ich höre zu, wenn er etwas sagt - hat die Opposition zu konstruktiver Mitarbeit an Gesetzen aufgerufen. Wir werden ihn diesmal beim Wort nehmen.
Zunächst zu dem Ergebnis des Koalitionsausschusses. Schleswig-Holstein ist in Bewegung geraten. Nichts drückt das besser aus als die Broschüre des Realschullehrerverbandes, die ich Ihnen hier zeige. Vielleicht wundern Sie sich, warum ich jetzt diese Broschüre nehme. Ich tue das deshalb, weil auf der Rückseite ein bemerkenswerter Spruch steht. Ich lese ihn vor: „Schluss mit der roten Bildungsgefälligkeitspolitik der CDU!“ - Wow!
Verstehen kann ich die Realschullehrer schon. Noch vor zwei Wochen hat sich der CDU-Parteitag eisern erneut für das dreigliedrige System ausgesprochen. Lediglich eine Option auf einzelne Regionalschulen anstelle der ungeliebten Gemeinschaftsschule wurde als Kompromiss mit der SPD für denkbar gehalten.
Dann schluckte die CDU im Koalitionsausschuss nicht nur einzelne Gemeinschaftsschulen - nein, sie wandelt gleich alle Haupt- und Realschulen zu Regionalschulen um. Das ist fast mehr, als die SPD gefordert hat.
Wie Sie diesen Beschluss Ihrem Parteitag erklären, werden Sie selber wissen. Ich kann diesen Beschluss jedenfalls nur in einer Weise interpretieren das ist erfreulich -: Die CDU-Spitze in SchleswigHolstein hat erkannt, dass die Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem und die Hinwendung zur gemeinsamen Schule der einzig gangbare Weg für das deutsche Bildungssystem ist. Sie traut sich aber noch nicht, dies der eigenen Partei zu sagen, und organisiert noch gewisse Rückzugsgefechte. Aber sie ist dabei angelangt. Ich finde das gut.
Sie ziehen damit eine Konsequenz, die selbst in konservativen Kreisen längst gefordert wird, so vom bayerischen Münchner ifo Institut oder vom Verband der bayerischen Wirtschaft. Das „Handelsblatt“ berichtete am vorigen Montag von der neuen Studie finnischer Bildungsökonomen. Das ist die Antwort auf Sie, Herr Dr. Klug. 30 Jahre nach der großen Bildungsreform wurden sechs Jahrgänge vor der Bildungsreform mit sechs Jahrgängen nach der Bildungsreform verglichen. Die Schüler im gegliederten Schulsystem wurden also mit denen im anderen Schulsystem verglichen. Ergebnis:
„Die Einheitsschule reduzierte die Abhängigkeit der Einkommen der Söhne vom Elterneinkommen beträchtlich.“
„Deutschland scheitert vor allem bei der Bildungsvermittlung an die schwächeren Schüler, die in der Regel einen ungünstigen Familienhintergrund haben.“
Das Erstaunliche an diesen ganzen Studien ist: Die Spitze der Schüler leidet nicht an einem gemeinsamen Unterricht, wenn er eine innere Differenzierung hat und vernünftige Angebote gemacht wer
den. Sie leidet nicht nur nicht, sondern profitiert sogar davon, dass sie schwächeren Schülern ihr Wissen weitergeben kann. Das ist ein hochinteressantes Ergebnis. Hier besteht Konsens aller Studien der letzten Jahre.
Allerdings muss ich bei allem Lob für die Koalition trotzdem noch ein bisschen Wasser in den Wein schenken. Das alte System, das in Finnland abgeschafft wurde, war ein zweigliedriges System, wie es von der CDU in Schleswig-Holstein gerade eingeführt werden soll. Ich vermute deshalb, dass auch Ihnen klar ist, dass die Regionalschule nur ein vorläufiger Kompromiss ist. Denn vor die Alternative gestellt - da gebe ich Herrn Klug recht -, Realschule oder Gymnasium, werden alle Eltern von Kindern, die heute eine Realschulempfehlung bekommen, ihre Kinder in Zukunft aufs Gymnasium schicken. Das heißt, in wenigen Jahren wird dann die Regionalschule zur Restschule mit unter 25 % Schüleranteil. Das nenne ich nicht Kannibalisierung, sondern Elternwille. Das ist logisch. Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder möglichst viele Chancen haben. Alle Erfahrungen und alle Untersuchungen zeigen, dass das gleiche Kind mit der gleichen Intelligenz, das auf eine höhere Schulform kommt, deutlich weiter kommt als in der anderen. Insofern ist der Elternwille absolut berechtigt.
Wirklich Mut haben in dieser Situation aus meiner Sicht nur die Fehmarner bewiesen. Sie bauen ihr Gymnasium zur Gemeinschaftsschule für alle Kinder um. Die Argumentation von Fehmarn ist absolut spannend. Sie sagen nämlich Folgendes: Wir haben zu wenig Kinder auf Fehmarn, um unser Gymnasium zu halten. Wir haben festgestellt, in Finnland machen über 50 % der Kinder Abitur. Machen wir das doch auf Fehmarn auch. Wir machen aus unserem Gymnasium eine Gemeinschaftsschule und sorgen dafür, dass 50 % der Schüler Abitur machen. Dann können wir die Oberstufe auf Fehmarn halten. - Ich finde das genial und fordere: Fehmarn für ganz Schleswig-Holstein!
Öffnen Sie die Gymnasien für alle Kinder und machen Sie sie zu Gemeinschaftsschulen, wie Finnland und Fehmarn das vormachen!
Polen hat übrigens vor sechs Jahren das Gymnasium für alle eingeführt. Die nennen die Gemeinschaftsschule Gymnasium. Das Ergebnis ist, dass Polen das OECD-Land ist, das bei PISA den größten Sprung nach vorn gemacht hat. So schlecht kann es also nicht gewesen sein.
Nun kommen wir von der Vision zu den konkreten Plänen. Die von Ihnen ins Gesetz geschriebene Definition zur Gemeinschaftsschule ist nicht konkret. Sie hat leider noch die Konsistenz einer Qualle, die niemand greifen kann. Sie ist auch sehr kurz. Wir schlagen eine konkretere Definition vor.
Erstens. Die Gemeinschaftsschule soll in einer Gemeinde, einem Amt oder einem Stadtteil anstelle des künftig zweigliedrigen Schulsystems treten. Sie soll nicht eine parallele dritte Schulart sein. Das wäre ein falscher Weg.
Zweitens. Die Gemeinschaftsschule unterrichtet die Kinder gemeinsam mit innerer Differenzierung. Sie darf keine Alibiveranstaltung werden, die hinter das heutige Modell der Gesamtschule zurückfällt.
Drittens. Wir schlagen ein Initiativrecht der Eltern vor, die sich gemeinsamen Unterricht für ihre Kinder wünschen.
Unakzeptabel an Ihrem Entwurf ist die Beibehaltung der Sonderstellung des Gymnasiums. Wir unterstützen die Schulzeitverkürzung der Sekundarstufe I auf fünf Jahre, denn es ist gut, wenn die jungen Menschen mit 18 ihr Abitur machen und mit dem Beruf oder dem Studium beginnen. Aber der vorgeschlagene Weg ist für uns nicht akzeptabel. Er wird dazu führen, dass einseitig zusätzliche Ressourcen an die Gymnasien gehen. Das ist ungerecht und wird den Vorsprung der Gymnasien vor den anderen Schulen noch vergrößern.
NRW hat - übrigens unter Rot-Grün - eine Schulzeitverkürzung gemacht. Alle Schulen haben die entsprechenden Ressourcen für die Schulzeitverkürzung bekommen, sodass auch an den ganz normalen Haupt- und Realschulen - in diesem Fall zusammengeführt - die gleichen Verkürzungsprozesse stattfinden, die gleiche zusätzliche Förderung stattfindet. Alle Kinder profitieren davon. Nicht sein kann, dass wir an Gymnasien eine besondere Förderung einführen und damit den Abstand zwischen Gymnasien und den zukünftigen Gemeinschaftsschulen noch vergrößern. Das wäre ungerecht und würde auch dem Ziel, das wir verfolgen, nicht gerecht.
Stattdessen schlagen wir vor, an allen Schulen durch zusätzliche Förderkapazitäten zum Ganztagsunterricht in der Sekundarstufe I überzugehen und die regelmäßige Schulzeit bis zur Mittleren Reife auf fünf Jahre zu verkürzen. Danach folgt die gymnasiale Oberstufe oder die Berufsausbildung. Für die Schüler, die dann noch Nachholbedarf haben, kann am Gymnasium oder an der Berufsschule ein zusätzliches 10. Schuljahr als Auffrischungsoder Verstärkungsjahr eingeführt werden, wie das
übrigens an den Aufbaugymnasien in Hamburg schon existiert. Die haben genau dieses Prinzip für Quereinsteiger, haben für Schüler, die nicht gleich in die 11. Klasse kommen, die Möglichkeit, ein Aufbaujahr in einer 10. Klasse zu machen. Ich halte das für ein ausgesprochen gutes System. Damit würden wir tatsächlich das Ziel erreichen, eine Schulzeitverkürzung für alle Schüler einzuführen.
Damit bin ich bei der Oberstufe. Auch hierzu legen wir Ihnen eine Alternative vor, die mittlerweile im Land diskutiert wird. Wir schlagen in unserem alternativen Gesetzentwurf das Oberstufenzentrum als neue Schulart vor. Ein Oberstufenzentrum ist eine Schule, die für mehrere Sekundar-I-Schulen die gemeinsame gymnasiale Oberstufe bildet. Der große Vorteil ist folgender. Sie wollen jetzt zu Profiloberstufen übergehen. Die Profiloberstufen werden das Problem haben, dass wir an vielen Schulen kaum Wahlmöglichkeiten haben. Die meisten Gymnasien werden nur zwei oder drei Profile anbieten können. Wir wünschen uns möglichst breitere Möglichkeiten, so wie es das im Land heute übrigens schon gibt, nämlich an den Berufsschulen. An den Berufsschulen haben wir Oberstufenzentren in Form der Fachgymnasien, die ein breites Profilangebot bieten, das hoch attraktiv ist und zunehmend von Schülern gewählt wird. Ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler macht bereits an Berufsschulen das Abitur.
Solche Oberstufenzentren könnten zum Beispiel Wahlmöglichkeiten anbieten, mehrere naturwissenschaftliche Profile, Biologie/Chemie, Schwerpunkt Mathe/Physik, Schwerpunkt Informatik/ Technik mit unterschiedlichen alternativen Nebenfächern, zum Beispiel Sprachen, angefangen von Spanisch über Französisch, Englisch, Türkisch, Russisch bis hin zu Chinesisch. Alles ist möglich, wenn wir entsprechende Oberstufenzentren bilden und für die Schülerinnen und Schüler entsprechende Wahlmöglichkeiten schaffen. Dann verbänden wir die Vorteile des Profilsystems, nämlich dass wir Ressourcen sparen, mit den Wahlmöglichkeiten, die wir heute haben.
Da wir sicherlich nicht sofort überall Oberstufenzentren schaffen können, schlagen wir vor, dort, wo wir keine Oberstufenzentren haben, Oberstufenverbünde einzuführen. Das heißt, zwei oder drei benachbarte Gymnasien werden verpflichtet, ihre Oberstufe gemeinsam zu organisieren.
(Lothar Hay [SPD]: Wir müssen die Frage der möglichen Integration der beruflichen und der allgemeinen Bildung im Bereich der (Karl-Martin Hentschel)
- Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Oberstufenzentren der Berufsschulen und allgemeinbildende Oberstufenzentren zusammenarbeiten und gemeinsamen Unterricht machen. Auch das sind Dinge, die möglich sind. Wir haben das für das gesamte Land durchkalkuliert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es bis auf wenige Inselstandorte wie Marne oder Fehmarn fast überall möglich ist.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat sich endlich bewegt. Aber die Situation an den Schulen ist unverändert schwierig. Der Ministerpräsident hat das ja in Schleswig gerade bitter erfahren müssen.
Viele Lehrerinnen und Lehrer haben den Eindruck, dass sie ständig neue Regelungen übergestülpt bekommen, ohne dass wirklich eine Verbesserung eintritt. Viele fühlen sich mit den Erziehungsproblemen allein gelassen. Selbst die besonders engagierten Lehrer wollen nicht mehr akzeptieren, dass sie ganztägig in der Schule sein sollen, aber keinen akzeptablen Arbeitsplatz haben und dann auch Weiterbildung, Klassenfahrten und Unterrichtsmaterial weitgehend selbst bezahlen. Dazu kommt der Ärger über Arbeitszeitverlängerungen, Gehaltskürzungen und die gebrochenen Versprechen des Ministerpräsidenten, der stark auf die Motivation geschlagen hat.
Deswegen steht im Zentrum unserer Änderungsvorschläge das Modell der eigenverantwortlichen Schule. Denn in allen erfolgreichen PISA-Staaten haben die Reformen damit begonnen, den Schulen mehr Freiheiten zu geben und sie von staatlicher Gängelung zu befreien. Bundespräsident Köhler hat diesen Gedanken in seiner Rede vor drei Wochen so ausgedrückt: Die Schulen brauchen mehr Freiräume für eigene Gestaltungsideen. Es ist wichtig, Vertrauen in den Gestaltungswillen der Schulen zu haben.
Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, in dem wir Elemente aus anderen Bundesländern aufgenommen haben, insbesondere das Gesetz für eine eigenverantwortliche Schule, das im Sommer dieses Jahres in Niedersachsen verabschiedet wurde. Wir haben auch Elemente aus Nordrhein-Westfalen und Dinge, die hier in Schleswig-Holstein praktiziert werden, aufgenommen, damit sie gesetzlich fixiert werden.
Unsere Vorschläge betreffen vier Bereiche: Erstens. Selbstständige Schulen sollen einen Schulvorstand bekommen, der aus Lehrern, Eltern und Schülern besteht. Dieser Vorstand soll regelmäßig tagen, sodass die Schule mehr eigene Organisationskompetenzen hat. Das stärkt den Direktor und gibt ihm Rückhalt, weil die Gruppenegoismen sozusagen zusammengeführt werden. Es würde aber auch die Schulleitung auf breitere Schultern stellen.
Wir wollen auch den Rektor stärken, damit er mehr Kompetenzen insbesondere in der Frage der Qualitätsentwicklung und Personalführung hat.
Zweitens sollen die Schulen in ihrer Gestaltung des Unterrichts, der Personalführung, der Organisation und Verwaltung der Schule eigenverantwortlich sein können. Wir wollen insbesondere die Qualitätsentwicklung zur vorrangigen Aufgabe der Schulen machen und den Schulen die Möglichkeit geben, von Vorschriften und Regelungen abzuweichen, wenn sie gewährleisten, dass die Ziele der Ausbildung erreicht werden. Ich halte diese Paragrafen für außerordentlich spannend, weil wir damit von diesen Versuchsmodellen wegkommen.
Vertrauen wir in die Akteure, also in die Lehrerinnen und Lehrer und verlagern wir die Kompetenzen nach unten! Denn das ist ein notwendiger Prozess, der in allen Ländern, die Schulreform machten, am Anfang stand. Ich glaube, wir werden bei der Schulreform nur erfolgreich sein, wenn wir gerade die Kräfte in den Schulen mobilisieren. Schulen brauchen mehr Freiheiten. Schulreformen müssen sich insbesondere von unten entwickeln.
Ich würde mich freuen, wenn es uns im Ausschuss gelänge, eine kreative Diskussion über dieses Schulgesetz und über die verschiedenen Möglichkeiten zu führen.
- Ich muss jetzt etwas abkürzen. - Vielleicht gelingt uns bei der Beratung dieses Gesetzes tatsächlich einmal das, was die Bürgerinnen und Bürger von uns erwarten: eine kreative Diskussion über die Zukunft unserer Schulen. Vielleicht gelingt es tatsächlich mit einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung,