Die Gesellschaft muss früh erkennen und die Gesundheit von Kindern nachhaltig sichern. Prävention ab dem Kindesalter an ist eine gute Sparpolitik. Wer in Kindergesundheit investiert, entlastet mittelfristig die Gesundheits- und Sozialhaushalte des Bundes, der Länder und der Kommunen.
Wir machen heute als Schleswig-Holsteiner mit dem Kinderschutzgesetz einen großen Schritt nach vorn. Wir nehmen damit eine Spitzenstellung im Vergleich aller Bundesländer ein.
Ich bedanke mich dafür, dass wir als Parlament diesen Weg gemeinsam mit der Sozialministerin, den freien Trägern, den Ärzten, den Hebammen, der Polizei, der Justiz und den Kommunen gehen können. Trotz aller Freude sind wir damit nicht am Ende des Weges, um unser Gesamtziel zu erreichen, Schleswig-Holstein zu dem kinder- und familienfreundlichen Bundesland in Deutschland zu machen. Damit uns nicht langweilig wird, liegt jetzt die Einführung eines kostenlosen Kindertagesstättenjahres als Aufgabe vor uns. Ich glaube, da haken sich Sozialpolitiker wieder gemeinsam unter, um auch das für die Kinder in diesem Land auf den Weg zu bringen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erinnern Sie sich noch an Kevin, Pascal, Jennifer, Jessica und Tim, Kinder, deren Schicksal die Schlagzeilen beherrschte, deren Tod nach Vernachlässigung und Misshandlung durch die Erziehungsberechtigten mehr öffentliche Aufmerksamkeit hervorrief, als ihr Leiden zuvor es jemals vermochte? Das Schicksal der Kinder machte betroffen: Gemeinsam war ihnen, dass sie Opfer überforderter, gewaltbereiter Erwachsener wurden, dass niemand da war, der sie schützte, der eingriff, als offensichtlich wurde, dass hier Fälle von Kindeswohlgefährdung vorlagen.
In der folgenden öffentlichen Diskussion wurde auch der Ruf nach dem „starken Staat“ laut. Hätten die staatlichen Behörden mehr Befugnisse, hätte es keine Fehler beim Verwaltungshandeln gegeben, wäre der Tod dieser Kinder vermeidbar gewesen. So verständlich eine solche Forderung ist, wenn es um den Schutz der Schwächsten, der kleinen Kinder geht, wäre es völlig unzureichend, den Umgang mit Kindeswohlgefährdung darauf zu beschränken.
SPD und CDU haben mit dem „Gesetz zur Weiterentwicklung und Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein“ deshalb einen umfassenden Ansatz gewählt. Wir setzen nicht auf Repression und Strafe, sondern auf Unterstützung und Förderung von Kindern und Eltern, wollen aber auch sicherstellen, dass kein Kind „verloren geht“, dass die staatliche Gemeinschaft Kindern bei drohender Gefährdung verlässlich Schutz bietet.
Der Weg zum vorliegenden Gesetzentwurf war lang. Viele Stellungnahmen waren auszuwerten. Wir haben vertiefende Gespräche geführt. Und es lag uns besonders daran, die Vertreter der kommunalen Ebene für das Gesetz zu gewinnen.
Das Kinderschutzgesetz umfasst jetzt das gesamte System aus Vorsorge, frühen Hilfen für Familien, die Unterstützung brauchen, einem verbindlichen Einladungssystem zu den Früherkennungsuntersuchungen sowie Interventionsmaßnahmen und verankert es rechtlich.
Im Vordergrund stehen zunächst Beratung, Bildungsangebote und Unterstützung für Familien, um Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch vorzubeugen.
Eltern aber auch zuverlässig erreichen. Um noch qualifizierter handeln zu können, müssen Fortbildungen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von entsprechenden Einrichtungen und Institutionen die notwendigen Kenntnisse für ihre Arbeit mit den Betroffenen vermitteln. Besondere Belastungssituationen müssen früh erkannt und auf sie muss mit geeigneten Hilfsangeboten reagiert werden. Das kann nur dann erreicht werden, wenn verschiedene Akteure in einem vernetzten System arbeiten. Das Land fördert deshalb frühe und rechtzeitige Hilfen und Leistungen für Eltern und Kinder, die gemeinsam von Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Sozialhilfe erbracht werden.
Neu eingeführt wird ein verbindliches Einladungssystem zu den Früherkennungsuntersuchungen. Wir tragen damit der Tatsache Rechnung, dass gerade Kinder aus belasteten Familien diese Angebote der Gesundheitsvorsorge signifikant seltener nutzen können als Kinder aus behütenden Familien. Wenn Eltern ihre Kinder nicht an den Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen lassen, kann das verschiedene Ursachen haben; es muss nicht auf Vernachlässigung hindeuten. Aber indem wir die Teilnahme oder Nichtteilnahme registrieren, verhindern wir, dass staatliche Institutionen wie bisher erstmals bei der Schuleingangsuntersuchung verbindlich Kontakt zu Kind und Eltern haben.
Eltern werden zu den Früherkennungsuntersuchungen eine schriftliche Einladung erhalten. Wurde der Termin wahrgenommen, melden die Kinderärzte dies an eine zentrale Meldestelle. Wir Sozialdemokraten möchten das Landesfamilienbüro mit dieser Aufgabe betrauen.
Erfolgt die Meldung nicht, erhalten die Eltern ein Erinnerungsschreiben. Erfolgt auch dann keine Reaktion, wird der zuständige Kreis oder die kreisfreie Stadt informiert. Dann ist es Aufgabe von Jugendamt oder Gesundheitsamt, sich um das betroffene Kind zu kümmern. Sollte dann festgestellt werden, dass das Wohl des Kindes gefährdet ist, müssen sie handeln und eingreifen. So kann direkt vor Ort der Hilfebedarf von Kindern und Eltern erkannt werden, denn problematische Familiensituationen dürfen nicht dazu führen, dass die Schwächsten, die Kinder, leiden.
Auf Wunsch aller kommunalen Landesverbände werden wir das „verbindliche Einladungswesen“ im Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst verankern. Wir verzichten auch darauf, den Kreisen und kreisfreien Städten im Gesetz vorzugeben, ob
Jugendamt oder Gesundheitsamt tätig werden. Für uns ist entscheidend, dass möglichen Kindeswohlgefährdungen rasch und zuverlässig nachgegangen wird. Wie dies jeweils vor Ort ausgestaltet wird, ist Angelegenheit der Kommunen. Ich füge aber hinzu: Wir hätten uns auch die gesetzliche Festschreibung der Jugendämter gewünscht, aber so kann es auch gehen!
In den Regionen unseres Landes gibt es bereits zahlreiche Institutionen und Einrichtungen, die sich gefährdeter Kinder und Jugendlicher annehmen. Um deren Arbeit noch besser aufeinander abzustimmen, werden in den Kreisen und kreisfreien Städten lokale Netzwerke Kinder- und Jugendschutz für frühe und rechtzeitige soziale und gesundheitliche Hilfen und Leistungen für Schwangere, Kinder, Jugendliche, Mütter und Väter eingerichtet. Hier sollen die Erfahrungen zum Beispiel aus dem Projekt „Schutzengel für Schleswig-Holstein“, bei dem sich Familienhebammen um besonders belastete Familien kümmern, genutzt und weiterentwickelt werden.
Teilnehmer der lokalen Netzwerke Kinder- und Jugendschutz können insbesondere das Jugendamt, Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, das Sozialamt, Träger der freien Wohlfahrtspflege, Kinderschutzorganisationen und -zentren, Hebammen, Ärzte, Träger von Frauenunterstützungseinrichtungen, der Behindertenhilfe und auch der Polizei sein.
Die Teilnehmer der lokalen Netzwerke Kinder- und Jugendschutz treffen Vereinbarungen über die Zusammenarbeit und Organisation. Sie regeln, bei wem die Koordinierungsaufgaben der lokalen Netze Kinder- und Jugendschutz angesiedelt werden.
Meine Damen und Herren, wir legen heute einen Gesetzentwurf vor, dessen Entstehungsprozess von vielen, meist sehr konstruktiven Diskussionsbeiträgen begleitet war. Der Dank meiner Fraktion gilt insbesondere der Jugendministerin und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dem Justizministerium, dem Landesdatenschutzbeauftragten, den kommunalen Landesverbänden, aber auch den zahlreichen Fachverbänden, deren Stellungnahmen und Anregungen hilfreich waren.
Mit dem Kinderschutzgesetz verfügen wir in Schleswig-Holstein künftig über ein wirksames Instrument zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch. Schwerpunkt ist nicht eine sicherheitspolitische Ausrichtung, der Ruf nach dem Eingrei
fen eines starken Staates. Wir setzen auf ein miteinander verknüpftes und aufeinander abgestimmtes Konzept, das eine höhere Verbindlichkeit von Angeboten und Förderungen enthält und die Früherkennungsuntersuchungen für möglichst alle Kinder besser sicherstellt.
Wir setzen aber auch auf eine wirkungsvolle Krisenintervention, insbesondere durch die Inobhutnahme gefährdeter Kinder, die durch die Zusammenarbeit der in den lokalen Netzwerken organisierten Einrichtungen begleitet wird. Auch die besten Hilfs- und Unterstützungsangebote werden nicht verhindern können, dass in den Fällen, in denen nach Ausschöpfung dieser Angebote eine Kindeswohlgefährdung nach wie vor nicht ausgeschlossen werden kann, Kinder dem Zugriff ihrer Eltern entzogen werden müssen.
Wir legen ein Gesetz vor, das unter Fachpolitikern und Fachleuten bundesweit als vorbildlich gilt. Wir werden sicherstellen, dass sich das Land an der Finanzierung der Umsetzung des Gesetzes angemessen beteiligt. Wir wollen dieses Gesetz und seine Umsetzung vor Ort weiter begleiten. Deshalb haben wir die Erstellung eines Kinderschutzberichtes festgeschrieben.
Seine Wirksamkeit wird das Kinderschutzgesetz aber in den Regionen zu entwickeln haben. Wir Sozialdemokraten freuen uns über die Bereitschaft vieler, besonders in den Kommunen und Kreisen, gemeinsam noch effektiver für das Wohl der Kinder einzutreten. Und wenn dieses Gesetz dazu führt, dass wir auch nur einen Fall Kevin, Pascal, Jessica oder Tim weniger haben, dann wird sich dieser Aufwand gelohnt haben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie können gesundheitliche Störungen, Fehlentwicklungen, aber auch Vernachlässigungen und Misshandlungen von Kindern rechtzeitig erkannt und möglichst verhindert werden? Über einen gangbaren Weg, dieses Ziel zu erreichen, debattieren die Sozialpolitiker im Landtag seit über einem Jahr, stehen wir doch in dieser Frage vor dem Dilemma, dass beim Schutz von Kindern eine Gratwanderung zwischen den Alternativen vollzogen
Deutlich wird dies auch bei dem Gesetzentwurf, den die Fraktionen von CDU und SPD vorgelegt haben. Einerseits sollen Strukturen geschaffen werden, die möglichst präventiv und unbürokratisch wirken; andererseits müssen Rahmenbedingungen vorgegeben werden, die im Zweifel repressiver Natur sind.
Die Große Koalition versucht mit diesem Gesetzentwurf einen Spagat, der bei realistischer Betrachtung in der praktischen Umsetzung nur teilweise gelingen kann. So muss ich zusammenfassen: Aus unserer Sicht ist die Beschlussvorlage, die nun als Ergebnis der Beratungen im Parlament vorliegt, in Teilen sicherlich eine Verbesserung der bisherigen Rechtslage, in Teilen ist sie aber auch unbefriedigend. Das heißt, wir sehen hierbei in der Tat Licht und Schatten.
Wie soll schnelle und umfassende Hilfe, die vor Ort ganz pragmatisch umgesetzt werden kann, aussehen? Welche gesetzlichen Vorgaben sind notwendig, um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche durch das Netz der Hilfeangebote fallen? Wie soll ein umfassender Schutz für Kinder und Jugendliche ausgestaltet sein, damit im Zweifel schnelle und unbürokratische Hilfe gewährleistet werden kann und gleichzeitig eine Überreaktion vermieden wird?
Eine Antwort hierauf bietet der im Gesetz vorgesehene Ansatz, lokale Netzwerke im Kinder- und Jugendschutz einzurichten. Das ist nicht nur sinnvoll, sondern ein längst überfälliger Schritt. Dabei muss uns allen bewusst sein, dass die im Gesetz eingeforderte interdisziplinäre Zusammenarbeit ein langwieriger Prozess ist, der mit der Verabschiedung dieses Gesetzes erst noch beginnen muss. Mit der Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte sowie der Behörden vor Ort kann es gelingen, ein enges Netz zu knüpfen, das Kinder und Jugendliche rechtzeitig auffängt.
Teilweise arbeiten solche Netze schon sehr erfolgreich vor Ort. Das Flensburger Schutzengel-Projekt zeigt, wie ein solches Netz in der Praxis funktionieren kann. Doch immer noch gibt es viele Hilfeangebote und Einrichtungen für die betroffenen Familien, die nebeneinander und nicht miteinander arbeiten. Dabei ist es nicht so, dass viele dieser
Stellen eine solche Vernetzung bisher nicht gewollt hätten. Sie können oder dürfen es allein aus rechtlichen Gründen nicht.
So tauschen sich im Regelfall Hebammen und Kinderärzte bereits frühzeitig über mögliche Problemkinder aus, allerdings nur auf unverbindlicher informatorischer Basis. Krankenkassen, die Kassenärztliche Vereinigung, der öffentliche Gesundheitsdienst und die Jugendämter entwickeln eigene Programme und informieren ihre eigenen Mitglieder umfassend. Ein direkter Datenaustausch der Institutionen untereinander darf allein aus dem Grund, dass Sozialdaten einem besonderen Schutz unterliegen, nicht erfolgen.
Auch wenn dieses Dilemma durch die jetzt vorgelegten Regelungen nicht gelöst werden kann, so hilft ein lokales Netzwerk zumindest auf informatorischer Ebene, den Austausch über Problemfamilien und deren Kinder zu verbessern. Dabei bekommen die einzelnen Akteure künftig einen verbindlichen Rahmen. Das ist ein erster wichtiger Schritt, allerdings müssen jetzt weitere folgen. Denn die Summe kleiner Fehleinschätzungen durch Behörden, Fachleute und Institutionen kann letztlich zu einer Katastrophe führen. Einzelfälle sind von Frau Tenor-Alschausky soeben angesprochen worden.
Neben dem Aufbrechen von Strukturen durch die notwendige Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Gesundheitswesen und anderen Institutionen wie Polizei, Kindergarten und Schule muss auch inhaltlich etwas geschehen. Gerade wenn es darum geht, präventive und frühe Hilfen anzubieten, werden die Akteure bisher viel zu oft allein gelassen. Das Gesetz schreibt zwar eine Reihe von Förderangeboten fest, allerdings fehlt bisher ein schlüssiges Gesamtkonzept, das der inhaltlichen Weiterentwicklung präventiver Angebote einen Rahmen geben könnte. Insoweit bleibt der präventive Ansatz des Gesetzes vage und ziellos. Stattdessen werden vor allem die Jugendämter mit besonders hohen Anforderungen konfrontiert, die sie letztlich alleine bewältigen müssen. Die Frage, die sich hierbei stellt, lautet, ob die Jugendämter überhaupt in der Lage sein werden, dieser so formulierten neuen Aufgabe als zentrale Stelle in dem Umfang gerecht zu werden, wie es das Gesetz vorsieht. Insoweit erhoffe ich mir, dass der präventive Ansatz des Gesetzes gemeinsam mit den Kommunen mit Leben erfüllt wird. Andernfalls würde ein wesentliches Ziel des Kinderschutzes ins Leere laufen.
Ein weiterer zentraler Anspruch dieses Gesetzes ist es, durch die Einführung verbindlicher Früherkennungsuntersuchungen möglichst rechtzeitig alle
Kinder zu erreichen. Dabei kommt einer zentralen Erfassungsstelle die wesentliche Aufgabe zu, Datensätze der Meldebehörden und die Mitteilungen der untersuchenden Kinderärztinnen und Kinderärzte zusammenzuführen und abzugleichen. Jugendämter werden dann aktiv, wenn ein Datenabgleich ergibt, dass Kinder keinem Arzt vorgestellt wurden.
Dass in dem jetzt geänderten Entwurf diejenigen Kinder ebenfalls erfasst werden, die im Rahmen einer Früherkennungsuntersuchung einem Mediziner außerhalb Schleswig-Holsteins vorgestellt worden sind, ist dabei anzuerkennen.