Protokoll der Sitzung vom 17.07.2008

Was heißt das konkret? - Erstens. Wir brauchen verbindliche Mindestlöhne in Deutschland und Europa. Lohndumping ist keine zukunftsweisende Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Wir wollen angemessene Mindestlöhne und faire Arbeitsbedingungen überall in Europa. Zu behaupten, das vernichte Arbeitsplätze in Deutschland, anders als irgendwo sonst in Europa, ist interessengeleiteter Unfug und zeigt nur die bedauerliche Macht von Lobbyeinflüssen im liberal-konservativen Spektrum von Politik und Medienwelt.

(Beifall bei SPD und SSW)

Zweitens. Wir wollen die europaweit höchstmöglichen Sozialstandards. Deshalb setzen wir uns für eine rechtsverbindliche Sozialklausel als Ergänzung zum Lissabon-Vertrag ein. Sie wäre dann auch für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bindend. Es muss Schluss damit sein, dass die Dienstleistungsfreiheit über den Arbeitnehmerschutz gestellt wird und das Streikrecht zum Teil ausgehebelt werden kann. Ich wiederhole es: Europäische Urteile, in deren Begründung Grundrechte auf Augenhöhe mit Wirtschaftsinteressen abgewogen werden, sind reaktionär. Grundrechte müssen Priorität haben.

(Beifall bei SPD und SSW)

(Dr. Ralf Stegner)

Drittens. Wir brauchen handlungsfähige europäische Betriebsräte in einem integrierten europäischen Binnenmarkt mit zunehmend transnational operierenden Unternehmen. Nur so kann verhindert werden, dass Belegschaften in unterschiedlichen Ländern gegeneinander ausgespielt werden, statt gemeinsam ihre Interessen formulieren zu können. Daher muss die europäische Tarifautonomie weiterentwickelt werden. Das Recht von Tarifparteien, grenzüberschreitende Tarifverträge auszuhandeln, muss gewährleistet werden. Starke Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften sind kein Hindernis, sondern konstruktive Partner für qualitatives Wachstum. Nebenbei bemerkt: Sie sind der Kern des Wohlstands in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen.

(Beifall bei SPD und SSW)

Viertens. Wir wollen die öffentliche Daseinsvorsorge im europäischen Binnenmarkt festschreiben. Vor allem Gesundheits- und Pflegedienstleistungen dürfen auch in Zukunft nicht dem freien Wettbewerb ausgesetzt werden. Hierfür werden wir uns wie schon bei der Dienstleistungsrichtlinie einsetzen. Wir wollen es Kommunen ermöglichen, Träger dieser Dienstleistungen zu bleiben. Europarecht muss die Weiterentwicklung von öffentlichen und gemeinwohlorientierten Leistungen unterstützen. Dies gilt insbesondere bei der Rekommunalisierung von Aufgaben dort, wo der Markt keine Versorgung zu bezahlbaren Preisen und sozialen Bedingungen erzielen kann. Es geht hier um Menschen, nicht um neoliberale Wirtschaftstheorien und Managementseminare. Das europäische Haus funktioniert nur mit handlungsfähigen und sozialen Mitgliedstaaten.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Fünftens. Wir fordern eine europäische Steuerpolitik. Eine Abstimmung der nationalen Steuerpolitiken und eine einheitlichere Bemessungsgrundlage würden den Spielraum für Vernunft vergrößern. Nur so ist der schädliche Wettbewerb um die niedrigsten Steuersätze zu beenden. Den asozialen Steueroasen, die uns in eine Negativspirale handlungsunfähiger Staaten zwingen, muss der Kampf angesagt werden. Die Liechtenstein-Connection muss ein Ende haben.

Sechstens. Ein soziales Europa muss eine Antwort auf die hohen Energiepreise finden. Die Antwort muss auch lauten: Im Rahmen einer gemeinsamen nachhaltigen Energiepolitik müssen Energieeinsparungen und Energieeffizienz verbessert und die

Forschung, Entwicklung und Innovation in Richtung erneuerbarer Energien gestärkt werden. Wir wollen kein Europa, in dem die Konzerne die Politik am Nasenring durch die Manege führen. Wir wollen ein Europa, in dem Politik und Parlamente solche Konzerne in die Schranken weisen. Gemeinnutz geht vor Eigennutz, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Siebtens. Zu einem sozialen Europa gehört auch der Verbraucherschutz, der nur durch einheitliche europäische Gesetze wirksam gewährleistet werden kann. Hier kann sich die EU mit manchem, was dort entwickelt worden ist, durchaus sehen lassen. Die Zeit erlaubt es mir nicht, das hier alles vorzutragen. Es gibt aber eine ganze Menge, was sich gut entwickelt hat und wofür wir ruhig auch einmal ein bisschen Werbung machen könnten.

Achtens. Zu einem sozialen Europa gehört besonders die Förderung von Bildung, Kinderbetreuung und Forschung. Wissen ist heute die Schlüsselqualifikation schlechthin. Es liegt in der Verantwortung eines sozialen Europas, hier für gleiche Zugangschancen, Durchlässigkeit der Systeme und eine hochwertige Förderung zu sorgen. Aufstieg durch Bildung heißt in Europa, dass Deutschland nicht mit Österreich um die rote Laterne wetteifert, sondern dass längeres gemeinsames Lernen im wahrsten Sinne des Wortes Schule macht. Es heißt auch, dass wir es schaffen, die Bildungsbarrieren zu beseitigen, angefangen bei den Kitas bis hin zum Studium überall in Europa und auch in Deutschland.

(Vereinzelter Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Die SPD bleibt die Europapartei im Bund und im Land. Für uns gilt: Landespolitik ist auch Europapolitik. Seit Björn Engholm und Gerd Walter und von Heide Simonis bis zu Uwe Döring gilt: Rund um die Ostsee und überall sonst werden wir weiterhin die europäischen Chancen für Schleswig-Holstein nutzen.

Zentrales Zukunftsprojekt der Sozialdemokratie für Europa - das ist in dem Vertrag auch erkennbar; insofern stimme ich Ihnen nicht zu, Herr Kollege Wadephul; der Vertrag ist Teil der Lösung und nicht Teil des Problems, was die Punkte angeht, die Sie beschrieben haben - ist eine echte europäische Sozialunion.

(Beifall bei SPD und SSW)

(Dr. Ralf Stegner)

Es geht uns um Wettbewerb, der stimuliert, um Zusammenarbeit, die stärkt, und um Solidarität, die vereint. Wirtschaftliches Wachstum ist kein Selbstzweck. Ich will auch dies sagen - das hat auch der Kollege Döring deutlich ausgedrückt -: Wenn wir das nicht beherzigen, verlieren wir den Kampf gegen Europaverdrossenheit und Wahlenthaltung und - schlimmer noch - gegen den Einzug der Feinde der Demokratie in europäische Parlamente. Schon heute sind die Neofaschisten in Italien und Spanien oder in Osteuropa genauso wenig erträglich wie die Nazis in Sachsen oder in Mecklenburg-Vorpommern. Die soziale Gerechtigkeit, nicht die Marktradikalität muss in den Vordergrund treten.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

George Bush hat einmal vom alten Europa gesprochen, als er um die Koalition der Willigen warb. Europa sieht wirklich alt aus, wenn wir das soziale Europa nicht schaffen. Unsere Chancen sind aber besser, als irgendwo sonst in der Welt, und Bush ist zum Glück bald passé. Der Vertreter des neuen Amerika würde wohl formulieren: Yes, we can.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich danke Herrn Abgeordneten Dr. Stegner. - Für die FDP-Fraktion hat nun Herr Abgeordneter Dr. Ekkehard Klug das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Tagesordnungspunkt, wie er von den Fraktionen von CDU und SPD angemeldet worden ist, lautet „Bewertung des aktuellen Ratifizierungsprozesses des Grundlagenvertrages der Europäischen Union“. Damit sind wir bereits bei einem kleinen Teil des Problems, über das zu sprechen ist. Eigentlich sollte es klarer und deutlicher heißen: Konsequenzen aus der irischen Volksabstimmung. Darüber haben die Kollegen bis jetzt ja auch gesprochen.

Die Europapolitik hat sich insgesamt - das kann man mit vielen Beispielen belegen - eine Sprache angewöhnt, die den Bürgern kaum noch vermitteln kann, was sie eigentlich sagen will. Der vor drei Jahren bei den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden gescheiterte Verfassungsvertragsentwurf spiegelt diesen Missstand genauso wider wie der jetzt von den Iren verworfene Reformvertrag von Lissabon. Die Unabhängigkeits

erklärung der USA, 1776 in einer bis heute allgemein verständlichen Sprache von Thomas Jefferson geschrieben, vermittelt eine faszinierende politische Botschaft mit 300 Wörtern. Für die europäischen Vertrags- und Verfassungsdokumente unserer Zeit reichen aber nicht einmal 300 Seiten, ganz zu schweigen von dem selbst für Fachleute in weiten Teilen nur schwer verdaulichen Inhalt. Die Diskussionen über die amerikanische Verfassung haben vor mehr als zweihundert Jahren Texte hervorgebracht, die damals von allen politisch Interessierten gelesen und diskutiert worden sind und die heute wie beispielsweise die „Federalist Papers“ - zu Klassikern der politischen Theorie gehören. Von derlei Qualität und Haltbarkeit sind die Beiträge zur aktuellen europäischen Verfassungsdebatte so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Die Europapolitik leidet unter sprachlicher und inhaltlicher Bürgerferne. Sie hat ein massives Vermittlungsproblem. Deshalb ist es so leicht, aus Volksabstimmungen über europäische Vertragsdokumente eine nationale Denkzettelabstimmung zu machen, so wie das in Frankreich und Holland und nun auch wieder in Irland der Fall war.

Ebendies wird von manchen jetzt als Ausrede herangezogen: Die Franzosen, die Niederländer und jetzt die Iren hätten gar nicht über Europa abgestimmt, sondern ihrer jeweiligen nationalen Regierung einen Denkzettel verpasst. Das ist natürlich einerseits richtig, aber gleichzeitig auch falsch, denn hätte das zur Abstimmung gestellte europäische Thema nämlich die eigentlich nötige politische Überzeugungskraft von sich aus entfaltet, wäre es nie zu einer solchen Ablenkung auf nationale politische Mühlen gekommen.

Hinzu kommt Folgendes: Den Bürgern lässt sich offenbar nur schwer vermitteln, dass ein Nein zu einem konkreten Vertragsdokument tatsächlich schwerwiegende Auswirkungen auf die europäische Integration hat. Die Erfahrung nach den Referenden in Frankreich und Holland vor drei Jahren war ja diese: Es ging in Europa weiter wie gehabt. In Brüssel und in Straßburg ist keine der europäischen Institutionen ins Wanken gekommen, und auch der große Bahnhof der europäischen Gipfeltreffen und Ministerratssitzungen hat seine gewohnten Bilder weiter über die Fernsehschirme transportiert.

Deshalb sollte man auch jetzt nach der Entscheidung in Irland mit einem allzu dramatischen Krisengerede vorsichtig sein. Auch wenn die Institutionen der EU ganz sicher reformbedürftig sind, auch wenn der Sand im Getriebe der europäischen Inte

(Dr. Ralf Stegner)

gration Anlass zur Sorge gibt, sollte man keine Alarmstimmung verbreiten, die uns die Bürger Europas jetzt ohnehin nicht abnehmen würden.

(Beifall bei der FDP)

Die EU wird sich weiter durchwursteln müssen und mit Irland einen Weg finden, wie es weitergehen kann - sei es durch einen zweiten Anlauf zu einer Volksabstimmung, sei es in anderer Form.

Die viel wichtigere Konsequenz aus der jetzigen Situation ist eine ganz andere: Die Europäische Union braucht eine Politikwende, eine Veränderung der Europapolitik in Sprache, Stil und Inhalt. Oberstes Ziel muss es sein, dem Gedanken der europäischen Integration und der EU eine neue Vitalität und neue politische Überzeugungskraft zu verleihen, die solche Pannen wie in Irland ausschließen würden. Falls das nicht gelingt, wird die Botschaft aus Dublin nicht die letzte dieser Art sein.

Der nötige Wandel setzt vor allem eines voraus: Die europäische Politik muss ernst nehmen, was von jeher für die westliche, das heißt auch für die europäische Demokratie von entscheidender Bedeutung gewesen ist: Staatliches Handeln muss für die Bürgergesellschaft eine dienende Funktion haben, statt den Menschen durch ausufernde Reglementierung auf die Nerven zu gehen.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Die EU hat in diesem Sinne unter der Devise einer besseren Rechtsetzung bereits vor geraumer Zeit Besserung gelobt, aber erst dann, wenn dieser Weg wirklich konsequent weiter beschritten wird, wird dieses Umdenken auch politische Früchte tragen. Erst dann wird sich auch die Stimmung der EUBürger wieder zum Positiven wenden, wenn es um Fragen der Europäischen Union geht.

Europa kann sich glücklich schätzen, dass es - global betrachtet - eine Insel der Stabilität, der Freiheit und des Wohlstandes darstellt. Gleichwohl blicken viele Europäer pessimistisch in die Zukunft. In anderen Teilen der Welt sieht dies aber ganz anders aus. In China und in Indien haben heute rund Dreiviertel der Menschen optimistische Zukunftserwartungen. Das ist beispielsweise in der kürzlich von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen Aufsatzsammlung „Asien verändert die Welt“ nachzulesen. Dabei sind doch Armut, Unsicherheit, Umweltprobleme und - jedenfalls in China - auch Unfreiheit dort noch heute in ganz anderer Dimension politische Wirklichkeit als hier in Europa. Man hat dort aber, allen Widrigkeiten zum Trotz, das Ge

fühl, dass es aufwärtsgeht. Dieses Gefühl ist Europa abhanden gekommen. Genau hier liegt bei nach meiner Überzeugung die zentrale Aufgabe der Politik auf der europäischen Ebene ebenso wie auf der nationalen Ebene. Die Politik muss wieder vermitteln, dass Europa die schwierigen Herausforderungen in Zeiten der Globalisierung bewältigen kann, beispielsweise mit einer Kraftanstrengung in Bildung und Wissenschaft, durch die unser alter Kontinent wieder neue Stärke gewinnt.

Zu Beginn dieses Jahrzehnts, im Jahre 2000, haben die EU-Mitgliedstaaten in Lissabon genau dieses Szenario entwickelt. Es wurde die sogenannte Lissabon-Strategie entwickelt, die vorsieht, bis zum Jahre 2010 bestimmte Ziele im Bereich von Forschung und Entwicklung und bei der Ausformung der Wissensgesellschaft zu erreichen. Betrachtet man aber die seither erreichten Ergebnisse und misst sie an den damals festgelegten Kennziffern ich erwähne hier beispielsweise den Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt -, so muss man sagen, dass die europäischen Regierungen und die Institutionen der EU sozusagen weit unter der vor acht Jahren einmal gelegten Messlatte hindurchgelaufen sind. Das ist so.

(Beifall bei der FDP)

Das spiegelt sich auch hier auf nationaler Ebene wider. Der kürzlich erst veröffentlichte Bildungsbericht 2008 für Deutschland zeigt ganz klar, dass bei uns in Deutschland der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt nicht etwa steigt, sondern tatsächlich gesunken ist.

(Zuruf des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD])

Politische Überzeugungskraft zu entwickeln und damit den Bürgern auch wieder mehr Grund für Optimismus zu geben, heißt, die Politik muss in Europa wie auch auf nationaler Ebene die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit schließen. Das gilt insbesondere auch für den Bereich, den ich gerade beschrieben habe.

(Zurufe von der SPD)

Wenn uns dies gelingt, beispielsweise auf den Feldern Bildung, Forschung und Technologie, dann werden die Bürger der Europäischen Union, auch die Deutschen, wieder optimistischer in die Zukunft eines durch Bildung, Forschung und Technologie wachstumsund konkurrenzfähigen Europas blicken. Wachsende Zustimmung der Bürger zur Europapolitik ist dann auch nicht mehr bloß eine Frage einer besseren Public-Relations-Politik, sie

(Dr. Ekkehard Klug)

wird sich quasi automatisch einstellen, nämlich als positive Nebenwirkung einer guten Politik. Das ist die These, die ich vertrete.

Deshalb muss Europa auch in dem Bereich Stärkung der Investitionen in Bildung und Wissenschaft mehr tun als bisher, seine Ressourcen - so wie wir auf nationaler Ebene - mehr in diese Sektoren lenken. Das muss natürlich mit einer arbeitsteiligen Entscheidung geschehen. Nur dann, wenn wir es schaffen, den Bürgern dieser Europäischen Union auf diese Weise eine Zukunftsperspektive glaubhaft wieder zu vermitteln, wird auch die Zustimmung zu unserer Politik in Sachen Europa wieder wachsen.