Ich sage das gern noch einmal: Politische Gockel, politischer Krieg, Kollateralschäden, verbrannte Erde - es ist interessant, wie wir über uns selber sprechen und dann im selben Atemzug fordern, zurück zur Sachlichkeit zu kommen, um eine ernsthafte Debatte zu führen. Wirklich interessant!
Auch wenn das ein schwieriger Versuch ist, bei manchen jedenfalls, ich will ihn doch noch einmal machen. Ich will einfach dafür werben, auch mal zuzuhören, vielleicht ein paar der Vorurteile, die man so gern pflegt, beiseite zu lassen. Das gilt für den Kollegen Stegner, das gilt aber auch nach Ihrer Rede, Herr Kollege Habeck, für Sie. Es wäre gut, einfach man zuzuhören, was Guido Westerwelle wirklich gesagt hat, als er vom anstrengungslosen Wohlstand gesprochen hat, als er davor gewarnt hat, den Menschen anstrengungslosen Wohlstand zu versprechen. Er hat mitnichten ALG-II-Empfänger beschimpft, sondern er hat die gesamte politische Klasse, er hat uns davor gewarnt, so zu tun, als könnten wir anstrengungslosen Wohlstand versprechen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich für absolut richtig; denn was in den letzten 30 Jahren im Sozialstaat Deutschland passiert ist, war nichts anderes als - meistens vor Wahlen - noch einmal draufzusatteln, ohne die dauerhafte Finanzierbarkeit vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung überhaupt einmal zu diskutieren.
Wo stehen wir denn in Sachen ALG-II-Regelsatzberechnung, um die es im Kern geht? Wir haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Februar 2010, das im Übrigen eine schallende politische Ohrfeige für diejenigen war, die dieses Regelwerk in Gang gesetzt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat schlicht und ergreifend gesagt, dass die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht transparent ermittelt werden. Der Gipfel dieser Nichttransparenz, der Nichtnachvollziehbarkeit ist der Regelsatz für Kinder, weil man so getan hat, liebe Kolleginnen und Kollegen: kleine Menschen - kleiner Bedarf. Das Bundesverfassungsgericht hat ganz klar gesagt: Kleiner Mensch heißt eben nicht automatisch kleiner Bedarf.
Es kann sogar Entwicklungsphasen eines Kindes, eines Heranwachsenden geben, in denen der Bedarf möglicherweise sogar höher ist als der eines Singles, der auf ALG II angewiesen ist. Darüber lohnt es sich vielleicht einmal zu diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wie irrsinnig es ist, wie dieser Regelsatz für Kinder zustande gekommen ist, das mag vielleicht das zugegeben etwas überspitzte Beispiel zeigen: Im Regelsatz für Erwachsene ist ein Centbetrag für Alkoholgenuss und Tabakkonsum vorgesehen. Es sind aber keine Bildungskosten, es sind aber beispielsweise keine Betreuungskosten, es sind keine besonderen Leistungen für Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Wenn man davon 60 % nimmt, heißt das auch 60 % von den Centbeträgen für Alkohol- und Tabakkonsum, aber null für Schulbücher oder für Klassenfahrten. Wie irrsinnig ist das denn?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort hat der Herr Minister. Ihn wollen wir jetzt auch hören, er wird gut bezahlt.
Lieber Kollege Habeck, es ist nicht nur ein bisschen so, dass wir ein wenig auf das Lohnabstandsgebot gucken müssen. Vielmehr ist das Thema Lohnabstandsgebot zentral für die Motivation, Arbeit aufzunehmen. Das ist individuell auch völlig verständlich. Genauso wichtig wie die Appelle, man müsse die Bedarfe jetzt genau ermitteln, ist natürlich auch die Akzeptanz eines Transferleistungssystems in der Gesamtgesellschaft. Zur Akzeptanz gehört auch die Akzeptanz jener, die solidarisch Transferleistungen sichern. Vor zwei Wochen, als ich zu Gast beim DGB Nord war, hatte ich durchaus nicht den Eindruck, dass beispielsweise die Gewerkschaften das Lohnabstandsgebot für verzichtbar halten. Es ist ein legitimes Thema, diesen Punkt in der gesamten Sozialstaatsdebatte nicht nur anzusprechen, sondern darauf hinzuweisen.
Statt so zu tun, als hätte irgendeine Seite den Stein der Weisen erfunden, sollten wir uns vielleicht ergebnisorientiert darüber unterhalten, wie Arbeit im Niedriglohnbereich besser auskömmlich werden kann. Dabei geht es insbesondere um die Verbesserung von Hinzuverdienstmöglichkeiten oder um die verstärkte Integration in Mini-, Midi- oder EinEuro-Jobs.
Lieber Kollege Stegner, ich habe Ihnen das schon einmal beim DGB gesagt, als Sie als Gast eine Frage an mich gerichtet hatten. Es war ein Sozialdemokrat, es war Florian Gerster, der Arbeits- und Sozialminister in Rheinland-Pfalz war, der die bestechende Idee gehabt hat, dass diejenigen zunächst einmal Arbeit finden sollen, die im Zweifel aufgrund einer niedrigeren Qualifikation ansonsten am Arbeitsmarkt keine Chance haben. Wenn sie dann von dem so erzielten Einkommen nicht leben können und ihre Familien nicht unterhalten können, dann gibt die Gesellschaft etwas dazu, weil es allemal menschenwürdiger ist, Menschen arbeiten zu lassen und dann aufzustocken. Das hat mit steuersubventionierten Dumpinglöhnen relativ wenig zu tun. Ich finde dieses Modell nach wie vor bestechend.
Wir reden nicht nur über Transfersummen im Rahmen des Arbeitslosengeldes I und II, sondern wir reden - volkswirtschaftlich gesehen - auch davon, dass Arbeitslosigkeit und soziale Randständigkeit schlicht krank machen. Wer Menschen zuhört, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, der weiß, dass dieses Krankmachen keine Folge von
und auch keine Frage von Fehlernährung in Folge von Geldmangel ist. Vielmehr ist es die Folge des bedrückenden Gefühls, in dieser Gesellschaft nicht gebraucht zu werden. Deshalb sage ich: Genauso unsozial, wie hier manche Politikentwürfe gegeißelt wurden, ist es, Menschen dauerhaft zu Transferempfängern machen zu wollen, sie dauerhaft als Transferempfänger belasten zu wollen.
Das ist mindestens genauso unsozial. Wir sind offensichtlich immer sehr schnell dabei, alles in Bausch und Bogen zu verwerfen. Der Grundgedanke der Zusammenführung der Hartz-Gesetzgebung, also der SGB-Reform, der Sozialgesetzbücher II und III, nämlich das Prinzip Fordern und Fördern, ist richtig. Das ist nach wie vor richtig, und es muss weiterentwickelt werden. Ich sage es zum Schluss noch einmal: Nichts ist unsozialer, als Menschen dauerhaft auszugrenzen und sie dauerhaft zu Transferempfänger werden zu lassen.
- Ach, seien Sie doch still. Kein Mensch bestreitet, außer möglicherweise Sie, dass das Ganze auch finanziert werden muss. Wenn wir hier die Kurve kriegen, dann sind wir wesentlich weiter, als wenn wir weiter wechselseitige Schuldzuweisungen vornehmen, wie sie auch heute Vormittag wieder fröhlich gepflegt wurden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Pauschale Urteile sind selten richtig. Bei Hartz IV sind sie sogar falsch, und sie helfen überhaupt nicht.
Herr Kollege Stegner, wenn aber jetzt von Ihnen gesagt wird, wir hätten Schikanen bei Hartz IV, dann ist dies genauso entschieden zurückzuweisen. Wir haben keine Schikanen, sondern wir haben ein Hilfesystem, das die Anforderung stellt, dass derjenige, der vom Staat Geld kriegt, dafür auch etwas zu leisten hat, wenn er es kann. Dieser Grundsatz ist richtig.
Bei dem Thema unserer Debatte kommt es auf sechs Punkte an. Ich meine, dass wir uns auf sie konzentrieren sollten. Erstens. Wir brauchen schnelle Lösungen für die Menschen, und zwar bis Mitte des Jahres und nicht erst im nächsten Jahr. Wir brauchen auch eine verfassungsfeste Lösung. Eigentlich ist es jetzt doch am Wichtigsten, dass sich vor allen Dingen in Berlin, aber auch bei uns, alle Köpfe zusammentun und überlegen, wie das zu erreichen ist. Wenn die Betreffenden das wüssten, dann wäre diese Debatte für sie ein Gewinn gewesen.
Zweitens. Wir brauchen einen Blick auf die Betroffenen, den die Betroffenen auch sehen. Im Hartz-IV-Kreislauf haben wir sieben Millionen Menschen. Gut 20 % unserer Bürger leben in Armut oder sind akut gefährdet. Bei Hartz IV haben wir übrigens auch Mitarbeiter, denen es mit Zeitverträgen und Ähnlichem nicht besonders gut geht. Deshalb ist es wichtig, dass von einer solchen Landtagsdebatte das Signal ausgeht, dass die Sorge der betroffenen Menschen uns das Wichtigste ist. Das ist ein Signal, das wir von einer solchen Debatte aus, wie wir sie heute führen, geben müssen.
Wir als CDU-Fraktion nehmen es sehr ernst, dass unter diesen Menschen sehr viel Angst herrscht. Sie erwarten von uns Lösungen dahin gehend, wie sie aus ihrer Perspektivlosigkeit herauskommen können.
Drittens. Wir brauchen Hilfen, die pass- und zielgenau sind. Herr Kollege Stegner, bei allem Verständnis, Ihr Wünsch-Dir-Was-Katalog erfüllt diese Anforderungen bei Weitem nicht. Wir können doch nicht so tun, als lebten wir in einer Zeit, in der wir keine großen finanziellen Sorgen und Probleme hätten. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der der Staat nur ausgeben kann. Wir leben in einer Zeit, in der die Konflikte größer werden und uns Geld fehlt. Die beste Sozialpolitik zeigt sich in der Antwort auf die Frage, wer in dieser Situation passund zielgenaue Hilfen anzubieten hat. Hierbei kommt es auf zwei Dinge an: Es kommt erstens auf die Kinder und zweitens auf die Härtesituationen an. Die politische Debatte ist dann die Frage: Wollen wir dort mehr Geld geben, oder wollen wir zum Beispiel Hilfen in Form von Sachleistungen oder Gutscheinen geben? - Diese Debatte muss politisch geführt werden. Alles andere entspricht dem Tenor des Verfassungsgerichtsurteils nicht.
Hierzu gehört auch diese Debatte: Es stimmt, dass wir mehr Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, brauchen. Zu dieser Debatte gehört aber auch, dass sich Menschen, die heute 1.200 € verdienen, die Frage stellen: Warum sollen wir arbeiten, wenn andere das Gleiche oder noch mehr haben? - Das ist eine politische Realität in Deutschland. Wer diese leugnet, der ist draußen nicht im Film.
Viertens zur Situation und der Aussage der CDU: Die CDU Schleswig-Holstein hat 2007 einen Beschluss gefasst, und zwar als auf Antrag der CDU, auf meinen Antrag hin, er lautet: Derjenige, der voll arbeitet, der soll davon seine Familie und sich ernähren können. Mir ist wichtig, dass diese Aussage auch für die CDU hier getroffen wird. Wir stimmen in dieser Aussage überein, da gibt es gar keine Differenz. Die Frage ist nur, wie wir die Finanzierbarkeit hinbekommen. Das ist der Zielkonflikt, über den wir zu diskutieren haben.
Fünftens: Wir haben in diesem Jahr in Berlin fast die gesamte Sozialpolitik neu zu regeln. Ich muss an meine Freunde von der FDP-Fraktion ein nett gemeintes Wort richten: Die FDP hat 2005 das Bürgergeld beschlossen. Jetzt wäre die Stunde, um konkrete Vorschläge dahin gehend zu machen, wie dies im Sozialsystem geregelt werden soll. Jetzt wäre die Stunde dazu, daran ist nicht vorbeizudiskutieren.
Jetzt ist für uns alle - auch für Sie - die Stunde, um zu sagen, wie Sie dies passgenau haben wollen. Vorschläge sind willkommen.
Sechstens: Herr Kollege Habeck, Sie haben gesagt, das System sei falsch. Ich habe Ihnen genau zugehört.