Hier unterscheiden wir uns ganz entschieden. Das System ist richtig, es ist nicht falsch. Das System des Förderns und Forderns war und bleibt richtig. Es kommt jetzt nur darauf an, wie es konkret definiert und in Wirksamkeit gebracht wird. Das ist der politische Punkt, auf den es ankommt. Abschließend sage ich:
Der Staat ist nicht dazu da, den Leuten mit großen Mitteln zu helfen, die auf Dauer sagen: Gebt mir doch das Geld vom Staat, ich mache mir einen schönen Lenz.
Der Staat ist dazu da, den Menschen zu helfen, die wirklich in Not sind. Das ist der Maßstab sozialen Denkens und von Sozialpolitik. Wenn wir uns auf diesen Maßstab gemeinsam einigen, bleiben wir nicht in einer Nebeldebatte stehen, sondern kommen zu konkreten Entscheidungen. Das ist die Botschaft, die die Menschen aus dieser Debatte mitnehmen sollten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über den Sozialstaat, die wir hier führen, ist im Kern doch die Debatte darüber, wer was erwirtschaftet und wer wen alimentiert. Alimentierung, das Prinzip, dass derjenige, der etwas erwirtschaften kann, diejenigen unterstützt, die nichts erwirtschaften können, ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Wir alimentieren nicht nur Hartz-IVEmpfänger, wir alimentieren auch Parlamentarier, wir alimentieren auch Soldaten oder Polizisten, weil die einfach nichts erwirtschaften können. Als ich mir die Gedanken gemacht habe, da wusste ich noch nicht, dass man in Nordrhein-Westfalen offensichtlich anders darüber denkt.
In Schleswig-Holstein waren es - nicht diejenigen, die wir auf diese Art und Weise alimentieren, sondern die wir alimentieren, weil sie einfach keine Arbeit finden - zum Stichtag 31. Januar 2010 119.461 Männer und Frauen. Ich will jetzt einmal die, die sich in Fortbildungsmaßnahmen bei der Arbeitsagentur befanden, oder die, die noch nicht im Rentenalter sind, sondern nur zur Verschönerung der Statistik schon aussortiert waren, außen vor lassen. 119.461 Arbeitslosen standen ebenfalls zum 31. Januar - das sind alles Zahlen der Bundesagentur für Arbeit - exakt 26.815 offene Stellen gegenüber. So habe ich meinen Taschenrechner genommen und einmal durchgerechnet: Wenn wir alle in Arbeit brächten, die wir in Arbeit über die offenen Stellen bringen können, dann betrüge die Anzahl der Arbeitslosen noch 92.646.
Wer diese 92.646 Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner, die nachweislich keine Arbeit annehmen können, weil es schlicht und einfach keine gibt, pauschal als faul bezeichnet, muss sich den Vergleich mit Jörg Haider schon gefallen lassen, denn das Maß der Menschenverachtung, das er an den Tag legt, ist erschreckend.
Aber wir wollen nicht über bundes- oder landespolitische Dummschwätzer reden, sondern über die Konsequenzen aus dieser Debatte. Und da zeigen die Zahlen, die ich oben zitiert habe, eines ganz deutlich: Wir brauchen mehr Arbeitsplätze!
Nun ist es wirtschaftspolitisch kein Geheimnis auch wenn die Regierung daran glaubt -: Die Zahl der Arbeitsplätze kann man politisch steuern. Hätten die Regierungskoalitionen in Berlin und Kiel das Geld, auf das man durch das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz verzichtet, in ein Arbeitsmarktprogramm gesteckt, wären jetzt schon oder in kurzer Zeit messbare Ergebnisse zu verzeichnen.
Oftmals wird in der Debatte angemerkt, es sei ein Skandal, dass jemand, der arbeitet, kaum mehr Geld hat als jemand, der ALG II bezieht. Ich teile diese Einstellung. Ich finde es noch einen viel größeren Skandal, dass, wenn jemand den ganzen Tag arbeitet, noch weniger Geld in der Tasche hat als jemand, der ALG II bezieht. Das Lohnabstandsgebot bedeutet für mich, da wir bei der Festlegung der ALG-II-Sätze verfassungsmäßig verpflichtet sind, das Existenzminimum zu sichern, dass wir höhere Löhne brauchen. Die erreichen wir nur durch einen gesetzlichen Mindestlohn. Wer sich dem widersetzt, das wissen wir.
Ich komme zum Kern der Debatte zurück: Wer seine Reinigungskräfte mit Stundenlöhnen von unter 3 € abspeist und sie zwingt, sich durch den Sozialstaat alimentieren zu lassen, obwohl sie den ganzen Tag arbeiten, der ist ein Sozialschmarotzer.
Wer Steuererleichterungen nimmt und sie nach Abzug einer deftigen Parteispende in die eigene Tasche schiebt, anstatt davon seine Mitarbeiter ordentlich zu bezahlen und neue Mitarbeiter anzustellen, der ist ein Sozialschmarotzer.
Wer aber sagt: Für einen Lohn von 3 € in der Stunde arbeite ich nicht, der beweist nur, dass ihm der gesunde Menschenverstand noch nicht abhandengekommen ist.
Die Lösung des Problems liegt also auf der Hand: Verhindern wir, dass jemand, der arbeitet, weniger Geld hat als jemand, der ALG II bezieht! Das geschieht dadurch, dass wir uns für einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 10 € in der Stunde einsetzen.
Weiterhin sorgen wir dafür, dass es in unserem Land wieder mehr Arbeitsplätze gibt. Das geschieht ganz einfach dadurch, dass wir Steuergeschenke für gut betuchte Erben und Hotelbesitzer zurücknehmen, und dadurch, dass wir den Spitzensatz der Einkommensteuer auf einen sozialverträglichen Satz anheben, dadurch dass wir die Unternehmensgewinne sozial gerecht besteuern und all das Geld Sie würden sich wundern, um welche dreistelligen Milliardensummen es sich hier handelt - in Arbeitsmarktprogramme stecken.
Wenn wir das alles getan haben, wenn wir dann so viele Arbeitsplätze haben, dass jeder arbeiten könnte, Herr Kubicki, bin ich gern bereit, über die, die dann nicht arbeiten wollen, zu diskutieren. Vorher aber sollten wir über die wirklichen Sozialschmarotzer reden, über die, die gutes Geld verdienen und sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entziehen.
(Beifall bei der LINKEN und der Abgeord- neten Rasmus Andresen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Lars Harms [SSW])
dieren, dass wir uns gerade bei einer solchen Debatte zukünftig mehr mit der Gegenwart und auch der Zukunft beschäftigen als großenteils mit der Vergangenheit. Ich glaube, ich spreche nicht nur für mich als jungen Abgeordneten, sondern auch für andere junge Abgeordnete, dass wir uns teilweise etwas komisch vorkommen. Es werden bei jedem Thema ganz schnell Barschel-Vergleiche und die alten Zeiten wieder rausgeholt und aufgewärmt.
- Das sind nicht meine Worte, Herr Kollege. Ich möchte generell dafür plädieren. Nicht nur, weil jemand, der meiner Partei angehört, etwas sagt, ist das ausdrücklich auch meine Meinung. Das muss man vielleicht auch etwas differenziert sehen. Ich weiß nicht, vielleicht ist es in der SPD gleich Gesetz, wenn der Vorsitzende etwas sagt. Da gibt es auch unterschiedliche Meinungen, aber gut. Ich bin der Meinung, es bringt nichts, ständig in die Vergangenheit zu schauen, wenn man nicht auch bereit ist, auch aus ihr zu lernen.
Frau Spoorendonk, Ihre Beiträge finde ich oft sehr wertvoll, aber Kriegsrhetorik in dieser Frage ist aus meiner Sicht nicht angebracht.
Das ist der falsche Weg, über ein solches Thema zu sprechen. Wenn Debatten nicht im Parlament geführt werden sollen, dann frage ich mich: Wo denn dann? Wenn Debatten in den Medien geführt werden, aber nicht im Parlament, finde ich das schon etwas merkwürdig. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
Ich komme zum Thema. Theater wurde schon genug gemacht. Die Leute, die am meisten über Theater gesprochen haben, haben auch am meisten gemacht. Ich komme noch einmal zum Thema: Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind im Bereich der sozialen Sicherungssysteme gewaltig. Es gibt dort einen immensen Reformstau. Der Sozialstaat, den wir momentan haben, und die zusätzlichen enormen Belastungen, die noch obendrauf
kommen durch die jahrzehntelange Schuldenpolitik, mit der wir tagtäglich zu kämpfen haben, müssen in Zukunft immer weniger Schultern tragen. Der demografische Wandel wird schon jetzt immer stärker für die Menschen spürbar und wirft für die junge Generation zwangsläufig die Frage auf, wer zukünftig die Belastungen tragen soll und wer für sie im Alter sorgen wird. Das ist eine berechtigte Frage, über die wir uns in Zukunft auch stärker unterhalten sollten.
In einigen Großstädten - das muss uns meiner Meinung nach zu denken geben - lebt mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung von staatlichen Transferleistungen, was im Umkehrschluss nichts anderes bedeutet, als dass dort eine Mehrheit von einer Minderheit finanziert wird. Das sollte uns auf jeden Fall zu denken geben. Es geht in keinster Weise darum, den Sozialstaat als solchen infrage zu stellen, sondern es geht vielmehr darum, wie wir den Sozialstaat auch in Zukunft erhalten können. Das ist eine Frage, über die wir uns unterhalten müssen.
Wir müssen uns fragen, wo die Solidarität mit der jungen Generation und den zukünftigen, nachkommenden Generationen bleibt. Diese Frage wird allzu gern ausgeblendet. Da wird hier Theater gemacht ohne Ende, aber wichtige Fragen, die es zweifelsohne gibt - ich glaube, da sind wir uns alle einig -, müssen wir stärker thematisieren. Wo bleibt die Solidarität mit den Menschen, die der Hilfe bedürfen? Darüber haben wir uns viel unterhalten. Das ist auch vollkommen richtig. Wir müssen uns bloß auch darüber unterhalten, wo die Solidarität mit der jungen und nachkommenden Generation ist. Es geht nicht nur um Umweltschutz, Herr Habeck, da sind wir uns sicherlich auch einig, sondern es geht auch um die sozialen Sicherungssysteme. Da sind wir uns vielleicht auch einig, das werden wir sehen.
(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU - Zuruf des Abgeordneten Dr. Robert Habeck [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen bei Hartz IV wollen wir möglichst schnell dafür sorgen, dass eine menschenwürdige Grundsicherung am tatsächlichen Bedarf ausgerichtet wird. Das wurde hier schon mehrfach gesagt. Das Urteil zeigt einmal mehr, dass die Hartz-IVReformen und die Agenda 2010, zu der auch die
SPD einmal stand, insgesamt handwerklich schlecht umgesetzt wurden und auch deshalb wenig Akzeptanz in der Bevölkerung erfahren haben.
Zu den Vorschlägen auch meiner Partei - Herr Kollege Kalinka, Sie haben es schon angesprochen -, das Bürgergeldmodell. Da steht im Koalitionsvertrag auf Bundesebene ein Prüfauftrag drin. Das Ministerium, das - wie Sie wissen - dafür zuständig ist, wird von der CDU geführt. Dort gibt es auch Parlamentarische Staatssekretäre, die auch CDA-Kollegen von Ihnen sind. Die werden das prüfen. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt, aber es wird zumindest geprüft. Es ist nicht so, dass keine Vorschläge auf dem Tisch liegen und dass darüber nicht gesprochen wird, sondern das passiert tatsächlich in Berlin, und das ist aus meiner Sicht auch richtig.
Meine Damen und Herren, Guido Westerwelle, um auf den Verursacher dieser Debatte zurückzukommen, hat die reflexartige Reaktion einiger Politiker auf das Verfassungsgerichtsurteil kritisiert. Einige haben gleich erklärt - auch Ihre Kollegen, Herr Dr. Habeck -, man müsse jetzt automatisch die Regelsätze erhöhen, und für Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommen gebe es keine Möglichkeit mehr. Wir sind jedoch der Meinung, dass sich mehr Fairness im Sozialsystem und mehr Fairness im Steuer- und Abgabensystem nicht ausschließen, sondern vielmehr miteinander einhergehen müssen. Das ist eine ganz wichtige Frage. Ich bin der Meinung, man sollte diese beiden Dinge nicht immer gegeneinander ausspielen. Das sind keine Gegensätze, sondern sie müssen tatsächlich miteinander einhergehen.