Protokoll der Sitzung vom 19.11.2009

Das kann nicht richtig sein. Eine so enorme Verschiebung des Willens der Wählerinnen und Wähler darf es in einer Demokratie nicht wieder geben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Deshalb umfasst unser Antrag drei Änderungen: Erstens wollen wir die Wahlkreise erheblich reduzieren. Es ist politisch immer ein schwaches Argument, am Ende recht behalten zu haben. Trotzdem sei noch einmal der Hinweis erlaubt: Unsere Kritik, die wir zusammen mit dem SSW und der FDP an

der Anzahl der Wahlkreise geäußert haben, ist bis jetzt immer bei CDU und SPD kalt abgeblitzt.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Aber Sie waren doch in der Regierung, als das Wahlgesetz verabschiedet wurde!)

Bei dieser Landtagswahl sind nun die Auswüchse dieser verfehlten Politik der letzten Jahre deutlich geworden. Statt - wie vorgesehen - 69 Abgeordnete sitzen nun 95 Abgeordnete in diesem Saal. Das alles hätte vermieden werden können, hätte man spätestens bei der Reduzierung der regulären Abgeordnetenzahl im Jahr 2003 von 75 auf 69 auch eine Angleichung der Anzahl von Wahlkreisen und Listenmandaten vorgenommen. Denn nur dadurch ist die Zahl der Überhang- und Ausgleichsmandate wirksam einzugrenzen.

(Zurufe von CDU und FDP)

- Wir haben es beantragt, Herr Kubicki; wir haben beantragt, vor der Landtagswahl eine Reduzierung vorzunehmen. Das hat aber keine Zustimmung gefunden.

Wenn jetzt landesweit über die Kosten der Demokratie diskutiert wird, dann ist das eine Debatte, die Sie zu verantworten haben, liebe Freundinnen und Freunde aus den Volksparteien.

(Vereinzelter Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Prinzip können Sie froh sein, dass wir hier in Schleswig-Holstein ein Land an der Peripherie der Bundesrepublik sind. Stellen Sie sich einmal vor, was in diesem Land los wäre, wenn im Bundestag ich übertrage das einmal auf die Größenverhältnisse im Bundestag -, 823 Abgeordnete sitzen würden mit einer massiven Verschiebung des Willens der Wählerinnen und Wähler.

(Peter Eichstädt [SPD]: Das kann da aber auch passieren!)

Die SPD hat bei dieser Wahl schmerzlich erfahren, was es für die Direktkandidatinnen und -kandidaten bedeutet, wenn das Wort „Volkspartei“ nicht mehr zu den prozentualen Ergebnissen passt. Und ich sage Ihnen hier und heute voraus: Das nächste Mal wird die CDU denselben Weg entlanggehen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben eben nicht mehr zwei starke Volksparteien über 40 %. Es hat sich ein Fünfparteiensystem und hier in Schleswig-Holstein sogar ein Sechsparteiensystem etabliert, in dem die prozentualen Unterschiede der Parteien immer geringer werden.

(Vizepräsidentin Dr. Gitta Trauernicht)

Die jungen Menschen, die in der Informationsgesellschaft groß geworden sind, verlangen nach Parteien mit klaren Botschaften. Das ist eine Entwicklung, von der Parteien wie Grüne, FDP und Linkspartei sowie hier in Schleswig-Holstein der SSW profitieren können. Das Wahlrecht kann diesen Trend nicht ignorieren. Wir müssen es modernisieren.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SSW)

Wir dürfen jetzt auch keine halben Sachen machen. Eine Reduzierung der Wahlkreise auf 35 würde ausreichen, wenn wir Volksparteien hätten, die wie es in meiner Jugend noch der Fall war - vor Kraft strotzen. Hätten wir bei der jüngsten Landtagswahl 35 Wahlkreise gehabt statt 40, wären wahrscheinlich circa 30 Direktmandate auf die CDU entfallen. Da der CDU eigentlich nach d’Hondt nur 23 Mandate zustehen, hätte das zu sieben Überhangmandaten geführt. Dazu kämen noch Ausgleichmandate. Der Landtag wäre also wieder total aufgebläht.

Nein, wir brauchen eine deutliche Reduzierung der Wahlkreise auf 30. Nur das wird dazu führen, dass Überhangmandate unwahrscheinlich werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW - Zuruf des Abgeordneten Dr. Christian von Boetticher [CDU])

Wir wollen zweitens das Sitzverteilungsverfahren gerechter machen. Das bisherige Verfahren ist nicht mehr zeitgemäß. Von 16 Bundesländern verfahren nur noch wenige nach d’Hondt. Zuletzt hat BadenWürttemberg im Jahr 2006 das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers für die nächste Landtagswahl eingeführt. Der Bundeswahlleiter kam in einer Studie im Jahr 1999 zu dem Schluss, dass das Verfahren, das wir Ihnen heute vorschlagen, das gerechteste Wahlverfahren ist. Deshalb gilt es inzwischen auch schon für die Bundestagswahl. In Schleswig-Holstein sollten wir nachziehen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der LINKEN und SSW)

Wir wollen drittens die verfassungswidrige Deckelung der Ausgleichsmandate aufheben. Bereits in der letzten Wahlperiode hat die grüne Landtagsfraktion hierzu eine Gesetzesänderung vorgeschlagen. Auch diese Änderung wurde damals von CDU und SPD abgelehnt. Damals gab mein geschätzter Kollege Hentschel unter anderem folgende Begründung an, als er die Änderung des Wahlrechts forderte:

„Wir wollen damit verhindern, dass es bei der in nicht einmal zwei Jahren anstehenden Landtagswahl zu den gleichen Problemen kommt, welche wir jetzt in der Nachschau mit den Ergebnissen der Kommunalwahlen von Mai hatten und haben.“

Weiter sagte er:

„Meine Damen und Herren, man stelle sich einmal vor, diese Unklarheiten würden nach einer Landtagswahl auftreten und die Mehrheitsbildung würde dann über Monate oder gar Jahre von einer Gerichtsentscheidung abhängen. So etwas darf nicht passieren, und deshalb muss rechtzeitig vor der Landtagswahl 2010 Klarheit geschaffen werden.“

So die Worte von Herrn Hentschel.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Christian von Boetticher [CDU]: Warum habt ihr ihn dann nicht wieder aufgestellt! Das ist ein Skandal!)

Das zeigt: Der Totalschaden für die Demokratie, den wir jetzt haben, geht auf das Konto der Großen Koalition.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Wir haben keinen Totalschaden!)

Sie haben damals die auf Rot geschaltete Ampel nicht übersehen, nein, Sie haben das Signal voll erkannt und trotzdem aufs Gaspedal gedrückt. Die Bürgerinnen und Bürger haben jetzt den Schaden davon.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN - Wolfgang Kubicki [FDP]: Welchen Schaden denn? - Weitere Zurufe)

Als Juristen ist es ja unsere Stärke, Normen auszulegen, zu gucken und sich verschiedenen Möglichkeiten zu überlegen, wie man Gesetze umsetzen kann und was sie bedeuten. Aber eines sage ich Ihnen ganz deutlich: Beim Wahlrecht sind nicht die Juristen gefragt, beim Wahlrecht muss jede Bürgerin und jeder Bürger wissen, wie es auszulegen ist, und das ist beim gegenwärtigen Wahlrecht nicht der Fall.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Ranka Prante [DIE LINKE] - Zurufe)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht mir um die Sache. Lassen Sie mich deshalb zum Schluss

(Thorsten Fürter)

meiner Rede noch ein paar persönliche Gedanken einbringen.

(Zurufe)

Ich weiß, dass Sie den Vorwurf der mangelnden Legitimität der Regierung nicht akzeptieren werden. Sie werden auf die durchaus in einer demokratischen Wahl in den Wahlkreisen legitimierten Direktkandidaten verweisen.

(Zurufe von der CDU: So ist es!)

Liebe CDU-Fraktion, liebe SPD-Parlamentarier aus Kiel und Lübeck, ich möchte niemandem von Ihnen persönlich die Legitimität absprechen.

(Dr. Christian von Boetticher [CDU]: Das können Sie auch gar nicht!)

Ich freue mich, mit Ihnen im Landtag zusammenzuarbeiten. Das ändert aber nichts daran, dass die Verzerrung des Wahlergebnisses durch Überhangmandate ein Ausmaß angenommen hat, das die Verfassung nicht gewollt hat. Ich habe auch Zweifel, dass das Landesverfassungsgericht diese Verzerrung akzeptieren wird.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und des Abgeordneten Lars Harms [SSW])

Zugleich weiß ich, dass die von Ihnen, Herr Ministerpräsident Carstensen, gebildete Regierung gar keine andere Möglichkeit hatte, als die sich aus der Sitzverteilung ergebende Parlamentsmehrheit zu nutzen. Auch Sie sind insoweit Opfer des verkorksten Wahlrechts, das wir jetzt gemeinsam modernisieren sollten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Unruhe)

Dieses Mal sollten wir wirklich zu einer für die Zukunft tragfähigen Lösung kommen. Ich beantrage die Überweisung an den Innen- und Rechtsausschuss.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Antje Jansen [DIE LINKE] - Weitere Zurufe - Glocke der Präsi- dentin)

Lieber Herr Kubicki, meine Damen, meine Herren, ich möchte darum bitten, dass wir hier eine geordnete Sitzung hinbekommen, auch wenn es mein Kollege Herr Kubicki ist. Halten Sie sich bitte an die Redeordnung!

Es wird von dem Kollegen Rother eine Zwischenfrage gewünscht. - Ich erteile Ihnen das Wort.