Protokoll der Sitzung vom 23.03.2011

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 16. Tagung des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Das Haus ist ordnungsgemäß einberufen und beschlussfähig.

Die Abgeordnete Anette Langner hat nach § 47 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Landtags mitgeteilt, dass sie an der Teilnahme der heutigen Sitzung des Landtags verhindert ist.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

Seit dem 11. März 2011 verfolgen wir mit wachsender Bestürzung die Ereignisse in Japan. Erdbeben, ein Tsunami und schließlich die nukleare Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima haben dort Tausende von Leben gefordert. Unzählige Menschen wurden verletzt, verloren ihr Zuhause und die Grundlagen ihrer Existenz. Weite Landstriche dieses dicht besiedelten Landes drohen auf Jahrzehnte unbewohnbar zu werden. Japan, das zu den führenden Wirtschaftsnationen der Welt zählt, steht dieser Tage am Rande eines Abgrunds, den viele für unmöglich gehalten haben.

Im Angesicht dieser erschreckenden Dimension und des unermesslichen menschlichen Leids fällt es immer noch schwer, unsere Empfindungen in Worte zu fassen. Aber unsere Gedanken sind bei den zahllosen Opfern dieser Katastrophe, bei den Kindern, Frauen und Männern, die ihr Leben und ihre Gesundheit, die ihre Hoffnung und ihre Heimat eingebüßt haben. Wir fühlen mit den Angehörigen, den Freunden und allen, die jetzt Schmerz und Verzweiflung zu tragen haben.

Meine Damen und Herren, wir sind Zeugen geworden, wie schnell Sicherheit und Normalität einer hoch technologisierten Nation verloren gehen können. Diese Erfahrung wird auch Deutschland verändern. Wir haben Schlüsse aus dem zu ziehen, was in Fukushima geschehen ist - nicht übereilt, aber doch zügig, mit Besonnenheit und in großer Sachlichkeit. Die Menschen in unserem Land erwarten von uns, dass wir uns ihrer Sorgen annehmen. Ihre Ängste haben wir ernst zu nehmen. Gerade in Anbetracht der Tragödie von Japan müssen wir Abgeordnete deutlich machen, dass wir nicht in alten Denkmustern verharren. Schließlich ist es eine der großen Stärken der parlamentarischen Demokratie, dass sie sich menschlichen Zweifeln immer wieder

stellt, dass sie getroffene Entscheidungen überprüft und sie - wo nötig - auch korrigiert. Dies zu tun, erfordert Mut und Entschlossenheit, übrigens auf allen Seiten. Mut und Entschlossenheit haben auch die Japanerinnen und Japaner zu beweisen. Nehmen wir uns daran ein Vorbild.

Der Präsident des Deutschen Bundestags hat vor wenigen Tagen dem Wunsch und der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass das Parlament die Kraft aufbringen werde, mit dem nötigen Ernst und der angemessenen Sachlichkeit über die sich neu stellenden Fragen der Energie- wie der Umweltpolitik zu sprechen. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Meine Damen und Herren, wir sind Japan in vielfältiger Weise freundschaftlich verbunden. Umso größer ist unsere Bestürzung über das, was dort geschehen ist. Ganz unmittelbar nehmen wir Anteil am Schicksal Japans, einer starken Nation, die in ihrer Verzweiflung nun unsere Solidarität benötigt. Deshalb habe ich dem japanischen Generalkonsul in der vergangenen Woche unser aller Mitgefühl ausgedrückt.

Wir sollten es jedoch nicht nur bei Worten belassen. Naturkatastrophe und Reaktorunglück haben viele Menschen in Not und Elend gestürzt. Es gibt viele Obdachlose, Waisen, Schwache und Kranke, Menschen, die verstrahlt worden und nun dem Tode geweiht sind. Im Katastrophengebiet fehlt es an allem. Ich bin deshalb dankbar, dass Schülerinnen und Schüler der Kieler Humboldt-Schule heute zu uns in das Landeshaus gekommen sind, um für die Überlebenden in Fukushima zu sammeln.

Für den nun vor Japan liegenden Weg, für die Zeit der Trauer und für die Zeit des Wiederaufbaus, wünschen wir den Menschen dort viel Kraft. Der zahllosen Opfer, denen weitere folgen werden, wollen wir nun schweigend gedenken.

Ich danke Ihnen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, auf der Zuschauertribüne begrüße ich an dieser Stelle einen besonderen Ehrengast. Ich begrüße den Erzbischof von Hamburg, Herrn Dr. Thissen. - Seien Sie uns ganz herzlich willkommen!

(Beifall)

Ich habe Ihnen eine Aufstellung der im Ältestenrat vereinbarten Redezeiten übermittelt. Der Ältestenrat hat sich verständigt, die Tagesordnung in der ausgedruckten Reihenfolge mit folgenden Maßgaben zu behandeln:

Zu den Tagesordnungspunkten 2, 4, 5, 7, 33 bis 37, 39 bis 42 sowie 47 ist eine Aussprache nicht geplant. Von der Tagesordnung abgesetzt werden sollen die Tagesordnungspunkte 8, 10, 19, 23 und 43.

Zur gemeinsamen Beratung sind folgende Tagesordnungspunkte vorgesehen: 1 A, 20 und 28 - Regierungserklärung „Energiepolitik für SchleswigHolstein - verantwortlich und nachhaltig“, die Anträge zum „Beitritt des Landes Schleswig-Holstein zur Verfassungsklage gegen die Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke“ sowie „Tschernobyl mahnt uns: Atomkraftwerke abschalten!“.

Gemeinsam beraten werden sollen auch die Tagesordnungspunkte 21 und 22 - Bericht und Antrag zur Zukunft der Justizvollzugsanstalten in Flensburg und Itzehoe -, 14 und 30 - die Anträge „Ausreichend Studienanfängerplätze für Schleswig-Holstein sicherstellen“ und „Strukturen für zusätzliche Studienanfängerinnen und Studienanfänger schaffen“ -, 13 und 46 - die Anträge „Schuldner- und Insolvenzberatung stärken“ und „Auswirkung der Liberalisierung des Glücksspiels auf das Suchtverhalten“ -, 31 und 32 - die Anträge „Für eine erleichterte Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen Bildungs- und Berufsabschlüssen“ sowie „Fachkräftepotenziale besser nutzen“.

Gemeinsam beraten werden sollen auch die Tagesordnungspunkte 25 und 29 - „Studium und Familie besser vereinbar machen“ und „Gleiche Chancen und ‚tatsächliche Wahlmöglichkeiten’ von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft“.

Anträge zu einer Fragestunde liegen nicht vor.

Die Fraktion DIE LINKE hat mit Schreiben vom 14. März 2011 einen Antrag für die Durchführung einer Aktuellen Stunde mit dem Thema „Zukunft der Atomenergie in Schleswig-Holstein“ gestellt. Der Ältestenrat hat sich darauf verständigt, dass mit der Regierungserklärung begonnen und die Inhalte der Aktuellen Stunde in diesem Rahmen behandelt werden. - Widerspruch sehe ich nicht, dann werden wir so verfahren.

Meine Damen und Herren, wann die weiteren Tagesordnungspunkte voraussichtlich aufgerufen werden, ergibt sich aus der Ihnen vorliegenden Übersicht über die Reihenfolge der Beratungen in der 16. Tagung.

Wir werden jeweils unter Einschluss einer zweistündigen Mittagspause längstens bis 18 Uhr tagen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann werden wir so verfahren.

(Präsident Torsten Geerdts)

Ich begrüße auf der Zuschauertribüne Schülerinnen und Schüler des Wolfgang-Borchert-Gymnasiums, Halstenbek. - Seien Sie uns herzlich willkommen!

(Beifall)

Ich begrüße ebenso herzlich Schülerinnen und Schüler der Privatschule Düsternbrook sowie des Kieler Humboldt-Gymnasiums. - Seien Sie uns herzlich willkommen im Schleswig-Holsteinischen Landtag!

(Beifall)

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 1A, 20 und 28 auf:

Gemeinsame Beratung

a) Regierungserklärung „Energiepolitik für Schleswig-Holstein verantwortlich und nachhaltig“

b) Beitritt des Landes Schleswig-Holstein zur Verfassungsklage gegen die Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/1360 (neu)

Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und SSW Drucksache 17/1405

c) Tschernobyl mahnt uns: Atomkraftwerke abschalten!

Antrag der Fraktion DIE LINKE Drucksache 17/1368

Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/1408

Meine Damen und Herren, das Wort hat Ministerpräsident Peter Harry Carstensen.

(Beifall bei CDU und FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Vor zwölf Tagen wurde Japan von zwei gewaltigen Naturkatastrophen getroffen. Die unmittelbaren Wirkungen und Folgen ver

ändern seitdem die Welt. Ich bin - wie sicherlich alle hier im Hohen Haus - tief betroffen und nachdenklich angesichts der schrecklichen Ereignisse in Japan.

Mittlerweile wissen wir: Die Katastrophe hat für die dort lebenden Menschen entsetzliche, für uns wahrscheinlich kaum vorstellbare Ausmaße angenommen. Die drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt erlebt unvorstellbares Leid - menschlich, ökonomisch und technologisch. Mich überkommt ein Gefühl der Ohnmacht bei den Schreckensmeldungen und Bildern, die uns erreichen. Erst das Jahrhundertbeben, dann der Tsunami. Es ist eine Verkettung von Naturkatastrophen, die schließlich in das atomare Unglück von Fukushima geführt hat. Ich bin mit meinen Gedanken und Gebeten bei den Trauernden und Notleidenden in Japan. Unser ganzes Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen.

Auch wenn in Deutschland ein solcher Doppelschlag der Naturgewalten nicht zu befürchten ist, bekommen wir trotzdem vor Augen geführt: Es kann Extremsituationen geben, in denen wir eine Technik kaum mehr beherrschen können. Noch immer können wir nicht das ganze Ausmaß der Katastrophe überblicken, doch eines ist bereits traurige Gewissheit: Japan hat Tausende Tote zu beklagen. Erdbeben, Tsunami, Eiseskälte und radioaktive Bedrohung - die Menschen in Japan werden in diesen Tagen unermesslich hart geprüft.

Von ganzem Herzen spricht die schleswig-holsteinische Landesregierung dem japanischen Volk ihr Mitgefühl aus. Japan trauert, und wir nehmen großen Anteil daran. Wir stehen bereit zu helfen. Hilfskräfte aus Deutschland waren im Krisengebiet; die Bundesregierung hat sofort Hilfe angeboten. Ich habe nach den ersten Meldungen umgehend Kontakt aufnehmen lassen mit Schleswig-Holsteins Partnerpräfektur Hyogo. Uns wurde versichert, dass diese Region weitgehend verschont geblieben ist, weil sie weit genug entfernt liegt.

Meine Damen und Herren, vor den Bildern der Zerstörung ist es nicht leicht, eine vernunftbestimmte Debatte über Energiepolitik zu führen. Doch genau diese will ich mit meiner Regierungserklärung anstoßen. Denn Japan zeigt: Wir müssen bisherige Standards unseres Denkens im Licht der aktuellen Geschehnisse überprüfen. Wir müssen neu nachdenken über die Zukunft unserer Energieversorgung. Ich räume unumwunden ein: Die Situation nach Japan ist eine grundlegend andere als vorher, auch für mich. Vielen Menschen in Deutschland geht es ähnlich, ihnen machen die Ereignisse Angst. Diese Ängste nehmen wir ernst, denn die Aufgabe

(Präsident Torsten Geerdts)

von Politik ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen und die Bürger ohne Angst leben können. Deshalb fragen sich viele zu Recht: Haben wir die Fragen immer richtig gestellt? Haben wir alle Fragen gestellt? Sind die bisherigen Antworten heute noch die richtigen Antworten?

Dabei komme ich im Ergebnis zum selben Schluss wie die Kanzlerin: Fukushima ist eine Zäsur in der Geschichte der technisierten Welt. Restrisiken sind keine theoretische Größe mehr, sondern hier zu einer schrecklichen menschlichen Erfahrung geworden. Das macht es aus meiner Sicht erforderlich, die Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke größtmöglich zu verkürzen.

Meine Damen und Herren, wir sind auf dem Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Schleswig-Holstein ist auf diesem Weg bereits weit vorangekommen. Nach dieser Zäsur geht es darum: Wie können wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien noch schneller erreichen als bislang geplant? Wie lösen wir die Probleme, die wir beim Ausbau regenerativer Energien noch haben? Dafür brauchen wir eine Debatte, die ehrlich ist, die sachlich ist und in der es darum geht, wie das Industrieland Deutschland dauerhaft und sicher mit Energie versorgt werden kann.

Die Versorgungssicherheit hat nach der Betriebssicherheit für den hoch entwickelten Standort Deutschland höchste Priorität. Ich wünsche mir in Kiel und in Berlin eine Debatte, die das Leid in Japan nicht instrumentalisiert. Regierung und Opposition sind ebenso wie Parteien, Verbände und andere gesellschaftliche Gruppen in der Pflicht, diese Debatte respektvoll zu führen. Die Menschen erwarten von uns Redlichkeit im Umgang miteinander. Dazu gehört auch, dass nicht sofort reflexartig von Wahltaktik gesprochen wird, wenn eine Regierung tut, was ihre Aufgabe ist, nämlich im Angesicht der Katastrophe zu prüfen, ob unser Verständnis von Sicherheit heute noch das gleiche sein kann wie vor zwölf Tagen.