Protokoll der Sitzung vom 29.06.2011

Drittens. Sie wollen diese Identität bewahren.

Viertens. Sie sind traditionell in Schleswig-Holstein heimisch.

Fünftens. Sie leben innerhalb Schleswig-Holsteins in angestammten Siedlungsgebieten.

Es ist nicht neu, dass es die Union ist, die immer auf den fünften Punkt hinweist, nämlich dass Schleswig-Holstein vergleichbar mit dem, was wir an Grundlagen bei Friesen und Dänen anlegen, angestammtes Siedlungsgebiet für Roma und Sinti sein muss.

Ich will deutlich machen: Die ersten Sinti und Roma sind um die Wende des 14./15. Jahrhunderts in das deutsche Sprachgebiet eingewandert. Daran, dass sie in Deutschland beheimatet sind, dass es in Deutschland seit nunmehr 600 Jahren angestammte Siedlungsgebiete gibt, gibt es keinen Zweifel. Nach verschiedenen historischen Quellen tauchten sie 1399 zum ersten Mal in Böhmen auf. Schon 1407 sollen sie der Stadtschreiberei zu Hildesheim ihre Papiere vorgewiesen haben, 1414 dann in Hessen, 1416 in Meißen, und - in der Tat - 1417 gibt es die erste urkundliche Erwähnung in Lübeck.

Als Hauptsiedlungsgebiete werden allerdings schlichtweg der Rhein-Main-Raum und der RheinNeckar-Raum genannt, die Großstädte und seit dem 19. Jahrhundert vor allen Dingen das Ruhrgebiet.

Für uns ist interessant, wie diese Debatte bundesweit aussieht, denn es handelt sich in der Tat um eine Tatsache, dass Sinti und Roma mit den Schwerpunkten, die ich eben genannt habe, in Deutschland vertreten sind. Wir haben sicherlich eine hohe Verantwortung in Baden-Württemberg. 1496 gab es die damaligen Freiburger Verfolgungsedikte. Wenn

ich heute in den Koalitionsvertrag von Grün und Rot in Baden-Württemberg gucke, sehe ich, dass Baden-Württemberg keine Debatte darüber führt, Sinti und Roma trotz dieser historischen Verantwortung in die Verfassung aufzunehmen. Wenn ich nach Nordrhein-Westfalen gucke, wo man in der Tat von historischen Siedlungsräumen spricht, stelle ich fest, dass Rot-Grün dort überhaupt keine Debatte über die Aufnahme von Sinti und Roma in die Verfassung führt. Heute leben in Nordrhein-Westfalen 35.000 Sinti und Roma, in Bayern 12.000, in Niedersachsen 12.000 und in Schleswig-Holstein 5.000.

Das ist der Grund, aus dem sich die Union in all den Jahren, in denen wir das in Schleswig-Holstein diskutieren, immer schwer damit getan hat, plötzlich hier erstmalig in der gesamten Bundesrepublik

(Zuruf von der SPD)

einen solchen Status festzuschreiben, vor allen Dingen, weil wir vergleichbare Gruppen, die - wie Friesen und Dänen - all die genannten Kriterien sicher erfüllen, mit einem besonderen Stellenwert versehen.

Ich will aber keinen Hehl daraus machen, dass es inzwischen nach einer langen Debatte innerhalb der CDU und auch der CDU-Fraktion Mitglieder meiner Fraktion gibt, die sagen: Jawohl, aufgrund der Debatten und der Tatsache, dass wir hier in Schleswig-Holstein 5.000 Sinti und Roma haben, und das über eine lange Zeit, sollten wir offener sein, sollten wir uns dieser Debatte öffnen und dafür stimmen. Wir haben in der Fraktion eine sehr breite Debatte gehabt. Ich will aber sagen, dass die Mehrheitsmeinung ganz deutlich der Auffassung ist, die ich am Anfang in der Historie dargelegt habe. Wir haben gemeinschaftlich, im Übrigen ohne Ausübung von Druck und Zwang, mit einer ganz breiten Mehrheit, die auch diejenigen umfasst, die einer Aufnahme zustimmen würden, beschlossen, dass wir uns gemeinsam mit der FDP bei der Abstimmung enthalten werden. Wir wollen aber auch deutlich machen und deutlich darauf hinweisen, dass das eine Debatte ist, in der wir ein Stück Zukunft erkennen.

Wir haben mit der Verfassung etwas anderes gemacht. Wir haben seit 1998 immer wieder Verfassungsänderungen herbeigeführt: 1998 Artikel 9 mit der Kultur, dem Volkshochschulwesen und der Bücherei, 2006 mit der Pflege, 2007 mit den Kinderrechten. 2008 haben wir die Verfassung um die bundesweiten Grundrechte ergänzt und 2011 wieder um Kinderrechte. Wer sich heute die Artikel 5

(Vizepräsidentin Dr. Gitta Trauernicht)

bis 9 unserer Verfassung anguckt, sieht diese Chronologie sehr eindeutig. Es ist inzwischen ein Sammelsurium von Schutz- und Förderbestimmungen, und zwar in einer Art und Weise gegliedert, wie es sich in keiner anderen bundesdeutschen Verfassung wiederfindet.

Wir sind gern bereit, einer Überarbeitung der Artikel 5 bis 9 die Hand zu reichen. Bei einer solchen Überarbeitung und Neugliederung der entsprechenden Artikel sind wir sicherlich kompromissbereit, was die Frage der Minderheiten und die Frage der Aufnahme von Sinti und Roma in die Verfassung angeht. Noch - sage ich ganz deutlich - überwiegen in unserer Fraktion bei Weitem die Bedenken. Das gilt im Übrigen auch für die Partei.

(Beifall bei CDU und FDP)

Für die SPD-Fraktion hat die Frau Abgeordnete Birte Pauls das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist unser dritter Versuch, Sinti und Roma mit deutscher Staatsbürgerschaft in den Artikel 5 unserer Landesverfassung aufzunehmen, um ihnen so Schutz und Förderung zu bieten, um sie anderen anerkannten Minderheiten in diesem Land endlich gleichzustellen und um endlich den europäischen Vorgaben nachzukommen.

Die Argumente sind ausgetauscht - das hätte ich an dieser Stelle gern gesagt. Aber die Wahrheit ist, dass die CDU keine aufschlussreichen Argumente in die Diskussion eingebracht hat. Die Rede von Herrn von Boetticher hat es gerade gezeigt.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Sie verlieren sich stattdessen in schwammigen Bemerkungen wie „die Verfassung ist nicht der richtige Ort, um konkrete politische Probleme zu lösen“.

(Dr. Christian von Boetticher [CDU]: Sie müssen einmal zuhören!)

- So hat es Herr Herbst im Europaausschuss - insoweit zitiere ich nur Ihren Kollegen Herbst - formuliert, ganz zu schweigen von der Äußerung des Kollegen Kalinka, der sagte - ich zitiere -: „Da könnten ja Türken und Polen und alle anderen auch kommen“. Dieser Vergleich ist absolut inakzeptabel, meine Damen und Herren.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, der LINKEN und der Abgeordneten Silke Hinrichsen [SSW])

Da kann ich nur sagen: Wer Sinti und Roma ausschließlich als Problem betrachtet, hat von Minderheitenpolitik nichts verstanden, aber auch gar nichts.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, der LINKEN und SSW)

Frau Abgeordnete -

Sie lassen eine Zwischenfrage nicht zu?

Jetzt nicht.

Dann haben Sie weiter das Wort.

Diese Äußerungen sind bezeichnend für Ihr anscheinend sehr wenig ausgeprägtes Verständnis von einer zukunftsgewandten Minderheitenpolitik. Sie haben sich in jüngster Zeit auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wenn es um Minderheitenpolitik ging.

(Beifall bei SPD, der LINKEN und der Ab- geordneten Silke Hinrichsen [SSW])

Es ist nicht nur so, dass Sie es nicht wollen oder es auch nicht schaffen, die anerkannten Minderheiten im Land der Mehrheitsbevölkerung jedenfalls in Teilen gleichzustellen - ich denke da nur an die Kürzungen bei den dänischen Schulen -, nein, Sie verfolgen auch weiterhin den Unsinn, die Minderheiten selbst in der Frage der Aufnahme in die Verfassung nicht gleichzustellen.

(Beifall bei der SPD und der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Zwischen Minderheiten erster und zweiter Klasse zu differenzieren, ist praktizierte Ausgrenzung.

(Dr. Christian von Boetticher)

(Beifall bei SPD, der LINKEN sowie verein- zelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Beifall des Abgeordneten Lars Harms [SSW])

Sie wollen eben eine Zweiklassengesellschaft nicht nur in der Medizin, nein, auch bei den Minderheiten. Sie wollen auch an dieser Stelle spalten.

(Widerspruch des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Urkundlich erstmals erwähnt leben Sinti und Roma seit dem 15. Jahrhundert in Schleswig-Holstein. Über all die Jahrhunderte hinweg haben sie Diskriminierung, Intoleranz und Ausgrenzung erfahren. Ihre Verfolgung gipfelte in den vielen Morden durch die Nazis.

Die mündliche Anhörung zum Beispiel des Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, oder auch von Herrn Matthäus Weiß war emotional, und es war sehr beeindruckend, die persönlichen Schicksale in der Vergangenheit, aber auch die Schilderung des heutigen Alltags, die Schwierigkeiten, mit denen die Kinder auch heute noch zu kämpfen haben, zu hören.

Die Stellungnahmen der Fachverbände, des Flüchtlingsrats, der FUEV und der Juristen ignorieren Sie völlig.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und des Abgeordneten Dr. Kai Dolgner [SPD])

Zukünftig können wir uns Anhörungen ersparen, wenn wir das Gesagte nicht wirklich ernst nehmen und in unsere Entscheidungen nicht einfließen lassen wollen.

Vor allen Dingen ignorieren Sie auch die Grundsätze der Rahmenkonvention des Europarats zum Schutz der Minderheiten und der Europäischen Sprachencharta, zu deren Umsetzung sich auch die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet hat.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Christian von Boetticher [CDU])

Wenn Ihre Moral an dieser Stelle einmal wieder versagt, und das tut sie,

(Werner Kalinka [CDU]: Das ist ja wohl un- glaublich!)

dann ignorieren Sie bitte nicht auch die Möglichkeiten, die sich durch eine bessere Integration von Sinti und Roma in die Gesellschaft und auch in den Arbeitsmarkt ergeben würden.