Protokoll der Sitzung vom 16.09.2011

Meine Damen und Herren! Wir setzen die Tagung fort. Ich rufe Tagesordnungspunkt 40 auf:

Bericht zur landesweiten Umsetzung von Inklusion in der Schule

Bericht der Landesregierung Drucksache 17/1568

Ich erteile dem Minister für Bildung und Kultur, Herrn Dr. Ekkehard Klug, das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Februar dieses Jahres enthält unser Schulgesetz - in § 4 Abs. 11 so festgelegt - erstmals das Ziel einer inklusiven Beschulung. Schleswig-Holstein bekennt sich zu einer Politik, die Menschen mit Behinderung von Anfang an in alle Lebensbereiche einbezieht. Wir wollen unsere Verpflichtungen erfüllen, die sich aus der im Jahr 2008 in Kraft getretenen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ergeben.

Auf welche Weise wir diesem Anspruch in der schulischen Bildung gerecht werden, haben wir in dem Bericht zur landesweiten Umsetzung von Inklusion in der Schule festgehalten. Mitgewirkt haben auch das Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit sowie das Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Verkehr. Dafür nochmals vielen Dank!

Kinder mit Behinderung werden in allen Schularten unterrichtet. Über die Hälfte der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besucht eine Regelschule. Damit nehmen wir in Schleswig-Holstein innerhalb Deutschlands eine Vorreiterrolle ein.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Im Länderdurchschnitt beträgt die Quote 20,1 %, wie der erste deutsche Staatenbericht zur UN-Konvention ausweist. Der Staatenbericht an die Vereinten Nationen ist vom Bundeskabinett im August beschlossen worden. Ich empfehle auch ihn als ergänzende Lektüre zu diesem Thema. Er beschreibt die Aktivitäten in den einzelnen Ländern und die gemeinsame Abstimmung hierzu in der Kultusministerkonferenz.

Bei der Umsetzung inklusiver Bildung stützen wir uns in Schleswig-Holstein vor allem auf die Ausund Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer sowie auf die fachliche Unterstützung der Regelschulen durch die Förderzentren. Darauf aufbauend sind weitere Schritte nötig, um der UN-Konvention gerecht zu werden. Wir lassen uns dabei aber nicht von Zahlenvorgaben im Sinne eines Plansolls leiten, sondern konzentrieren uns auf solide, konkrete Verbesserungen für den Alltag von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung.

Ich fasse dies in fünf Punkten zusammen: Erstens. Wir wollen einzelne allgemeinbildende Schulen besonders darauf vorbereiten, dass sie auch Kinder

mit körperlichen und geistigen Behinderungen aufnehmen können. Diese Schulen sollen das innerhalb eines bestimmten Zuständigkeitsbereichs zu ihrem Schwerpunkt machen; es geht also um den Aufbau von Schwerpunktschulen.

Zweitens. Wir wollen auch die Landesförderzentren weiterentwickeln. Im Fokus steht, wie Sie alle wissen, derzeit das Landessprachheilzentrum in Wentorf für Kinder mit schweren sprachlichen Beeinträchtigungen. Es nimmt jetzt eine Entwicklung Gestalt an, wonach künftig hinzukommende Jahrgänge am Landesförderzentrum Sprache in Schleswig beschult werden. Es kommt also zu einem schrittweisen Umzug an den Standort Schleswig, wo sich bereits seit Langem die Landesförderzentren Hören und Sehen befinden. Damit in Verbindung steht ein neuer Ansatz, der verstärkte Arbeit im vertrauten, familiären Umfeld vorsieht. Diese Förderung wird vor Ort durch Eingliederungshilfe und teilstationäre Maßnahmen sichergestellt.

Drittens. Wir wollen die Schulen darin unterstützen, ihre Fortschritte bei der inklusiven Beschulung selbst zu überprüfen und zu steuern. Dazu geben wir ihnen einen Index an die Hand. Dieses Projekt ist auf zwei Jahre - 2011 bis 2013 - angelegt und wird wissenschaftlich begleitet. Das Konzept wurde bereits erfolgreich in Schulen der Stadt Flensburg und des Kreises Schleswig-Flensburg getestet.

Viertens. Wir werden mit dem Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung und den Organisationen der Betroffenen beraten, wie wir das öffentliche Bewusstsein für dieses Thema in Schleswig-Holstein weiter schärfen können.

Fünftens. Die Förderzentren sind keine aussterbende Schulart. Wir werden sie weiterhin benötigen, auch wenn ihre Schülerzahl abnimmt; das ist die Tendenz der letzten Jahre, und wir gehen davon aus, dass sie sich fortsetzt. Zum Teil gibt es bereits „Schulen ohne Schüler“, etwa das Landesförderzentrum für Schüler mit schweren Sehschädigungen. In den Förderzentren konzentrieren sich aber wertvolles Fachwissen und Erfahrung. Auf diese Weise erhalten die Regelschulen aus den Förderzentren kompetente Unterstützung. Es gibt derzeit 2.100 Planstellen für Sonderpädagogen im Bereich der Förderzentren. Im Umfang von etwa 900 Stellen wird die Arbeitskraft der dort tätigen Fachleute für die Bereiche Prävention und Inklusion eingesetzt.

Ich füge hinzu: Vor dem Hintergrund insgesamt deutlich sinkender Schülerzahlen bedeutet ein gleichbleibender Bestand an Sonderpädagogen und

Sonderpädagoginnen in den Förderzentren, dass wir die Ausstattung und die Förderung in qualitativer Hinsicht von Jahr zu Jahr verbessern können. Darauf setze ich auch.

Ich komme zum Schluss. Inklusive Bildung ist eine Aufgabe, die auf die Bereitschaft aller Beteiligten setzt sowie große Sachkenntnis und viel Fingerspitzengefühl erfordert. Schleswig-Holstein hat diesen Kurs frühzeitig eingeschlagen und wird sich dieser Herausforderung auch weiterhin stellen - mit Augenmaß und im Zuge einer Entwicklung, die wir in den kommenden Jahren schrittweise voranbringen werden.

(Beifall bei FDP und CDU)

Herr Minister, vielen Dank für diesen Bericht. - Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält Frau Kollegin Anke Erdmann von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr als zwei Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention liegt nun dieser Bericht zu unserem Antrag vor. Der Bericht ist wie eine Silvesterrakete: Zuerst sieht er super aus, aber wer länger hinschaut, findet sich im Nebel wieder - leider.

Ich möchte diesen Bericht mit einem Beispiel und vier Thesen kommentieren. Ich beginne mit dem Beispiel: Paula hat speziellen Förderbedarf. Sie ist im Kindergarten durch eine Heilpädagogin intensiv unterstützt worden und hat auch Fortschritte gemacht. Dann wechselte sie in die erste Klassenstufe der flexiblen Eingangsphase. An der Schule gibt es aber nur noch zwei Präventionsstunden für alle Kinder der Klasse, unabhängig davon, welchen Förderbedarf sie tatsächlich haben. Zudem wird der Förderbedarf in den großen Blöcken L, S und E nicht mehr festgestellt. Wenn Paula in die dritte Klassenstufe kommt, setzt wieder eine spezielle Förderung ein. Das ist vielen Eltern, aber auch vielen Lehrkräften überhaupt nicht zu vermitteln.

Meine erste These lautet: Schleswig-Holstein hat eine gute Tradition der inklusiven Bildung. Der Herr Minister hat es angesprochen: Wir haben im Bundesvergleich mit Abstand die höchste Inklusionsquote. Das ist gut, aber die Quote ist eben noch nicht gut genug. Wir wissen, dass das Landesförderzentrum seit über 30 Jahren Vorreiter in Sachen „Schule ohne Schüler“ ist. Ebenfalls gut. Aber an

dem Fall von Paula sieht man: In der Eingangsphase ist zwar ein guter Gedanke verwirklicht worden, indem man sagt: Eigentlich gehören die Förderkräfte in die Regelschule, in die ganz normale Klasse; das ist gut gedacht. Aber in der Praxis hilft es eben nicht viel, weil man dem einzelnen Kind nicht gerecht werden kann.

Es gibt also keinen Grund, sich auf den bisher guten Erfolgen auszuruhen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Dr. Ralf Stegner [SPD])

Zweitens. Eine gute Inklusionsquote bedeutet nicht unbedingt auch gute Inklusion Die Inklusionsquote ist ein wichtiger Index, sie blendet aber ganz wesentliche Fragen aus. Es ist nicht so, wie Sie, Herr Minister, es beschrieben haben. Wir müssen fragen, inwieweit wir den Kindern gerecht werden. Welche Abschlüsse erreichen Jugendliche mit Förderbedarf? Wie entwickeln sich ihre Kompetenzen? Wie viel Geld geben wir eigentlich für das einzelne Kind aus? Wie ist der Bundesdurchschnitt? Dass dies überhaupt nicht erhoben wird, ist nicht nur ein schleswig-holsteinische Problem, das bleibt vielmehr insgesamt im Dunkeln.

Das heißt, bezogen auf den Fall von Paula: Wir wissen zwar, dass sie in einer Regelschule ist, ob sie aber gut gefördert wird, kann man nicht erkennen. Die Idee eines Indexes für Inklusion ist gut, dieser Index gibt uns aber überhaupt keine Steuerungselemente auf der politischen Ebene an die Hand.

(Beifall der Abgeordneten Susanne Herold [CDU])

Im Bundesvergleich hat Schleswig-Holstein eine hohe Inklusionsquote, aber ob die Qualität inklusiver Schule gut ist, bleibt also offen.

Meine dritte These lautet: Wir müssen auch die Ressourcenfrage bedenken. In Ihrem Bericht, Herr Minister, geht es keine Seite lang um die Frage, wie man damit klarkommt. In der Praxis ist genau diese Frage nach den Mitteln und den Personalressourcen eine entscheidende Frage. Sie sagen, inklusive Beschulung sei im Rahmen der vorhandenen Ressourcen zu verwirklichen, aber Sie führen nicht aus, was das konkret bedeutet. An welcher Stelle muss ich eigentlich in die Systeme hineingehen? Wo gibt es zusätzlichen Bedarf?

Ich gehe nun noch einmal auf das Beispiel von Paula ein. Man stelle sich eine Klasse mit Erstklässlern und Erstklässlerinnen vor. Wir haben von Herrn

(Minister Dr. Ekkehard Klug)

Garg im Sommer vernehmen können, dass man bei den Schuleingangsuntersuchungen über 50 % der Kinder Auffälligkeiten festgestellt hat. Das muss sich auch in der Frage niederschlagen, wie intensiv eigentlich die Betreuung in der Eingangsphase sein muss. Das heißt also, wenn ich von zwei Stunden Prävention für eine Klasse spreche, ganz gleich wie viel Kinder mit Förderbedarf darin sind, so ist das möglicherweise nicht pädagogisch, sondern ökonomisch bedingt.

Meine vierte These: Potenziale und Herausforderungen auf dem Weg zur inklusiven Schule in Schleswig-Holstein müssen klar benannt werden. Das versäumt leider der Bericht. Die Problemfelder - ich kann sie auch Herausforderungen nennen werden nicht klar benannt. Es wird dargestellt, welche guten Maßnahmen bisher getroffen worden sind, aber der Bericht dient überhaupt nicht als Fahrplan auf dem Weg zur inklusiven Schule.

Wir brauchen, wenn wir weiterkommen wollen, nachvollziehbare Zahlen, eine Transparenz der Strukturen und Klarheit bei den Stolpersteinen und Potenzialen. Auf dieser Grundlage könnten wir im Ausschuss wirklich vernünftig beraten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Dr. Ralf Stegner [SPD])

Ein Fahrplan für inklusive Schule ist dieser Bericht, wie gesagt, leider nicht. Ich hoffe und bin auch sicher, dass uns die Ausschussberatungen auf dem Weg, alle zu inkludieren, weiterbringen können. Es ist noch ein weiter Weg, bis wir die UN-Behindertenrechtskonvention in unseren Schulen umgesetzt haben; denn sie gilt eigentlich erst, wenn Eltern sagen: Selbstverständlich geht mein Kind in dieselbe Schule wie die Nachbarskinder; ganz gleich, wo ich lebe, weil ich sicher bin, dass es dort optimal gefördert wird. - Packen wir es an!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Siegrid Tenor-Al- schausky [SPD] und Dr. Ralf Stegner [SPD])

Für die CDU-Fraktion hat die Frau Kollegin Heike Franzen das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei der Landesregierung und insbesondere bei den Mitarbeitern

bedanken, die damit befasst waren, den Bericht zu erstellen.

(Beifall bei CDU und FDP)

- Ich finde auch, das hat einen Applaus verdient.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht liest sich zunächst wie eine Erfolgsbilanz. Erfreulich sind die vielen Maßnahmen, die ergriffen worden sind, um Inklusion in der Schule und auch in unseren Kindergärten umzusetzen. Besonders wichtig ist mir dabei die Einbeziehung der Inklusion in die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher und der Lehrkräfte. Hier zeigt der Bericht auf, dass es bereits viele Maßnahmen gibt, die Inklusion in der Aus- und Weiterbildung zu verankern. Nur mit gut ausgebildeten Fachkräften kann es uns gelingen, guten inklusiven Unterricht an unseren Schulen zu realisieren. Dass inzwischen über die Hälfte der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den Regelschulen beschult werden, muss für uns Herausforderung sein, die Qualität des Unterrichts sicherzustellen.

(Beifall bei der CDU)

Daher begrüßt es meine Fraktion auch, dass das Bildungsministerium einen Schulversuch starten will, um in einzelnen Kreisen Schwerpunktschulen einzurichten, die sich darauf konzentrieren, auch geistig- und körperbehinderte Kinder in den Regelschulen zu beschulen. Dazu bedarf es allerdings auch der engen Zusammenarbeit von Schule, Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Eltern. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist, um die Einbahnstraße zu verlassen, die nach dem Besuch einer Förderschule G, also einer Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige oder körperliche Entwicklung, automatisch in die Unterbringung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung mündet.

(Beifall der Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Für uns ist selbstverständlich: Inklusion heißt auch Teilhabe am Arbeitsmarkt.

Besonders erfolgreich ist das Handlungskonzept „Schule und Arbeitswelt“. In den sogenannten Flexklassen werden Schülerinnen und Schüler aus Haupt- und Förderschulklassen gemeinsam auf den Hauptschulabschluss vorbereitet und in die Berufsorientierung gebracht. Damit ist es gelungen, die Quote der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss von rund 10 % im Jahr 2005 auf 6,9 % im letzten Jahr zu senken. Ich finde, das ist eine erfolgreiche Bilanz.