Protokoll der Sitzung vom 17.11.2011

Ein wesentlicher Vorteil des aktuellen Demenzreports, der Grundlage für den vorliegenden Antrag zum Demenzplan ist, sind die regional differenzierten Daten. Sie zeigen klar und deutlich, dass wir hier in Schleswig-Holstein schon bis zum Jahr 2025 mit einem Anstieg der Demenzkrankheiten von 50 bis 70 % rechnen müssen. Wenn es also darum geht, die zukünftige Versorgung dieser Menschen sicherzustellen, dann ist es aus Sicht des SSW dringend notwendig, schon heute mehr zu tun: Neben einer umfassenden Bestandsaufnahme und Analyse der Situation von Demenzkranken und ihren Angehörigen müssen zum Beispiel auch die verschiedenen Krankheitsformen intensiver erforscht werden.

Doch auch dabei kann es nicht bleiben, wenn wir die Lebensqualität von immer mehr Betroffenen und ihren Angehörigen wirklich verbessern wollen. Hierfür brauchen wir ein koordiniertes Vorgehen aller Akteure, die in diesem Bereich tätig sind. Die Landesregierung muss zusammen mit den Krankenkassen, der Kassenärztlichen Vereinigung und anderen beteiligten Organisationen konkrete Maßnahmen und verbindliche Ziele formulieren. So können schon bald Qualitätsstandards in der ambulanten und stationären Versorgung und Pflege von Demenzkranken eingeführt werden. Und auch die notwendige einheitliche Hilfestruktur und eine kreisübergreifende Vernetzung der regionalen Angebote können wir so schnell und effektiv auf den Weg bringen. Wichtig ist, dass in dieser Sache alle an einem Strang ziehen.

Entscheidend für die zukünftige Versorgungsqualität wird aus Sicht des SSW sein, ob es uns gelingt,

zu einer besseren Vorbeugung und zu verbesserten Vorsorgeangeboten für potenzielle Demenzkranke zu kommen. Investitionen in diesem präventiven Bereich sind zentral, denn damit sorgen wir dafür, dass die Zahl der Erkrankten und ihr Leiden verringert werden.

Sie sind auch rein ökonomisch sinnvoll. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen können Vorsorgemaßnahmen den Ausbruch von Demenz um zehn bis 15 Jahre verzögern. Das bedeutet, dass wir den Lebensstil der heute noch Berufstätigen stärker in den Blick nehmen müssen. Hier ist eine verstärkte Aufklärungsarbeit gefragt, und es sind Anreize nötig, damit diese Gruppe präventive Maßnahmen wie etwa ein regelmäßiges Gedächtnistraining - ergreift.

Uns allen ist bekannt, dass die Qualität der Versorgung und Pflege von Demenzkranken schon heute leidet. Nicht nur die Angehörigen, sondern auch die professionell Pflegenden sind nicht selten überfordert und greifen in manchen Fällen zu schockierenden Mitteln, um diese Situation zu meistern. Das darf nicht zum Regelfall werden. Pflege muss menschenwürdig bleiben. Damit wir diesem Anspruch auch in Zukunft gerecht werden können, brauchen wir ein koordiniertes Vorgehen und ein Gesamtkonzept, in dem die Maßnahmen und Ziele festgehalten werden. Deshalb haben wir diesen Antrag vorgelegt.

(Beifall beim SSW sowie vereinzelt bei SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Meine Damen und Herren, bevor wir in der Debatte fortfahren, habe ich zwei Ansagen nachzuholen. Das Wichtigste zuerst: Wir begrüßen auf der Tribüne Seniorinnen und Senioren der Seniorenakademie aus Lübeck. - Seien Sie uns herzlich willkommen im Kieler Landeshaus!

(Beifall)

Ich wurde darauf hingewiesen, dass der Antrag Drucksache 17/1888 (neu) - 2. Fassung -, Demenzplan für Schleswig-Holstein erstellen, nicht nur vom SSW und von den Sozialdemokraten gestellt wurde, sondern dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Antragsteller sind. Das war hier nicht vermerkt; deshalb habe ich das gerade eben nicht gesagt. Ich trage es hiermit nach.

(Flemming Meyer)

Ich erteile jetzt Frau Kollegin Dr. Marret Bohn von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.

(Zurufe)

- Entschuldigung, ich habe einen Sprechzettel, auf dem das nicht vermerkt ist und den ich im Vorfeld als stimmig angenommen habe. Der Antrag „Demenzplan für Schleswig-Holstein erstellen“ wurde gestellt von SSW, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN. - Es tut mir leid, wenn ich eine Fraktion vergessen habe; ich habe da eine falsche Information gehabt. - Frau Dr. Bohn!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2011 sollte das Jahr der Pflege werden. Das war das Versprechen der FDP. Hierzu titelt das „Deutsche Ärzteblatt“ in der aktuellen Ausgabe: „Jahr der Mutlosen.“ Mutlos, weil die dringend erforderlichen Weichenstellungen ausbleiben.

Ich persönlich begrüße ausdrücklich die Verbesserungen für Demenzkranke. Sie bleiben jedoch ein Trostpflaster bei den anstehenden Reformen, die hätten erfolgen müssen.

Ich hoffe, dass wir in Schleswig-Holstein mehr Mut haben, Mut zu Schritten, die dazu führen, dass die Pflege und ihre Interessen einen besseren Stellenwert bekommen.

Wir Grüne fordern in unserem Antrag eine Pflegekammer. Im Moment wird häufig über die Pflege und über die Pflegenden gesprochen. Wir wollen, dass die Pflegekräfte eine eigene Stimme bekommen,

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

eine Stimme, mit der sie sich selbstbewusst zu Wort melden und ihre Interessen selbst vertreten. Fragen zur Aus- und Fortbildung, zu Qualitätsstandards, zu ethischen Aspekten, zur Berufsordnung - wer könnte die besser beantworten als die Pflegekräfte selbst? Deswegen sagen wir Grüne Ja zur Pflegekammer.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen haben - ich sehe gerade meinen Kollegen Thorsten Fürter; er war mit unserer Landesvorsitzenden Eka von Kalben und anderen von uns dabei - in diesem Sommer Demokratiekonferenzen durchgeführt.

(Gerrit Koch [FDP]: Das haben Sie wohl nö- tig!)

Jetzt frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, dass Pflegefachkräfte an demokratischen Entscheidungen beteiligt werden sollten, dass sie bei gesundheitsund sozialpolitischen Entscheidungen ihr Fachwissen und ihren Standpunkt eigenständig vertreten sollten? Herr Koch, sind Sie dieser Meinung? Wenn ja, können Sie unserer zweiten Forderung mit einem guten Gewissen zustimmen.

Im Landespflegeausschuss wird über Pflegefragen diskutiert. Da muss der Landespflegerat beteiligt werden. Das fordern wir Grüne.

(Beifall der Abgeordneten Birte Pauls [SPD])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben derzeit 80.000 Pflegebedürftige in Schleswig-Holstein. 2015 werden es 90.000 sein, 2020 voraussichtlich 100.000. Auch einige der Anwesenden werden dazugehören. Gleichzeitig sinkt die Zahl möglicher Pflegepersonen. Das bedeutet klipp und klar: Wir müssen heute die Pflegeinfrastruktur aufbauen, die wir morgen brauchen. Sonst wird die heutige jüngere Generation morgen vor Problemen stehen, die sie nicht lösen kann.

Es ist gut, dass das Medizinstudium für junge Menschen kostenlos und ohne Studiengebühr möglich ist. In Zeiten des Ärztemangels werden Ärztinnen und Ärzte dringend gebraucht, aber auch Pflegekräfte werden dringend gebraucht. Die Altenpflege ist ein Mangelberuf. Ein Teil der Auszubildenden muss jedoch jeden Monat 300 € zahlen, um eine Ausbildung in einem Mangelberuf zu machen. Das macht keinen Sinn. Auch das wollen wir Grüne ändern.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Was in der Krankenpflege gut funktioniert, funktioniert bestimmt auch in der Altenpflege. Daher wollen wir eine Ausbildungsumlage für die Altenpflegeausbildung. Es kann nicht sein, dass ein Bundesland wie Schleswig-Holstein morgen nicht genug Pflegekräfte hat, nur weil es arm ist.

Wir Grünen wollen daher die Ausbildungszahlen an den Bedarf anpassen. Wir müssen sozusagen die Auswirkungen des demografischen Wandels vorausplanen. Das ist wie bei den Deichen. Da kennen wir Nordfriesen uns aus: Wer nicht rechtzeitig Deiche baut, wird bei der nächsten Sturmflut eine böse Überraschung erleben. Das müssen wir verhindern.

(Vizepräsidentin Marlies Fritzen)

(Vereinzelter Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SSW)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer mehr Menschen werden immer älter, immer mehr Menschen werden auch dement. Was früher als tüdelig bezeichnet wurde, kann heute in vielen Fällen als Erkrankung der Alzheimergruppe diagnostiziert werden. Sie ist nicht heilbar, aber der Verlauf - das hat der Kollege Flemming Meyer eben richtig ausgeführt - lässt sich abmildern und hinauszögern. Wer unter Demenz leidet, ist nicht zwangsläufig pflegebedürftig im klassischen Sinne, aber bei der Teilhabe am sozialen Leben brauchen Demenzkranke und ihre Angehörigen eine bessere Unterstützung.

Wir Grünen begrüßen daher den Antrag des SSW für einen Landesdemenzplan ausdrücklich. Wir sind durchaus optimistisch, dass er in dieser Landesregierung auf Zustimmung treffen wird. Es war schließlich der jetzige Sozialminister Garg, der in der vorangegangenen Legislaturperiode als sozialpolitischer Sprecher der FDP einen solchen Plan gefordert hat. Dann kann es jetzt ja losgehen mit dem Aktionsplan Demenz!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Etwas erstaunt war meine Fraktion über den Änderungsantrag der SPD zur Pflege. In weiten Teilen entspricht er unserem Ursprungsantrag. Eine Begründung liegt nicht vor. Daher beantrage ich für meine Fraktion, alle Anträge in den Sozialausschuss zu überweisen. Ich würde mich freuen, wenn Sie dem zustimmten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Für die Fraktion der CDU erteile ich nunmehr Frau Kollegin Ursula Sassen das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben bereits am 13. September 2007 und am 26. September 2008 im Landtag die Problematik der zunehmenden Zahl der an Demenz Erkrankten diskutiert und einmütig festgestellt, dass etwas geschehen muss, um den an Alzheimer Erkrankten und Demenzkranken in einer außergewöhnlichen und schwierigen Lebensphase zu helfen, indem wir ihren Bedürfnissen Rechnung tragen und sie in ihrer eingeschränkten Wahrnehmung des Umfeldes

akzeptieren und respektieren. Der Druck auf alle Beteiligten, insbesondere auf die Politik, wächst angesichts der demografischen Entwicklung und deren Folgen, sodass der erneute Ruf nach Aktionsplänen und Handlungskonzepten verständlich ist.

Nach dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ nehmen Angehörige in der ambulanten Betreuung von Demenzkranken eine Schlüsselposition ein. Die Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e.V. hat 2008 eine Studie zur Demenzversorgung im ambulanten Sektor erstellt. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie beinhalten, dass die Hauptursache, dass Demenzkranke ins Heim umziehen müssen, in der Überforderung der Angehörigen liegt, dass eine Vielzahl von Demenzkranken, die zu Hause versorgt werden, nicht ärztlich diagnostiziert und daher medikamentös nicht optimal versorgt sind.

Für diese Studie wurden alle bekannten Pflegedienste in Deutschland herangezogen. Von den 903 ambulanten Pflegediensten, die aktiv an der Befragung teilnahmen, wurden insgesamt 64.970 Patienten betreut, von denen wiederum 12.975 eine vom Arzt diagnostizierte Demenz hatten. Nach Einschätzung der Pflegedienste wurde vermutet, dass circa 7.000 weitere betreute Patienten an einer nicht ärztlich diagnostizierten Demenz litten. Über 50 % der Pflegedienste gaben an, dass mehr Wissen über Demenz ihre Arbeit erleichtern würde. Nur jeder zehnte Pflegedienst fühlte sich zu dem Themenkreis Demenz sehr gut informiert.

Die Kernaussage dieser Studie beinhaltet die Forderung, Behandlung und Pflege von Demenzkranken aus einem Topf zu finanzieren. Solange Demenzen nur als Pflegeproblem betrachtet werden, sind die Chancen, die frühzeitige ärztliche Diagnostik und Behandlung bieten, nicht im Fokus des Systems.

Dies wirft auch die Frage nach der Begriffsbestimmung von Pflegebedürftigkeit auf. Die Definition macht sich bis heute vornehmlich an der Feststellung von körperlichen Defiziten fest. Der Hilfebedarf wird vorwiegend in Minuten gemessen. Die Einschränkungen Demenzkranker in der Alltagskompetenz und der Teilhabe am sozialen Leben werden kaum berücksichtigt. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff als entscheidende Stellschraube bei der Einstufung eines Patienten in eine Pflegestufe ist nicht mehr zeitgerecht und geht zulasten demenziell Erkrankter. Das soll sich nun ändern.

Demenz ist zwar nicht heilbar; aber durch gesunde Lebensweise, Bewegung, geistige Regsamkeit und die frühe Gabe von Medikamenten kann ihr Fort

(Dr. Marret Bohn)

schreiten eine Zeit lang aufgehalten werden, damit Demenz nicht auch noch als Last und Leiden auf die Angehörigen übertragen wird.

Schleswig-Holstein hat gemeinsam mit den Pflegekassen und der Alzheimer-Gesellschaft das Kompetenzzentrum Demenz auf den Weg gebracht. Auch die Pflegestützpunkte leisten einen wichtigen Beitrag.

Der Wunschzettel der Opposition für einen Demenzplan ist lang. Ob alle Forderungen zielführend sind, bezweifle ich. Für uns haben Vorrang: Aufklärung und Information, stärkere Einbeziehung der Hausärzte, Entlastung der pflegenden Angehörigen, Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, Sensibilisierung der Öffentlichkeit, Präventionsarbeit zur Vermeidung von Demenz.

Im Rahmen der gemeinsamen Beratung sind zu dieser Thematik zwei Tagesordnungspunkte aufgerufen worden. Die in dem einen Antrag geforderten verbesserten Rahmenbedingungen in der Pflege kommen in der heutigen Debatte etwas zu kurz. Aber CDU und FDP haben zeitgleich einen Berichtsantrag zu den pflegepolitischen Perspektiven des Landes Schleswig-Holstein gestellt. Wir gehen davon aus, dass die Landesregierung die in den Anträgen der Oppositionsparteien enthaltenen wesentlichen Punkte in ihren Bericht in der 24. Tagung aufnehmen wird.