Protokoll der Sitzung vom 15.12.2011

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung am heutigen Donnerstag und möchte Ihnen zunächst mitteilen, dass sich erkrankt gemeldet haben die Abgeordneten Jens-Christian Magnussen, Hartmut Hamerich, Ranka Prante und Silke Hinrichsen. Allen Kolleginnen und Kollegen wünschen wir von dieser Stelle aus gute Besserung.

(Beifall)

Beurlaubt ist die Abgeordnete Luise Amtsberg, und seitens der Landesregierung sind beurlaubt Ministerpräsident Peter Harry Carstensen, ab 11:30 Uhr Minister Schmalfuß und ab 15 Uhr Minister Dr. Heiner Garg.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:

Für ein starkes Europa gleichberechtigter Partner

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/2087

Änderungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/2114

Wird das Wort zur Begründung gewünscht. - Ich sehe, das ist nicht der Fall.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort für die SPD-Fraktion dem Fraktionsvorsitzenden Dr. Ralf Stegner.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in einer schweren Krise. Ich glaube, es steht uns gut an, nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Ländern, auch in diesem Parlament, darüber zu diskutieren, um zu zeigen: „Das ist uns nicht egal“, zum einen, weil das Projekt Europa als unsere gemeinsame Wertegemeinschaft für Frieden und Wohlstand existenziell ist, und zum anderen, weil wir hier natürlich von Rückschritten und möglichen negativen Entwicklungen stark betroffen sein würden. Deutschland hat als größtes Land eine besondere Verantwortung in Europa, braucht und schuldet seine feste Einbindung in Europa aus historischen Gründen, aber auch als demokratische Errungenschaft. Denn die EU ist auch gegründet worden, um die anarchistische Macht des Stärkeren zu brechen. Frau Merkel und Herr Sarkozy führen

leider momentan das Gegenteil vor und spielen ihre Macht aus. Der Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, Herr Kauder, schwadroniert davon, jetzt werde in Europa Deutsch gesprochen. Dümmlicher geht es kaum, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Wiederherstellung europäischer Solidarität ist und bleibt eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Architektur des zukünftigen Europas. Auch im globalen Wettbewerb mit den USA, China, Indien oder Brasilien bestehen wir nur mit Solidarität und europäischer Gesamtverantwortung vor nationalstaatlichem Egoismus.

Wir Sozialdemokraten appellieren an alle Kräfte, wieder zu der solidarischen Rolle zurückzufinden, die Deutschland seit der Gründung der EU eingenommen hat, statt Ansehen und Sympathie zu verspielen und alte Ängste zu schüren. Das Bedienen von Vorurteilen gegenüber anderen europäischen Völkern, um an den Stammtischen zu punkten, gehört leider zum konservativ-liberalen Standardrepertoire.

(Beifall bei der SPD)

Auch die selbstgerechte Überheblichkeit dieser schwarz-gelben Koalition hier in Schleswig-Holstein mit ihrer ständigen „Wir sind doch nicht Griechenland“-Rhetorik gehört in diesen Kontext.

Die europäische Demokratie wird im Augenblick dadurch demontiert, dass alle politischen Gipfel, Aktionen und Maßnahmen immer wieder primär damit begründet werden, dem Druck der Märkte zu entsprechen. Die Kanzlerin bezieht sich mit ihren Vorschlägen ausdrücklich auf das Ziel einer marktkonformen Demokratie. Das ist grundfalsch. Wir brauchen keine marktkonforme Demokratie, sondern demokratiekonforme Märkte, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht hier um keine Kleinigkeit, sondern um das Primat demokratisch legitimierter Politik. Die jahrelange marktradikale Verirrung hat reichlich Schaden angerichtet. Sie ist der Auslöser dieser Finanz- und Wirtschaftskrise, die Sie immer auf eine Staatsschuldenkrise reduzieren wollen. Wie ein Regierungspapagei sondert Ihr Sprachcomputer monoton und als Politikersatz immer wieder sein Mantra „Schuldenbremse, Schuldenbremse, Schuldenbremse“ ab. Mehr fällt Ihnen nicht ein. Privati

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sieren, deregulieren, liberalisieren, kürzen und Steuern senken, das ist und bleibt Verelendungspolitik mit krisenanfälligen Märkten.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, man muss nun wirklich keine Sympathie für die Operettenregierung des ehemaligen italienischen Regierungschefs Berlusconi haben, um festzustellen, dass es nicht so sein darf, dass Rating-Agenturen und Finanzspekulanten den Daumen über Staaten heben und senken, dass Spekulanten gegen Demokratien wetten dürfen und die Finanzmärkte Regierungen aus dem Amt vertreiben, dass Technokraten die Regierung am Volk und an den Wahlen vorbei übernehmen. Auch die neuesten Gipfelbeschlüsse scheinen mehr darauf gerichtet zu sein, dass es egal ist, was die Bürgerinnen und Bürger wollen, die Politik bestimmen andere.

Wir brauchen die Unabhängigkeit der Politik von den Finanzmärkten, wir brauchen auch eine entsprechende Rolle der EZB als „lender of last resort“. Wenn sie notfalls Geld zu vernünftigen Zinsen verleiht, nicht nur an Banken, wie im Moment, sondern auch an Staaten, wenn es die Banken nicht tun, erst dann haben wir eine Chance auf eine solche Unabhängigkeit von den Märkten, wobei ich glaube, dass schon die theoretische Ankündigung helfen könnte. Allein das Versprechen, dass die Notenbank in die Bresche springt, um einen Zusammenbruch der Währung zu verhindern, sorgt dafür, dass sich die USA und Großbritannien weiter problemlos Geld leihen können, obwohl sie weitaus schlechtere Haushaltsdaten aufweisen als die Eurozone insgesamt.

Nebenbei zeigt sich die ganze Crux undemokratischen Verhaltens. In Wirklichkeit wendet sich die Kanzlerin doch nur aus innenpolitischen Gründen und Rücksicht auf ihre marode Koalition öffentlich gegen Euro-Bonds und eine aktive Rolle der EZB und stellt jeden Abend heimlich eine Kerze ins Fenster, damit die EZB ja das weiter tut, was sie öffentlich kritisiert. Das ist doch der Sachverhalt, über den wir sprechen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die nationalen Scheuklappen und die Ignoranz anderer ökonomischer Sichtweisen auch auf der rechten Seite dieses Hauses führen zu einem Phänomen, das John Maynard Keynes einmal so beschrieben hat: Statt darüber nachzudenken, ob ein eklatanter Misserfolg vielleicht daran liegen könnte, dass die

Medizin falsch ist, wird noch mehr von der Medizin verschrieben. - Genau das passiert ständig. Dann ist der Patient bald tot.

(Beifall bei der SPD)

Ausgerechnet die, die uns die Finanzkrise eingebrockt haben, dienen sich jetzt schon wieder dreist als Experten für Krisenlösungen an. Wir erleben doch bei jedem Gipfel, einem nach dem anderen, dass die immer stärkere Festlegung auf immer stärkere Kürzungspakete, ohne irgendein Problem zu lösen, verabredet wird. Die Märkte honorieren dies nicht. Das ifo-Institut prognostiziert inzwischen eine Rezession in Europa, die sämtliche Konsolidierungsbemühungen ad absurdum führt. Die aktuellen Beschlüsse sind eben keine Fiskal- oder Stabilitätsunion, wie Frau Merkel sagt, sondern nur eine Sanktionsunion und ein Scheinriese, wie es FrankWalter Steinmeier gestern zu Recht im Bundestag gesagt hat.

(Günther Hildebrand [FDP]: Ihr müsst auch klatschen!)

- Bei Ihnen würde es schon reichen, wenn Sie es begreifen würden, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD)

Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn Sie einmal etwas begreifen würden. Ratschläge von der FDP sind zurzeit wirklich eine witzige Vorstellung, das muss ich Ihnen ehrlich sagen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD - Christo- pher Vogt [FDP]: Starkes Argument!)

Lösen Sie einmal Ihre eigene Krise, bevor Sie uns Ratschläge geben, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD)

Mit Lautstärke verstärkt man nur die Lautstärke der Argumente, aber nicht deren Kraft.

(Beifall bei der FDP und des Abgeordneten Dr. Christian von Boetticher [CDU] - Zuruf von der CDU: Warum schreien Sie dann?)

- Im Gegensatz zu Ihnen hat der Redner ein Mikrofon. Ich wollte nur etwas zur Qualität Ihrer Zwischenrufe sagen.

Solange wir die eindimensionale Sichtweise haben, dass wir in Europa hauptsächlich ein Verschuldungsproblem hätten, das durch heftiges Kürzen zu lösen sei, nicht aufgeben, wird die Krise weiter andauern. Das, was Sie Stabilität nennen, hat eine Halbwertszeit von wenigen Tage. Frau Merkel nennt das alternativlos, was wir vorher gefordert

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(Dr. Ralf Stegner)

haben und was sie als völlig unmöglich abgelehnt hat. So ist es jedes Mal; Wochen später tut sie genau das Gleiche, und dann ist es alternativlos. Wir müssen erkennen, dass Handelsungleichgewichte, ungleiche Preis- und Lohnentwicklungen und ungleiche Wirtschaftsentwicklungen ein Problem sind. Wir brauchen etwas, was über das hinausgeht, was nur Konsolidierung heißt, sonst werden wir zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit, die in Spanien schon über 20 % beträgt, auch bei uns kriegen. Wir sind für Investitionen. Wir brauchen handlungsfähige Staaten und keine Nachtwächter.

Wenn Sie das nicht glauben, dann hätten Sie zum Beispiel Altkanzler Helmut Schmidt zuhören können, der dies auf unserem Bundesparteitag gesagt hat. Er hat dargelegt, was man tun könnte, um die Finanzmärkte dauerhaft besser zu regulieren, als wir es tun. Man muss Helmut Schmidt gewiss nicht in allen Punkten zustimmen, aber die Zeitungen haben zu Recht geschrieben, dass man eine solche Rede von der amtierenden Bundeskanzlerin und von der Regierung erwarten könnte und nicht von denen, die in der Opposition sind.

(Beifall bei der SPD)

Europa muss nicht deutscher werden, wie es von Ihrer Seite behauptet wird, sondern wir alle müssen europäischer werden.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu brauchen wir eine gemeinsame Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik, gemeinsame Ziele bei der kulturellen und sozialen Entwicklung und eine wirklich politische Union. Friedrich Küppersbusch hat dies letzte Woche in der „taz“ wunderbar zusammengefasst. Er hat gesagt: Wir brauchen vier Punkte. Erstens. Alle stehen füreinander ein. Zweitens. Demokratische Kontrolle. Drittens. Zwang zur Haushaltsdisziplin. Viertens: CSU und FDP sollten aus der Koalition austreten. Okay, das Letztere ist ein bisschen optimistisch. Ich sage Ihnen aber trotzdem: Schon das, was wir in unserem Antrag sagen, wäre ein Anfang. Nach Jahren des marktfundamentalistisch geprägten Europa und der Mehrzahl seiner Regierungen brauchen wir endlich ein umfassendes wirtschafts- und sozialpolitisches Konzept. Wir brauchen eine Sozialunion mit sozialen Mindeststandards. Wir brauchen ein Wachstums- und Beschäftigungsprogramm,

(Beifall bei der SPD)

denn ohne nachhaltiges Wachstum in allen Ländern wird die Schuldenkrise nicht überwunden. Wir