Protokoll der Sitzung vom 15.12.2011

Antrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/2086

Änderungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/2118

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hat Herr Abgeordneter Andreas Beran das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Problem der Suchtrisiken verdient auch in Schleswig-Holstein höchste Aufmerksamkeit. Das Einstiegsdurchschnittsalter für den Alkoholkonsum ist laut aktuellem Jahresbuch der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen weiter gesunken und liegt jetzt bei durchschnittlich 13,2 Jahren. Die Zahl alkoholbedingter Krankenhausbehandlungen von Jugendlichen ist in den letzten zehn Jahren um fast 115 % gestiegen. Komasaufen ist weiterhin angesagt und fordert unsere höchste Aufmerksamkeit, um dem entgegenzutreten. Dies gilt auch für Drogenabhängigkeit, der man bisher vergeblich durch

Reglementierung mithilfe von Sanktionen erfolgreich und nachhaltig begegnen konnte.

Ich gehe davon aus, dass alle Fraktionen in diesem Hohen Haus für einen qualifizierten Mix aus wirksamer struktureller und guter individueller Prävention und Hilfe eintreten, wenn es um die Eindämmung lebenszerstörender Suchterkrankungen geht. Individuelle Prävention - das zeigen die erfolgreichen gut evaluierten Programme der Landesstelle für Suchtfragen und ihrer Mitgliedsverbände schon seit vielen Jahren - können viel bewirken und haben dazu beigetragen, dass das Suchtverhalten insgesamt zwar immer noch auf beachtlichem Niveau verharrt, aber wenigstens nicht mehr steigt.

Auch bei der strukturellen Prävention gab es mit den Nichtraucherschutzgesetzen und den Abgaben auf Alkopops auch für den Jugendschutz beachtliche Erfolge. Leider weichen wir im Bereich „Spielsucht“ gerade von diesen erfolgreichen Konzepten wieder ab, indem wir neue Zugänge ebnen.

Bisher sind die Hilfen auf Landesebene fast überall differenziert und sachgerecht entwickelt worden. Sie reichen von Tag und Nacht erreichbaren Nottelefonen über vielfältige örtliche Beratungsangebote und Anlaufstellen bis hin zu akuten und nachhaltigen Behandlungsmöglichkeiten, angefangen mit ambulanter medizinischer Substitution bis hin zu umfassender psychotherapeutischer Rehabilitation. Dieses Niveau müssen wir nicht nur halten, sondern ausbauen.

Bei den sogenannten Herbstgesprächen der Landesstelle für Suchtfragen haben die Suchthilfeverbände auf eindrucksvolle Weise deutlich gemacht, wie weit die Vorstellung von qualifizierter Suchtarbeit in den Kreisen und kreisfreien Städten des Landes auseinanderdriften.

Meine Damen und Herren, gleichzeitig beschreiten wir jetzt den Weg der Kommunalisierung. Immer mehr Verantwortung übertragen wir an die Kreise und kreisfreien Städte, wohl wissend, dass es Kreise gibt, die Suchtberatung als Verwaltungsaufgabe eines Gesundheitsamts betrachten und ein entsprechend dünnes Hilfenetz vorweisen. Erfahrungen zeigen jedoch, dass dies der falsche Weg ist. Kommunalisierung darf nicht dazu führen, dass es vom Wohnort abhängt, ob ein Süchtiger oder eine Süchtige eine Zukunftschance hat, ohne Sucht leben zu können.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

(Vizepräsidentin Dr. Gitta Trauernicht)

Der Sozialvertrag II kann daher nur dann erfolgreich kommunalisiert werden, wenn er Leitlinien für landesweit hohe und wirksame sowie einheitliche Suchthilfe- und Suchtpräventionsqualität zugrundelegt. Der Sozialvertrag in seiner jetzigen Form, allein ausgestattet mit allgemeinen Formeln und Zuschreibungen, lässt aber die Frage von Qualitätsstandards weitgehend unbeantwortet.

Mit unserem Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehen wir nun auf die Sorgen und Erwartungen der Suchthilfeverbände und der betroffenen Menschen ein. Wir wollen, dass wir in keiner Kommune hinter standardisierte Qualitätsmerkmale zurückfallen.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Nicht nur, um das Ministerium zu entlasten, sondern vor allem wegen des weitreichenden Sachverstands sollten wir die Fachverbände und die kommunalen Landesverbände mit der Entwicklung von Leitlinien betrauen.

Gerade die kommunalen Gebietskörperschaften müssen ein Interesse daran haben, dass es zwischen den Kreisen nicht zu einem Suchthilfetourismus kommt und die engagierten Kommunen die Dummen sind.

(Beifall bei der SPD)

Für eine auch in Zukunft gute Versorgung der Menschen mit Suchtprävention und Suchthilfen überall im Land bleiben wir als Land weiterhin verantwortlich.

Meine Damen und Herren, selbst oder gerade wenn der Weg der Kommunalisierung weiter beschritten wird: Sucht ist und bleibt eine große Herausforderung, die sich ständig verändert und viele Familien in großes Leid stürzt.

Nach zehn Jahren ist es an der Zeit, den Suchtgefahren neu und angemessen mit fortgeschriebenen, modernen Konzepten unter hoher Fachbeteiligung zu begegnen. Lassen Sie uns die Zeit nehmen, mit den Wohlfahrtsverbänden, den Fachverbänden und den kommunalen Landesverbänden sowie mit der Landesstelle für Suchtfragen Schleswig-Holstein im Fachausschuss darüber zu sprechen.

Wir beantragen daher, das Vorhaben im Sozialausschuss weiter zu beraten und eine fraktionsübergreifende, breit getragene und fachlich wirklich gute Lösung zu finden.

(Beifall bei der SPD)

Für die CDU-Fraktion spricht nun Herr Abgeordneter Potzahr.

(Lebhafter Beifall im ganzen Haus)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SPD und Grüne fordern mit ihrem Antrag die Weiterentwicklung der Leitlinien für Suchthilfe und Suchtprävention. Suchthilfe und Suchtprävention - Herr Beran hat das eben angesprochen - werden, wie Sie wissen, hauptsächlich von den Kreisen und kreisfreien Städten durchgeführt. Aus meiner Sicht ist die Kommunalisierung der richtige Weg. Sie führt die Suchthilfe näher an die Menschen heran, die die Probleme haben.

Eine Weiterentwicklung der Leitlinien ist aus meiner Sicht sinnvoll Sie haben recht, wenn Sie dabei die Einbeziehung der Kommunen verlangen. Diese Erkenntnis ist nicht neu; denn das zuständige Ministerium befindet sich bereits weit fortgeschritten in diesem Prozess, wie CDU und FDP in ihrem Änderungsantrag beschreiben. Sie fordern also nichts Falsches, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün, sondern nur etwas, wozu Sie die Regierung nicht auffordern müssen. Ich halte es deshalb für sinnvoll, die Diskussion auf Basis der fertigen Vereinbarung im Sozialausschuss fortzusetzen, und beantrage entsprechende Ausschussüberweisung.

Sinnvoll ist eine regelmäßige Fortschreibung solcher Leitlinien; denn es ist ja richtig, dass es neue Herausforderungen gibt. Ob Ihre gewählten Beispiele von Medienabhängigkeit über Essstörungen bis zum Glücksspiel diese neuen Herausforderungen ausreichend beschreiben, kann man infrage stellen. Aus meiner Sicht sind Komasaufen und das stetig sinkende Alter der Alkoholkonsumenten wichtige neue Problemstellungen, die Berücksichtigung finden müssen.

(Beifall)

Gespräche mit Fachleuten aus der Praxis machen ebenfalls deutlich, dass Canabis ein schwieriges Problem darstellt, nicht durch die Illegalität, sondern durch die Konsequenzen, die der regelmäßige Konsum für junge Menschen haben kann. Bei diesem Thema atmen die alten Leitlinien von Anfang dieses Jahrhunderts noch den Geist der Verharmlosung. Eine Weiterentwicklung ist also dringend geboten.

(Lebhafter Beifall)

(Andreas Beran)

Für die FDP-Fraktion hat Frau Abgeordnete Anita Klahn das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Antrag beruht offensichtlich auf den Erkenntnissen der Opposition aus den kürzlich geführten Herbstgesprächen mit der Landesstelle für Suchtfragen Schleswig-Holstein; denn in dieser Gesprächsrunde äußerten die teilnehmenden Verbände die Sorge, dass sie durch die Kommunalisierung des Sozialvertrags II um den Fortbestand ihrer Beratungsund Hilfeeinrichtungen fürchten. Sie beklagten zum einen, dass sie nicht wüssten, wer ihre Ansprechpartner seien, und zum anderen, dass sich einzelne Kreise und Kommunen nicht intensiv und kompetent genug mit der Problematik der Suchthilfe und Prävention auseinandersetzen und sogar Förderungen reduzieren würden.

Meine Damen und Herren, Zielsetzung der Kommunalisierung des Sozialvertrags II - dazu gehört die Suchthilfe - war und ist die bedarfsgerechte Planung und Sicherstellung der örtlichen sozialen Infrastruktur in erster Linie durch die Kommunen. Diese tragen die Hauptanteile der Kosten der ambulanten Suchthilfe. Der Landesanteil beträgt 15 %, und ich betone, das ist eine freiwillige Leistung. Daraus ergibt sich für uns automatisch, dass die Ansprechpartner vor Ort zu finden sind, dass die Kommunen somit auch diejenigen sein müssen, die vor Ort Grundsätze für die konkrete Ausgestaltung der Suchthilfe und Prävention haben müssen. Sie müssen diejenigen sein, die den regionalen Bedarf kennen und mit Unterstützung der regionalen Leistungsanbieter über Qualität und Quantität der ambulanten Hilfsangebote entscheiden.

Im Gegensatz zu der Opposition haben wir Liberalen Vertrauen zu den Kommunen, dass sie diese Aufgabe auch verantwortungsbewusst übernehmen. Dass dabei Doppelstrukturen abgebaut werden, muss ich ganz ehrlich sagen, ist gewollt und im Übrigen auch dringend notwendig, wenn wir die allseits überhöhten Schuldenberge abbauen wollen.

Eine generelle zentrale Planung durch das Land ist also nicht erforderlich, auch wenn sich größere Träger wie zum Beispiel die Diakonie das gewünscht hätten oder BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die am liebsten alles staatlich regeln, oder Kollege Heinemann als ehemaliger Vorsitzender der Landessucht

hilfe. Wir Liberalen sind für Verantwortung und Stärkung der Kommunen.

Unstrittig ist, dass die Sucht als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt ist. Fragwürdig erscheint uns Liberalen allerdings der Versuch einer dramatischen Darstellung von neuen Dimensionen im Zusammenhang mit legalen und illegalen Stoffen, der Medienabhängigkeit, bei Essstörungen und natürlich bei dem Glücksspiel. Es geht mir nicht darum, hier irgendetwas zu verharmlosen. Aber das klingt für mich alles nach der üblichen Politik der Angst vonseiten der Opposition. So ist es in den Herbstgesprächen von den Verbänden auch nicht dargestellt worden.

Meine Damen und Herren, gerade mit dem neuen Glücksspielgesetz und dem geplanten Spielhallengesetz werden Maßnahmen zur Suchtprävention festgeschrieben. Ich wiederhole dies auch gern für die Opposition: generelles Teilnahmeverbot für alle öffentlichen Glücksspiele für Minderjährige, Einführung eines Sperrsystems, das nicht nur für eine einzige Spielbank oder einen einzigen Veranstalter gilt, sondern umfassend und landesweit, Beschränkung der Öffnungszeiten, in Spielhallen zum Beispiel kein Speisenverkauf.

Dass Menschen in einer Suchtsituation ein Netz von Hilfsangeboten benötigen, ist für alle Fraktionen sicherlich Konsens. Ich bin daher froh, dass wir im Glücksspielgesetz Formulierungen für den § 47 erreichen konnten, die sicherstellen, dass ein Teil des Abgabenaufkommens zur Finanzierung der Suchtarbeit sowie zur Schuldner- und Insolvenzberatung bindend vorgesehen ist. Aus der Abgabe aus Online-Glücksspielen werden 5 % des Aufkommens zur Finanzierung der Suchtarbeit sowie der Schuldnerund Insolvenzberatung verwendet. Durch diese Maßnahme werden Suchthilfe und Spielerschutz insgesamt gestärkt.

Gleichzeitig sichert der vorliegende Gesetzentwurf dem Landessportverband ein Drittel der Abgabeneinnahmen aus den Sportwetten zu; denn die Vereine betreiben mit ihren Angeboten auch eine Form von Suchtprävention, indem sie die Jugendlichen von der Straße holen.

Meine Damen und Herren, wir kommen damit den Forderungen der Verbände nach, die die wichtige Prävention- und Suchtberatungsarbeit leisten, sichern aber weiterhin die Arbeit des Breitensports, die ebenfalls als Präventionsangebot gilt. Herr Kollege Baasch weiß davon sicherlich aus Lübeck zu berichten.

Meine Damen und Herren, die regierungstragenden Fraktionen CDU und FDP handeln also. Wir werden gern dem Vorschlag des Kollegen Potzahr folgen und das im Ausschuss weiter beraten.

(Beifall bei FDP und CDU)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht nun Frau Abgeordnete Dr. Marret Bohn.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, Sie sehen in den Spiegel, und Sie sehen etwas, was gar nicht da ist. So geht es täglich vielen Mädchen und Frauen, die an einer Essstörung leiden. Sie sehen ein riesiges Übergewicht - dabei sind sie gertenschlank. Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein sind gestört. Die Gedanken dieser Frauen und Mädchen kreisen zwanghaft um Gewicht, Figur und Essen. Ihr Essund Bewegungsverhalten ist ebenfalls gestört. Ihr Suchtstoff sind Nicht-Essen, Essen und Erbrechen, Hunger und Kontrolle. Diese Menschen sind krank. Da wir wissen, dass Essstörungen selbst bei guter Prävention nicht völlig verhindert werden können, brauchen wir in Schleswig-Holstein ein gutes Beratungs- und Behandlungsnetz.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Angaben der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren leben in Schleswig-Holstein inzwischen 500.000 Menschen mit manifesten Essstörungen. Eine halbe Million Menschen sind keine Kleinigkeit. Zu den Essstörungen gehören Magersucht, das Nicht-Essen, Bulimie, die Ess-Brech-Sucht sowie die Esssucht ,,Binge Eating“, das anfallartige Essen. Der überwiegende Anteil der Erkrankten sind Mädchen und junge Frauen. Es erkranken aber zunehmend auch Männer. Die Sterberate, liebe Kollegin Klahn, ist mit 10 bis 15 % erschreckend. Die Tendenz ist bei allen Essstörungen steigend. Diesen Trend wollen wir stoppen! Deswegen haben wir gemeinsam mit der SPD einen Antrag gestellt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Wir fordern für Essstörungen und Suchterkrankungen Leitlinien für Schleswig Holstein. Essstörungen sind nicht nur ein individuelles Problem, sie sind ein gesellschaftliches Problem.