Protokoll der Sitzung vom 16.12.2016

Und hier setzt exakt die aktuelle Aufgabe unseres Parlaments ein. Wir führen eine geschichtspolitische Debatte, oder präziser -

Kommen Sie bitte zum Ende.

(Zurufe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, ich versuche das. Das ist ein bisschen schwierig bei der Rede eines Fremden.

(Zuruf)

- Bitte? - Wir führen eine vergangenheitspolitische Debatte. - Danke. Ich finde, das ist auch eine wichtige Debatte.

(Beate Raudies)

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wir reden hier oft über so viele unsinnige Dinge in diesem Haus, dass wir uns, finde ich -

(Zurufe)

- Ich weiß, dass ich mich darüber hinwegsetze. Aber vielleicht gilt ja bei mir die Gnade der späten Geburt.

Die Landtagsabgeordneten der 50er- und 60er-Jahre hatten in großer Zahl persönliche Erfahrungen - als ehemalige Nazis, angepasste Funktionsträger, in ambivalenter Haltung, oder auch als unangepasste Verfolgte. 40 solcher Debatten in den ersten beiden Wahlperioden, noch 20 in den drei folgenden Wahlperioden, und von 1967 bis 1983 haben die Autoren noch ganze drei vergangenheitspolitische Debatten identifiziert.

Ging es zunächst noch um kontroverse Themen wie Entnazifizierung, Wiedergutmachung und Euthanasie, kamen dann auch bundesweit bekannte Skandale hinzu. Da ging es um Pensionen für NS-Täter, den Heyde-Sawade-Skandal oder den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Kriegsverbrechen der Landespolizei.

Anfang der 60er- bis Mitte der 80er-Jahre trat dann das Beschweigen ein. Es gab in den 80er-Jahren eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zu dem Thema, die erstmals in diesem Parlament wieder zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit diesem Thema führte. Gerade deswegen tut der Landtag gut daran, auch weiterhin an diesem Thema zu debattieren.

Ich schließe mit den Worten meines Kollegen Jürgen Weber: In diesem Sinne wünsche ich mir, dass der Landtag in der kommenden Legislaturperiode diese Arbeit an der eigenen Geschichte und ihrer Wirkung fortsetzt. - Vielen Dank.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, PIRATEN, SSW und vereinzelt FDP)

Für die Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat jetzt Herr Abgeordneter Burkhard Peters das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zuerst vom Geld reden. 100.000 € zur Ausstattung des Projekts waren

geradezu dürftig angesichts der enorm zeitaufwendigen, umfassenden und hochqualifizierten Recherchearbeit zur Durchführung der vorliegenden Studie. - Sehr geehrter Herr Professor Dr. Danker, Herr Dr. Lehmann-Himmel, Herr Dr. Glienke und alle anderen, die daran beteiligt waren: Es ist für mich als Mitglied des Parlamentarischen Begleitausschusses offenkundig, dass Sie eine weit überobligatorische Leistung - wie wir Juristen sagen - abgeliefert haben.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, PIRATEN und vereinzelt FDP)

Wir können uns glücklich schätzen, Ihrem Institut den Auftrag erteilt zu haben. Wir wissen, dass es vor allem Ihr wissenschaftlicher Idealismus war, der Sie angetrieben hat. Und dafür sind wir Ihnen außerordentlich dankbar.

Die vorliegende Studie sticht im Verhältnis zu bereits existierenden Parlamentsstudien in anderen Bundesländern qualitativ durch ein ganz besonderes Merkmal hervor: Es geht nicht allein um formale Belastungsfaktoren wie Mitgliedschaft in der NSDAP, SA oder SS. Durch penible Recherchearbeit wird wesentlich tiefer geschürft. Im Fokus steht die gesamte Bandbreite der persönlichen Aktions- und Reaktionsmuster im Nazi-Regime, vom aktiven Widerstandskämpfer über die innerlich Emigrierten, vom linientreuen Verwaltungsbeamten bis hin zum Massenmörder in den besetzten Ostgebieten.

Im Vordergrund stehen die realen Rollen, welche die Personen sowohl vor 1933, von 1933 bis 1945 und dann in der jungen Demokratie in SchleswigHolstein, gespielt haben und die Frage, wie sich dies in den Quellen widerspiegelt. Denn - darauf wurde schon hingewiesen - eine Mitgliedschaft in der NSDAP allein sagt noch nicht viel aus über die tatsächliche Identifizierung mit den Zielen der Nazis oder gar über eine schuldhafte Verstrickung in das NS-Regime.

Die Fragen an die Quellen lauten daher: Warst du damals oppositionell, gar mit dem Stempel „gemeinschaftsfremd“ versehen, oder verhieltest du dich angepasst, mit einem ambivalenten Verhältnis zum Regime? Hattest du eine systemtragende Rolle, und warst du vor allem an deiner eigenen Karriere interessiert, oder hattest du sogar eine exponierte Rolle im Regime, mit tief verinnerlichter NSÜberzeugung? - Innerhalb dieser vier Grundorientierungen definiert die Studie insgesamt 22 verfeinerte Typen und versucht, möglichst alle Personen der untersuchten Gruppe einem Typus zuzuordnen, soweit es die Quellenlage in seriöser Weise zulässt.

(Beate Raudies)

„Nonkonformist“ oder „Alter Kämpfer“, „politisch Enttäuschter“ oder „höherer Staatsbediensteter“ sind zum Beispiel derart verfeinerte Rollenbeschreibungen.

Dieser neue Methodenansatz erlaubt einen sehr differenzierten Blick, nicht Schwarz-Weiß, Gut oder Böse, sondern es geht um Differenzierung und Schattierung. Das ist die Hauptüberschrift dieser Studie, und darin liegt ihr ganz besonders hoher Erkenntniswert und die Einzigartigkeit, die sie bislang hat.

Auf Details der umfangreichen Studie kann ich wegen der kurzen Redezeit hier leider nicht eingehen. Ein Hauptbefund ist aber - das wurde schon gesagt -, dass es den Sonderfall Schleswig-Holstein tatsächlich gegeben hat. Mehr als 50 % ehemalige NSDAP-Mitglieder bei den Abgeordneten, über Jahre hinweg - das hat es wohl in keinem anderen Bundesland gegeben. Noch deutlicher zeigt sich dies bei der Exekutive: 62 bis 77 % ehemalige NSDAP-Mitglieder in den Kabinetten von 1950 bis 1982; bei den Staatssekretären waren es sogar bis zu 85 %.

Auszuschließen ist allerdings, dass die teilweise tief in das Terrorregime der Nazis verstrickten Protagonisten in Schleswig-Holstein nach 1950 wieder eine Naziherrschaft errichten wollten. So war das bekannte und bereits angeführte Zitat von Herrn Innenminister Pagel von der Renazifizierung aber auch gar nicht gemeint. Er wunderte sich nur darüber, wie - in Anführungsstrichen -„selbstverständlich“ die Nazis wieder auftreten.

Genau an diesem Punkt drängt sich für mich folgende Frage auf: Wie hat sich die Rückeroberung des politischen Raums nach 1950 durch Menschen, die kurz zuvor noch durch aktives Handeln für den Nationalsozialismus eingetreten waren, auf die Stimmung hier in diesem Haus und darüber hinaus im ganzen Land ausgewirkt? Denn es gab ja auch Abgeordnete, die in der Nazizeit im KZ gesessen hatten und die Bescheid wussten über die Funktionen und Karrieren vieler Abgeordnetenkollegen und Kabinettsmitglieder. Die in der Studie analysierten Vergangenheitsdebatten im Landtag offenbaren ein bedrückendes Klima von verschwiegener Verstrickung, Vernebelung und Verdrängung. Eine angemessene Bearbeitung der Vergangenheit wurde von der belasteten Mehrheit systematisch verhindert.

(Beifall Dr. Patrick Breyer [PIRATEN])

Schlussstrich ziehen - das war das Gebot der Stunde. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass dieses ver

ordnete Beschweigen von Schuld für eine verklemmte, miefige geistige Befindlichkeit sorgte, die sich wie Mehltau auf das politische Klima und auf die Stimmung im Lande gelegt haben muss. Wie viel Groll und Verbitterung hinterließ der Durchmarsch der alten Kräfte zum Beispiel in der Opposition? Was war der moralische Preis für die nur äußerliche Reinwaschung durch das Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung vom 17. März 1950? Wirkte das schleichende Gift der Verdrängung womöglich bis in die Barschel-Zeit? Hier ist noch ein weites Feld für Anschlussforschung.

Die vorliegende Studie, vor allem der Schatz der für deren Erstellung erhobenen Daten, bildet eine hervorragende Grundlage für weitere Forschungen. - Vielen Dank noch einmal an Sie, Herr Professor Dr. Danker.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, PIRATEN, SSW und vereinzelt FDP)

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt Herr Abgeordneter Dr. Ekkehard Klug.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war eine gute Entscheidung des Landtags, vor mehr als drei Jahren den Auftrag zu einer geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuitäten nach 1945 im Landtag und in der Landesregierung zu erteilen. Das vorliegende Resultat ist nicht etwa eine Studie unter vielen, sondern es ist eine Studie, die sich aus der großen Zahl von Untersuchungen über die historische Vorbelastung deutscher Institutionen und Unternehmen aus der NS-Zeit heraushebt.

Der Vorzug - es ist schon gesagt worden - ist der differenzierte Zugang. Die Einordnung der betroffenen Personen in unterschiedliche Kategorien wird nachvollziehbar begründet. Die vorliegende Studie fragt also nicht bloß: „Wer war früher einmal Mitglied der NSDAP?“, sondern sie untersucht auch, ob jemand etwa zu den Stützen des NS-Staates gezählt hat oder ob er - in Anführungszeichen „nur“ als 17- oder 18-Jähriger gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in die Partei eingetreten ist, nach Jahren ideologischer Infizierung in seiner Jugend.

Diese beiden Beispiele sind sicherlich unterschiedlich zu bewerten.

(Burkhard Peters)

Die Ergebnisse sind - ich sagte es schon - bemerkenswert. Wir haben nunmehr Klarheit, dass der Anteil der Akteure mit NS-Vergangenheit in Schleswig-Holstein in den frühen 50er-Jahren auch im Vergleich zu anderen Bundesländern überdurchschnittlich hoch gewesen ist. Über die Erklärung ist nach meiner Einschätzung weiter zu debattieren, zu diskutieren. Vielleicht ist ein Faktor gewesen, dass Schleswig-Holstein vor und nach 1933 besonders braun geprägt war. Vielleicht ist ein Grund auch die hohe Zahl der Flüchtlinge, in deren Reihen man eine größere Chance hatte, möglicherweise die eigene Vergangenheit zu kaschieren.

Weitere Studien sollten vielleicht der Frage nachgehen, ob in britischen Archiven noch interessante Informationen, beispielsweise Dossiers, über die Einschätzung deutscher Politiker der Nachkriegszeit durch die Institution der britischen Militärregierung vorhanden sind. Das sind Anregungen, die sicherlich auch die Kolleginnen und Kollegen aus der Historikerzunft aufgreifen werden. Der 19. Landtag möge prüfen, ob er nach dem, wie ich finde, gelungenem Projekt dieser Wahlperiode in den nächsten Jahren weitere Anstöße geben sollte.

Wenn man nach der Vorbelastung des Neustarts der deutschen Demokratie durch persönliche Kontinuität zur NS-Zeit fragt, dann ist die Antwort eindeutig ja, aber dann kommt - wie ich finde - notwendigerweise und gerechterweise ein sehr großgeschriebenes Aber. Der demokratische Neuanfang ist gelungen, auch in Schleswig-Holstein. Anteil daran hatten nicht nur unbelastete Politiker. Von denen gab es bedauerlicherweise nicht sehr viele. Anteil daran hatten auch solche, die aus der deutschen Vergangenheit und wohl auch aus eigenen Irrwegen gelernt haben und die sich dann redlich um die Entwicklung der jungen Demokratie in unserem Land bemüht haben. Solche Persönlichkeiten gab es übrigens im gesamten politischen Spektrum, auch in den Reihen der Sozialdemokraten. Das muss man der Klarheit halber sagen, weil die Debatte in der Vergangenheit manchmal anders geführt worden ist.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit hat in Deutschland, auch hier in Schleswig-Holstein, sehr spät begonnen. Das ist hier zu Recht schon angesprochen worden. Aber spät heißt nicht zu spät. Bei diesem Punkt finde ich, man sollte nicht immer nur nach dem sprichwörtlichen Haar in der Suppe suchen. Die Tatsache, dass wir in Deutschland seit mittlerweile geraumer Zeit, seit Jahrzehnten und bis heute eine so intensive Auseinandersetzung mit der NS-Zeit führen, verdient Beachtung.

Der Blick über den nationalen Tellerrand zeigt auch auf: Die Deutschen haben nicht zuletzt wegen dieser Fähigkeit und Bereitschaft, sich der eigenen Geschichte zu stellen, den Respekt vieler Menschen aus anderer Staaten gewonnen, nicht zuletzt auch gerade bei ehemaligen Kriegsgegnern und Opfern der Politik der Nationalsozialisten.

Wenn es auch sicherlich geboten ist, nicht immer nur auf andere zu zeigen, so sticht doch der Unterschied zu anderen Ländern sehr klar hervor, denkt man etwa an den Umgang mit Kriegsverbrechen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan oder an das problematische Verhältnis zum Stalinismus, das im heutigen Russland vorherrschend ist.

Ich will mit einem Zitat eines der bedeutendsten Vertreter der russischen Gegenwartsliteratur abschließen. Der Schriftsteller Michail Schischkin hat am 9. Mai 2015 zum 70. Jahrestag des Kriegsendes einen, wie ich finde, bemerkenswerten Beitrag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht, in dem er sich mit dem Umgang mit der russischen Geschichte in seinem Heimatland auseinandersetzt. Gegen Ende dieses Beitrags zieht er den Vergleich zu Deutschland. Ich will ein kurzes Zitat anführen. Schischkin schreibt:

„Jeder Sieg Hitlers war eine Niederlage für die Deutschen, sein Fall umgekehrt ein großer Sieg. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte hat sich gezeigt, wie ein total besiegtes Volk wieder auferstehen und weiterleben kann ohne Fieberträume vom Krieg.“

In diesem Sinn möchte ich schließen mit der Bemerkung: Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit vollendet die Befreiung vom nationalsozialistischen Gift. Darin liegt die Bedeutung dieser historischen Auseinandersetzung, die wir führen.

(Beifall im ganzen Haus)

Für die Piratenfraktion hat jetzt die Frau Abgeordnete Angelika Beer das Wort.