Protocol of the Session on May 20, 2021

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Die zweite Lehre ist, dass wir es heute gar nicht erst so weit kommen lassen dürfen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefährdet werden.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, SSW und Doris Fürstin von Sayn-Wittgenstein [fraktionslos])

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Die Querdenkerbewegung und die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen lehren uns, dass wir immer wachsam sein müssen und es die dauerhafte und ständige Aufgabe aller Demokraten ist, unser

Gemeinwesen zu schützen und immer wieder aufs Neue zu verteidigen.

Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Professor Danker, und Ihrem Team, und ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Fraktionsvorsitzende, Dr. Ralf Stegner.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über eine beeindruckende Studie, die ein wichtiges Feld der schleswig-holsteinischen Nachkriegsgeschichte ausleuchtet. Auch ich möchte mich für meine Fraktion bei Professor Uwe Danker und seinem Team für die hervorragende Arbeit bedanken.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Die Ergebnisse zur Kontinuität in Justiz, Polizei, Kommunalpolitik, aber auch Sozialverwaltung nach der NS-Zeit sind hochinteressant, teilweise bedrückend und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte. Ich denke, diesen Eindruck teilen wir alle nach der Präsentation heute Mittag. Lassen Sie mich grundsätzlich beginnen.

Bis 1933 war die deutsche Gesellschaft politisch, sozial und kulturell sehr pluralistisch. Sie war in viele soziale Milieus aufgespalten, die zum Teil miteinander kommunizierten und die sich zum Teil heftig bekämpften. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde diese Gesellschaft mit ungeheurer Geschwindigkeit neu formatiert zu dem antipluralistischen Modell, das im „Wörterbuch des Unmenschen“ als „Volksgemeinschaft“ Niederschlag fand.

Jeder einzelne Deutsche musste seine Haltung dazu finden. Die Frage, ob man den Mut zum Nonkonformismus oder gar zum Widerstand hatte, schloss für die meisten auch die Frage ein, welchen Risiken man seine Familie und sich selbst aussetzen wollte.

Die ganz große Mehrzahl der Deutschen ist nicht den Weg in den Widerstand oder ins Exil gegangen. Der Druck, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, war so effektiv, dass die Nazi-Partei schon ab dem 1. Mai 1933 eine Aufnahmesperre verhängte.

(Barbara Ostmeier)

Sie war allerdings so durchlässig, dass sich die Mitgliedszahlen auf 2,5 Millionen fast verdreifachten.

Nach Kriegsende wurde die deutsche Gesellschaft wieder neu formatiert, diesmal mit zwei verschiedenen Blaupausen. Beide Modelle standen vor der Frage: Wie gehen wir mit den Mitgliedern einer Partei um, die zuletzt fast 8 Millionen Menschen organisiert hatte, und den Mitgliedern ihrer Nebenorganisationen, die in unterschiedlichem Maße in die Regimeverbrechen verstrickt waren und die nicht alle eine Zwangsmitgliedschaft kannten? Es gehört übrigens zu den Lebenslügen der DDR, die Verantwortung für diese Frage ausschließlich dem westdeutschen Staat zuzuweisen, obwohl sie selbst Recycling der ehemaligen Nationalsozialisten betrieb.

(Vereinzelter Beifall)

Eine kollektive Bestrafung sämtlicher Parteimitglieder war unmöglich. Das Nürnberger Urteil von 1946 richtete sich gegen das Korps der politischen Leiter der NSDAP, das heißt alle Funktionsträger vom Kreisleiter aufwärts, aber nicht gegen die Mitglieder insgesamt. Diese mussten mit dem Makel leben, einem verbrecherischen Regime gedient zu haben, und hatten natürlich in völlig unterschiedlichem Maß persönliche Schuld auf sich geladen.

Auch für die unbelehrbaren alten Nazis stellte sich die Frage, wie man sich auf die neuen Bedingungen einstellen sollte. Die meisten versuchten, einer eventuellen Strafverfolgung durch deutsche Behörden oder gar einer Auslieferung an Länder zu entgehen, in denen sie ihre Verbrechen begangen hatten. Wir haben uns hier im Plenum und bei Veranstaltungen des Landtags mit dem besonders skandalösen Fall des SS-Generals Reinefarth auseinandergesetzt.

Auch die wieder zugelassenen demokratischen Parteien dienten als vermeintlich sicheres Versteck. Wilhelm Schepmann, letzter Stabschef der SA, der unter falschem Namen in die SPD eintrat, ist ein Beispiel dafür. Neben solchen nationalsozialistischen B-Promis gab es die taktisch weitaus geschickteren Networker, die als „Naumann-Kreis“ um den Goebbels-Staatssekretär Werner Naumann zeitweilig so erfolgreich waren, Einfluss auf die FDP zu nehmen, dass erst das Einschreiten der britischen Behörden diesen Unterwanderungsversuch beendete. Die deutschen Behörden sahen sich dazu nicht aufgerufen.

Man sieht, dass das neue Deutschland neben den strafrechtlichen Fragen vor der Herausforderung stand, beim Aufbau der Demokratie auf Menschen angewiesen zu sein, die im Herzen damals Demo

kratiefeinde waren. Ein vollständiger Verzicht auf das Expertenwissen von Menschen, die im öffentlichen Dienst gearbeitet hatten, wäre faktisch unmöglich gewesen. Dennoch hatte das sicher Auswirkungen auf die Sozialisation dieser Generation.

Hätte man jede Lehrerin und jeden Lehrer, die die inhumane Pädagogik eines Ernst Krieck oder Alfred Baeumler verinnerlicht hatten, aus dem Schuldienst entfernt, wären wohl fast alle deutschen Schulen bis 1950 geschlossen worden. Auch die Universitäten und Historischen Seminare waren durchdrungen vom braunen Zeitgeist, und personelle Kontinuitäten waren eher die Regel als die Ausnahme.

Da verwundert es wenig, dass es so lange gedauert hat, bis die kritische zeitgeschichtliche Aufarbeitung einsetzte. In Schleswig-Holstein war 1992 die Gründung des damaligen Instituts für Zeit- und Regionalgeschichte ein Meilenstein. Sonst hätten wir eine solche Studie wie die heutige gar nicht.

Die alleinige Zahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder macht deutlich, dass bei der Betrachtung von Eliten-Kontinuitäten Differenzierung entscheidend ist. Die jetzt vorgelegte Studie bietet einen - wie ich finde - hervorragenden Forschungsansatz und beleuchtet das in Justiz und Verwaltung. Sie zeigt fatale Kontinuitäten auf. Nur rund 5 % der Juristen vor 1933 hatten eine demokratische Orientierung, während 35 % ultrarechte Demokratiefeinde waren.

Die Studie zeigt eine erschreckende Kontinuität in der Polizeiführung. Da waren Leute exponiert nationalsozialistisch. Man kann sich vorstellen, welche Verhöre, „Sonderaktionen“, wie man es nannte, und anderen Unrechtshandlungen gegen die Opfergruppen der Nazi-Diktatur damit verbunden gewesen sind.

Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass dezidierte Nazi-Gegner wie der christdemokratische Justizminister Gottfried Kuhnt und sein sozialdemokratischer Nachfolger Rudolf Katz im Sinne eines Neuanfangs Tür und Tor für die Rückkehr von Nazi-Juristen in die Justizverwaltung öffneten. Die kamen teilweise übrigens mit dreisten Lügen über ihr eigenes Wirken ungeschoren davon, obwohl tatsächlich viele Todesopfer ihren Weg säumten.

Man kann heute unmöglich auf all die Dinge eingehen, über die man reden müsste, aber man sieht, was es alles gibt. Ich empfehle Ihnen sehr, in die Studie hineinzugucken. Das ist einerseits erschreckend und andererseits außerordentlich lehrreich.

(Beifall SPD und Lars Harms [SSW])

(Dr. Ralf Stegner)

Natürlich ist es positiv, dass der Aufbau des demokratischen Staats in Schleswig-Holstein gelungen ist. Die Studie fasst zusammen: Auch mit schwer belastetem Personal lässt sich demokratische Herrschaft etablieren. Das ist das Positive. Man kann sagen: Die Kraft der Demokratie ist am Ende stark, sie setzt sich durch. Das ist gut und ermutigend, auch für andere Teile der Welt, da haben Sie recht, Frau Kollegin Ostmeier.

Aber es ist auch wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass den Preis dafür die ehemaligen Verfolgten bezahlt haben, die in der Nachkriegszeit in Behörden oder Gerichten vielfach ihren Verfolgern in Uniform oder Robe begegnet sind. Oder wenn sie ein Entschädigungsverfahren betrieben haben, das von den Leuten abgelehnt worden ist, die dafür gesorgt haben, dass es überhaupt eine Entschädigung geben musste. Ich stelle es mir ziemlich peinvoll vor, dies erleben zu müssen, und das muss uns bis heute beschämen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Schleswig-Holstein gehörte zu den frühesten Hochburgen des Nationalsozialismus und war zum Ende und nach dem Krieg Rückzugsort für führende Nazis. Das sind zwei Gründe dafür, dass wir als Landtag eine besondere Verantwortung für die Aufarbeitung haben. Ich finde es gut, dass wir das in einer so modernen Form tun, was vielleicht noch zu weiteren Erkenntnissen führt als anderswo.

Mit der heutigen Aussprache und der öffentlichen Präsentation der Studie sollte dieser Prozess keinen Abschluss finden, sondern in eine neue Phase eintreten. Meine Fraktion möchte schon jetzt anregen, dass wir als Landtag auch in der kommenden Legislaturperiode ein weiteres Feld ausleuchten. Das stünde uns gut zu Gesicht. Ein möglicher Ansatzpunkt dafür wäre das Gesundheitswesen mit so mancher unseligen Tradition, vor allem im Bereich der Psychiatrie. Dazu haben wir hier schon oft etwas gehört.

(Vereinzelter Beifall SPD, FDP und SSW)

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal Herrn Professor Danker und seinem Team für die geleistete Arbeit danken. Ich glaube, man muss aus der Geschichte lernen, wenn wir vermeiden wollen, dass so etwas, was in Deutschland geschehen ist, jemals wieder passieren kann. Die große Hoffnung ist, dass daraus eine Perspektive entsteht, dass eine starke Demokratie daraus erwächst. Das ist hier der Fall. Dass es vereinzelt immer wieder Leute gibt, die das nicht begriffen haben, ist leider auch so. Umso mehr müssen wir uns damit beschäftigen. Vielen herzlichen Dank.

(Beifall SPD, SSW und Jörg Hansen [FDP])

Das Wort für Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat der Abgeordnete Burkhard Peters.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Professor Danker und sehr geehrtes Team! Heute Mittag haben Sie uns die zentralen Ergebnisse der im April 2018 in Auftrag gegebenen Studie in sehr beeindruckender Weise dargestellt. Ich glaube, das Gefühl der Beklemmung hier im Saal war teilweise mit Händen zu greifen.

Schon die Erkenntnisse aus der ersten Studie, welche die Landtage und die Landesregierung von 1946 bis 1987 in den Fokus nahmen, waren sehr bemerkenswert. Mein damaliger Landtagskollege und vorheriger Beiratsvorsitzende Jürgen Weber hat das so zusammengefasst: Die Studie hat das Bild Schleswig-Holsteins als Sonder- und Extremfall von Karrierewegen ehemaliger Nationalsozialisten nicht widerlegt, sondern umfassend bestätigt.

Meine Damen und Herren, dies gilt nach dem Vortrag von heute Vormittag noch viel mehr für große Teile der untersuchten Berufs- und Verwaltungsbereiche, namentlich Justiz, Polizeioffizierskorps, aber auch für bestimmte Bereiche der Landessozialverwaltung.

Ich befürchte, dass eine entsprechende Analyse anderer Funktions- und Beamtengruppen in unserer schleswig-holsteinischen Exekutive, aber auch im Bildungssystem, ein ähnliches Bild ergeben würde. Richtig, Herr Kollege Stegner: Auch die im März im Sozialausschuss vorgestellte Studie zu den langjährigen missbräuchlichen Medikamentenversuchen an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Psychiatrien des Landes weist aus meiner Sicht auf eine Kontinuitätsproblematik hin.

Meine Damen und Herren, ein Beispiel aus der Studie, welches mich als Jurist besonders erschreckt hat, möchte ich hier kurz darstellen. Es findet sich im Beitrag zum strafrechtlichen und politischen Umgang mit NS-Justizverbrechen.

Am 19. Mai 1944 beantragte Werner Rhode, Staatsanwalt bei dem Sondergericht am Deutschen Landgericht in Prag, gegen die tschechische Schneiderin Anna Kovář die Todesstrafe. Der einzige Anklagevorwurf lautete: Sie habe sich mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber, dem aus dem Prager Ghetto geflo

(Dr. Ralf Stegner)

henen Juden Franz Guempel, zum Kaffee, zum Essen und zu Spaziergängen getroffen. Die Angeklagte wurde antragsgemäß zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Rhode beantragte als Ankläger am Sondergericht in Prag in vielen ähnlichen Bagatellfällen solche Todesstrafen.

Zehn Jahre später, im Juli 1954, ist Herr Rhode bereits Erster Staatsanwalt in Kiel, ein halbes Jahr später Oberregierungsrat im Landesjustizministerium als Personalreferent. Er macht also gerade eine steile Karriere, als ihn die Vergangenheit einholt. Die NS-Justizverbrechen an den Sondergerichten der Nationalsozialisten geraten aufgrund internationalen Drucks in den Fokus von strafrechtlichen Ermittlungen, mindestens wegen des Versuchs oder des Vorwurfs der Rechtsbeugung. Seit Januar 1960 werden also auch Ermittlungen gegen Herrn Rhode geführt. Sachbearbeiter ist der Kieler Oberstaatsanwalt Paul Adolf Thamm. Dessen Rolle im Nationalsozialismus wird in der vorliegenden Studie als exponiert nationalsozialistisch eingestuft, als Verfolgungsakteur in der Variante B, also ein Mann, bei dem nach Quellenlage zumindest eine persönliche Nähe zu, wenn nicht gar Verstrickung in NS-Gewaltverbrechen unterstellt werden muss.

Wie beurteilt Thamm strafrechtlich das Agieren seines Berufskollegen Rhode vor 16 Jahren in Prag? Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn werden 1960 eingestellt. Seine Justizkarriere geht bruchlos weiter. 1978 wird er im Rang eines Leitenden Ministerialrates pensioniert.