Drucksache 4/11614, Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und die Antwort der Staatsregierung
Als Einbringerin spricht zunächst die Fraktion der GRÜNEN. Es folgen CDU, Linksfraktion, SPD, NPD, FDP und die Staatsregierung.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, die Freunde des Radverkehrs in Sachsen hier so „zahlreich“ begrüßen zu können.
Danke. – Ich möchte meine Rede wie folgt beginnen: Mobilität ist ein Grundbedürfnis und dabei meint Mobilität die tatsächliche und erschwingliche Möglichkeit, die Lebenserfordernisse in allen Lebenslagen zu befriedigen. Wir bewegen uns vom Wohnort zum Arbeitsplatz, wir wollen einkaufen und Freunde treffen, wir wollen in die Kneipe oder ins Kino gehen und wir wollen unsere Freizeit in der Natur verbringen. Dabei misst sich der Erfolg von Mobilitätspolitik – ein Begriff, der der Staats
regierung offenbar unbekannt ist – nicht an der Anzahl der neu gebauten Straßenkilometer, sondern daran, ob alle gesellschaftlichen Gruppen in allen Lebenslagen kostengünstig und umweltverträglich die Wege zwischen Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Freizeit bewältigen können.
Es geht daher nicht um eine Verkehrspolitik im hergebrachten Sinne, die glaubt, mit dem Bau von Verkehrswegen das Problem erschlagen zu haben. Es kann im Sinne einer Mobilitätspolitik nur darum gehen, den tatsächlichen Zugang aller Menschen zu den Chancen und Leistungen unserer Gesellschaft zu gewährleisten. Mobilitätspolitik ist daher eine Form der Zugangsgerechtigkeit.
Heute müssen wir feststellen, dass unser Verkehrssystem ganze Bevölkerungsgruppen benachteiligt und ausschließt: Eltern mit Kindern, Alte, Menschen im ländlichen Raum. Falsche Leitbilder der Vergangenheit und die Bewahrung gesundheitsschädlicher Industrien vor wirksamen Auflagen haben tendenziell zu einer immer weiteren Trennung der Funktionen von Wohnen, Arbeiten, Versorgung und Freizeit geführt. Der Druck der Betreiber großer Einkaufszentren und von Autohäusern hat gerade nach der Wende zu einer unerträglichen Zersiedelung am Rand unserer Städte geführt. Dem überholten Leitbild der autogerechten Stadt machte das nichts aus, denn diese Orte waren und sind oft nur mit dem Auto erreichbar. Auf diese Weise wurde eine Spirale in Gang gesetzt, die unsere Innenstädte tendenziell veröden ließ, die der Gesellschaft und dem Einzelnen hohe Kosten aufbürdete.
Heute bemühen wir uns, diese Fehlentwicklung in der Wiederbelebung des Leitbildes der urbanen Stadt wieder zu flicken. Doch kommt uns diese ganze Entwicklung in den Zeiten des demografischen Wandels immer teurer zu stehen. Daher muss unsere Mobilitätspolitik umsteuern. Sie muss die kostengünstigen, stadtverträglichen, umwelt- und klimaverträglichen Formen von Mobilität anerkennen und fördern. Dies sind die Formen des Umweltverbundes, nämlich: zu Fuß gehen, Busse und Bahnen benutzen und Rad fahren.
Meine Damen und Herren! Radfahren hat eigentlich nur Vorteile. Radfahren ist gemeinsam mit dem Fußverkehr die gesundheitsförderlichste, umwelt- und klimafreundlichste sowie stadtverträglichste und kostengünstigste Variante von Mobilität.
Vielen Dank. – Diese Sätze haben Sie alle schon gehört. Aber haben Sie sie auch verstanden? – Die hier im Saal Anwesenden sicher.
Wir haben aber ein massives Problem. Sie – jedenfalls die nicht Anwesenden – und auch die Entscheidungsträger in den Kommunalparlamenten sind in der Regel männlich, stehen im besten Alter und mitten im Berufsleben. Sie führen oft immer noch die klassische Hausfrauenehe. Das heißt, die Hausarbeit, die Kindererziehung und die Versorgung leisten Ihre Ehefrauen. Selbstverständlich fahren
Sie früh zur Arbeit mit dem Auto und vielleicht leisten Sie sich einen Zweitwagen für die Besorgungen der Ehefrau. Merken Sie etwas? Radfahren kommt dabei nicht vor, außer wenn Sie am Wochenende – selten genug – mal ein paar Kilometer im Grünen fahren wollen. Entsprechend sieht auch die Radpolitik aus:
Radfahren wird als netter Zusatz, als Luxusproblem betrachtet, wenn man die eigentlichen Verkehrsprobleme, wie etwa eine Verbreiterung der Straße, gelöst hat. Wenn dann noch Platz übrig bleibt, kann man ja den Radfahrern auch noch einen Weg bauen. Doch eigentlich können die Radfahrer auch, auf der Straße oder dem Fußweg fahren. Aber da Autofahrer Radfahrer auf der Straße hassen, dann doch lieber ein gemeinsamer Fuß- und Radweg.
Das Kernproblem ist, dass Radfahren als Mobilitätsform des Alltags im Allgemeinen weder ernst genommen noch ausreichend gefördert wird. Dies hat nicht nur eine städtebauliche Vernachlässigung der Belange der Radfahrer zur Folge, sondern gefährdet auch massiv die Sicherheit von Radfahrern. Autofahrer gefährden Radfahrer in massiver Weise und fühlen sich dabei oft sogar im Recht. Wer in einer Stadt Rad fährt, weiß das. Autofahrer halten den Seitenabstand oft nicht ein, sondern brausen mit erhöhter Geschwindigkeit und ohne Vorwarnung knapp an einem vorbei; Autofahrer achten bei Ein- und Ausfahrten nicht auf Radfahrer; bei Abbiegevorgängen fehlt oft der Schulterblick; und Autofahrer rasen so schnell aus einer Seitenstraße heran, dass der Radfahrer damit rechnen muss, dass ihm mal wieder die Vorfahrt genommen wird.
Diese Rücksichtslosigkeit zeigt sich aber auch in der Stadtplanung, etwa bei straßenrechtlichen Abwägungen, bei denen regelmäßig die Belange des Radverkehrs „weggewogen“ werden. Dies zeigt sich in der gefährlichen Radverkehrsführung, mal vom Gehweg auf die Straße, dann wieder herauf und umgekehrt. Stellen Sie sich als Autofahrer doch einmal vor, auf einer Hauptverkehrsstraße stünde mitten auf der Fahrbahn ein massiver Pfeiler. Autofahrer würden das für verrückt halten, aber diese Erfahrung machen Radfahrer regelmäßig, und leider bleibt ein solcher Zustand, obwohl er bekannt ist, jahrelang erhalten. Falls Sie mir nicht glauben, dann schauen Sie mal in Dresden auf den Olbrichtplatz. Dort können Sie ein solches Exemplar bewundern.
Fazit: Wer sich im Alltag in den Radverkehr unserer Städte stürzt, der liebt das Risiko und der lebt gefährlich. Daher brauchen wir endlich eine neue Radkultur, die die Radfahrer nicht als „Unkraut der Straße“ betrachtet, sondern Radfahren als gleichberechtigte Mobilitätsform.
Doch, meine Damen und Herren, in den letzten Jahren ist einiges passiert. Rot-Grün in Berlin hat das Nationale Radverkehrskonzept auf den Weg gebracht und auch Sachsen verfügt seit 2005 über ein taugliches Radverkehrskonzept. Wir begrüßen das Radverkehrskonzept des Freistaates Sachsen ausdrücklich, wollten aber in unserer Großen Anfrage wissen, wie es denn um die Umsetzung bestellt ist. Meine Bewertung: Durchwachsen sieht es aus.
Zunächst zum Modal Split, also zum Anteil der Wege, die mit dem Rad gemacht werden. Der bundesweite Durchschnitt liegt in den Städten bei 12 %. Diesen Durchschnitt erreichen in Sachsen nur Dresden und Leipzig – Städte, in denen es Radverkehrsbeauftragte und auch und vor allem aktive Gruppen des ADFC gibt, die seit Jahren um eine Verbesserung des Radverkehrs kämpfen. Dagegen fallen fast alle anderen sächsischen Städte erheblich ab. Bedauerlich und auffällig: Chemnitz und Zwickau liegen nur bei ungefähr 6 %, Görlitz bei immerhin 10 % und Plauen ist mit etwas mehr als 3 % ganz schlecht. – Ich weiß, da geht es herauf und herunter. – Diese Zahlen zeigen an, dass es noch erhebliche Potenziale für den Alltagsradverkehr gibt.
Die Staatsregierung gibt den Wegeanteil in ganz Sachsen mit 9 % an, hält aber eine Verdoppelung „unter idealen Bedingungen“, wie es heißt, für möglich. Ich wünsche mir – und meine Fraktion mit mir –, dass wir uns diese Verdoppelung auch zum Ziel setzen und in den Großstädten endlich auf das Niveau der fahrradfreundlichen Städte im Westen kommen. Leider entzieht sich die Staatsregierung mal wieder einer genauen Zielsetzung. Dieses Thema kennen wir ja bereits.
Aber wie kann der Radverkehrsanteil erhöht werden? – Wir brauchen kommunale Radverkehrskonzepte, die in lokalen Netzen denken. Die Staatsregierung schätzt die Qualität kommunaler Radverkehrskonzepte als sehr unterschiedlich ein und da hat sie durchaus recht. Nur 30 % der Gemeinden haben Radverkehrskonzepte, nur 40 % der Radverkehrskonzepte der Kreise berücksichtigen auch den Alltagsradverkehr, obwohl gerade dort die größten Steigerungen notwendig und möglich sind.
Positiv hervorheben möchte ich gern das Konzept des Muldentalkreises. Die Vorteile des Radverkehrs lassen sich nur vollständig im Umweltverbund realisieren. Daher hat die intermodale Verknüpfung von Bussen und Bahnen mit dem Radverkehr strategische Bedeutung sowohl für den Radverkehr als auch für den ÖPNV. Hier kommt es entscheidend auf die Schnittstellen an, also auf die Abstellanlagen an Bahnhöfen und die Regelungen zur Fahrradmitnahme.
Leider bestehen in Sachsen sehr schlechte Bedingungen. Die kostenlose Mitnahme von Rädern in den Zügen der fünf Verkehrsverbünde ist unterschiedlich geregelt. Vorreiter sind die Verkehrsverbünde Mittelsachsen und Vogtland, in denen eine kostenlose Mitnahme in allen Verkehrsmitteln möglich ist. Im Verkehrsverbund Mitteldeutschland ist eine Mitnahme in Zügen des Nahverkehrs möglich, im Verkehrsverbund Oberelbe aber nur für Inhaber von Monats- oder Jahreskarten. Schlusslicht – man muss es sagen – ist der Verkehrsverbund OberlausitzNiederschlesien, in dem es keine kostenlose Mitnahme gibt. Dies ist deshalb besonders bedauerlich, da gerade in der Lausitz die touristischen Radwege in einem vergleichsweise guten Zustand sind.
Trotz dieser schlechten Ausgangslage sieht es die Staatsregierung unter dem Vorwand der kommunalen Zuständigkeit für den Nahverkehr nicht als ihre Aufgabe an, auf
eine kostenlose Mitnahmemöglichkeit für Räder in Verkehrsmitteln hinzuwirken. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass sich die Staatsregierung bei der Deutschen Bahn für die Mitnahmemöglichkeit von Rädern in ICEs eingesetzt hat, aber von Herrn Mehdorn abschlägig beschieden wurde. Ich lobe dieses Engagement der Staatsregierung ausdrücklich, aber ich erhoffe es mir auch für den eigenen Nahverkehr.
Meine Damen und Herren! Das Mitnahmechaos von Fahrrädern ist nicht akzeptabel. Ich verlange hierzu von Herrn Minister Jurk eine entsprechende Standardsetzung für die Verkehrsverbünde – sei es im ÖPNV-Gesetz oder bei der Fördermittelvergabe.
Bei den Abstellanlagen sieht es nicht viel besser aus. In Sachsen sind bisher nur 44 % der Bahnhöfe überhaupt mit Abstellanlagen ausgestattet. Meine Damen und Herren, bei diesem Tempo hätten alle Bahnhöfe erst im Jahre 2055 Abstellanlagen.
Ich halte das für keine begeisternde Perspektive. Aber vielleicht setzt die Staatsregierung auch darauf, dass es bald deutlich weniger Bahnhöfe gibt und somit auch eine Vollversorgung erreicht werden kann.
Meine Damen und Herren! In diesem Zusammenhang ein Wort zur Sicherheit von Radfahrern. Erfreulicherweise ging die Zahl der getöteten Radfahrer von 45 im Jahr 2005 auf 23 im Jahr 2007 zurück. Das sind aber immer noch circa 10 % aller Verkehrstoten. Wenn man so will, liegt der Anteil der getöteten Radfahrer daher über ihrem Anteil am Modal Split. Zudem ist der Anteil der Schwerverletzten im vergangenen Jahr leider wieder auf circa 1 000 angestiegen. Dennoch können wir uns über eine positive Entwicklung freuen, obwohl unser Ziel – ich hoffe, darüber sind wir uns in diesem Hause einig – „Vision Zero“ sein muss, das heißt, kein Mensch darf mehr im Verkehr verletzt oder getötet werden.
Die Belange des Radverkehrs und der erforderliche Bewusstseinswandel können nur vorangebracht werden, wenn die Verwaltung diese Belange in ihr Handeln integriert. Leider antwortete uns Herr Jurk, dass die personellen Kapazitäten nach Erstellung der Radverkehrskonzeption nicht aufgestockt wurden. Einen hauptamtlichen Radverkehrsbeauftragten gibt es nur in der Stadt Leipzig – und dafür ist die Stadt Leipzig zuständig und nicht der Freistaat –, außerdem Beauftragte in Dresden und im Regierungspräsidium Dresden. Ansonsten arbeiten nur Ansprechpartner für den Radverkehr, die aber vorwiegend andere Aufgaben zu erfüllen haben.
Immerhin – das begrüße ich ausdrücklich – plant die Staatsregierung im Jahre 2008 die Gründung einer kommunalen Arbeitsgemeinschaft zum Radverkehr. Der Entschließungsantrag der Koalition feiert diese Absicht in gehöriger Weise.
Zu guter Letzt will ich wieder eine Lanze brechen gegen den unsäglichen Paragrafenpranger des Herrn Mackenroth, der auch die Pflicht zur Schaffung von Radabstellplätzen abschaffen möchte. Leider verteidigt Herr Jurk diese Absicht. Ich hätte mir von einem Verkehrsminister, der auch für den Radverkehr zuständig ist, eine positivere Position zum Radverkehr in der Stadt gewünscht. Ich hoffe, dass ihm hier neoliberal eingestellte Mitarbeiter seines Hauses möglicherweise etwas untergeschoben haben und er diese Fehlleistung noch korrigiert – meinetwegen auch stillschweigend. Dann werde ich damit zufrieden sein.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Politik pro Rad heißt nicht, Politik kontra Auto oder kontra andere Verkehrsträger, sondern heißt, die Vorteile des einen mit den Vorteilen des anderen intelligent zu verbinden.
Ich möchte zu Beginn meiner Rede einen sachlichen Akzent zu der eifernden Rede meines Vorredners setzen. Radfahren ist in. Für die einen ist es ein willkommener sportlicher Ausgleich, für die anderen der Weg zur Arbeit oder zur Schule und für die Touristen eine beliebte Möglichkeit, eine Region zu erkunden. Egal, welcher Ansatz vorliegt: Eine entsprechende fahrradgerechte Infrastruktur ist die Voraussetzung für jede Nutzung eines Rades.
Die Antworten der Staatsregierung auf die Große Anfrage belegen, dass inzwischen mit deutlichen regionalen Differenzierungen, die ihre objektiven Gründe haben, vieles erreicht worden ist und dass mit dem Radverkehrskonzept der Staatsregierung aus dem Jahre 2005 auch Zielstellungen für die Weiterentwicklung formuliert worden sind.
Zurückweisen muss ich aber Ihren Negativtenor der in der Einleitung zur Großen Anfrage getroffenen Feststellung, die sich auch im Entschließungsantrag wiederfindet und die Sie bereits vorgetragen haben: dass im Gegensatz zu anderen Bundesländern der motorisierte Verkehr im Vordergrund sächsischer Verkehrspolitik stand. Jawohl, Herr Lichdi, er stand im Vordergrund sächsischer Verkehrspolitik. Wenn Sie die Verhältnisse von 1990 zwischen Sachsen und Baden-Württemberg oder Flächenländern wie Nordrhein-Westfalen vergleichen, dann hatten wir in Sachsen andere Prioritäten zu setzen. Ich hätte die Opposition in diesem Haus einmal reden hören wollen, wenn wir zuerst die Radwege gebaut hätten und jetzt bei den Autobahnen angekommen wären.
Zum Stand des Radverkehrs in Sachsen: Ich bin mir nicht sicher, ob jeder, der aus dem Fenster des Plenarsaals auf
den heute leider nicht so stark frequentierten Elberadweg blickt, weiß, dass vor uns der beliebteste deutsche Fahrradweg liegt.
Seit Jahren führt der Elberadweg das Ranking der Reiseanalyse des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs als beliebtester deutscher Radfernweg an.
Im Jahre 2007 wurde er von 145 000 Radwanderern befahren, die im Durchschnitt neun Tage unterwegs waren, also über der durchschnittlichen Übernachtungsdauer der Städtetouristen, und dabei pro Tag circa 70 Euro ausgaben. Das bedeutet einen touristischen Umsatz von circa 91 Millionen Euro. Hierbei sind die Tagestouristen noch nicht berücksichtigt.