Protokoll der Sitzung vom 11.03.2009

Abgeordneten sind doch alle bereit und sensibilisiert, sie treten für die Interessen der Behinderten ein.

Nichts ist, nichts dergleichen passiert, meine Damen und Herren! Es gibt immer noch zahlreich vorhandene Barrieren, die die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe an den unterschiedlichsten Angeboten des gemeinschaftlichen Lebens verwehren. Frau Herrmann hat das eindruckvoll geschildert. Liebe Frau Herrmann, Sie haben so schnell gesprochen, ich hätte gern viel, viel öfter Ihre Rede unterstützt.

(Elke Herrmann, GRÜNE: Wir haben nicht mehr so viel Zeit!)

Ich habe es mitbekommen. – Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie schrecklich bequem das Ganze ist und wie Sie über diese Dinge hinweggehen? Nicht nur das. Ich halte diese immer wieder gepflegte Ignoranz, die wir hier erleben, für äußerst arrogant.

(Beifall bei der Linksfraktion und den GRÜNEN)

Lassen Sie es sich gesagt sein, meine Damen und Herren, den bisher in der Bundesrepublik Deutschland und auch im Freistaat Sachsen gern artikulierten Sonderstatus des Behinderten gibt es nicht mehr; denn auch Menschen mit körperlichen, geistigen, seelischen oder Sinnesbeeinträchtigungen sind ganz gewöhnliche Menschen. Sie sind Teil des Ganzen. Das müssen Sie sich alle einmal hinter die Ohren schreiben.

(Beifall bei der Linksfraktion und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! Ich fordere Sie auf, darüber nachzudenken, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Landes so ausgestaltet sind, dass jeder die Chance hat, sich zu emanzipieren. Ich finde: nein. Sie machen sich etwas vor, wenn Sie sagen, vor Ort sei die Schaffung von Barrierefreiheit gegebene Realität. Sie machen sich auch etwas vor, wenn Sie sagen: Wir brauchen keine Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen vor Ort.

Vielleicht hilft es, die Gedanken der UN-Menschenrechtskonvention aufzunehmen. Spannend hierbei finde ich die Definition von Behinderung. Es gibt keinen defizitären Ansatz mehr. Behinderung entsteht – jetzt hören Sie bitte ganz genau zu – aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die sie an der vollen wirksamen und gleichberechtigten Teilnahme an der Gesellschaft hindern. Somit behindern wir uns gegenseitig. Das finde ich unmöglich. Es ist an der Zeit, das zu ändern-.

(Beifall bei der Linksfraktion und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, orientieren Sie sich an den Allgemeinen Grundsätzen des UN-Übereinkommens. Ich darf noch einmal daran erinnern – wir haben das schon einmal erwähnt –: Es gilt, die Achtung der Menschen innewohnenden Würde zu wahren, die Nichtdiskriminierung, die voll wirksame Teilnahme und Teilhabe am

gesellschaftlichen Leben zu sichern. Es geht um Chancengleichheit, um Barrierefreiheit im Sinne von Zugänglichkeit für jeden Mann und jede Frau, so wie das Frau Herrmann ausgeführt hat, um Gleichberechtigung von Mann und Frau. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient der Respekt vor der Unterschiedlichkeit und Akzeptanz von Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen als Teil der menschlichen Vielfalt und des Menschseins.

Es geht auch gar nicht mehr um „behindertengerecht“, meine Damen und Herren. Diese Terminologie sollten wir uns einfach abgewöhnen. Es geht um die Sicherung der Teilhabe und der selbstbestimmten Lebensführung.

(Beifall bei der Linksfraktion und den GRÜNEN)

Wir hätten nicht das geringste Problem, wenn für alle Teilhabe, Gleichstellung und Integration und der damit verbundene Abbau aller Barrieren Alltag wären. Aber es ist eben nicht so. Es ist noch nicht so, sage ich. Wir haben die Chance, wenn wir uns wirklich sensibilisieren, wenn wir Verantwortung vor Ort übernehmen und geeignete Menschen als Beauftragte bestellen, die sich speziell um die Belange der Menschen mit geistigen, körperlichen, seelischen und Sinnesbeeinträchtigungen kümmern. Sie hören also, ich sage nicht mehr „Menschen mit Behinderungen“.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der Linksfraktion und den GRÜNEN)

Danke schön. Herr Gerlach von der SPD-Fraktion spricht für die Koalition.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Herrmann, Herr Wehner, ich denke, dass ich auch im Namen der Koalition in vielen Bereichen die Einschätzung, was die Wertschätzung gegenüber Behinderten betrifft, durchaus mit Ihnen teilen kann. Ich würde Ihren Begriff von der Arroganz, auch wenn er im Einzelfall zutrifft, nicht so allgemein übernehmen. Ich habe eher den Eindruck, dass es manchmal einfach Unbeholfenheit, Unwissenheit und auch Angst ist, mit Behinderten umzugehen. Ich verwende dieses Wort „Behinderte“ noch, Herr Wehner. Wie dem auch sei – darüber kann man sicherlich lange diskutieren.

Wir sprechen heute nicht darüber, ob es Beauftragte für die Menschen mit Behinderungen geben soll oder nicht, sondern darüber, ob es hauptamtliche Beauftragte geben soll. Das ist doch der Kern dieses Antrags. Für mich steht nicht die Frage, ob es einen solchen Beauftragten geben soll oder nicht, sondern die Frage lautet: Brauchen wir einen Hauptamtlichen oder brauchen wir keinen Hauptamtlichen? In dieser Form möchte ich das auch für die Koalition zu beantworten versuchen.

Wir haben Beauftragte von Präsidenten, von Regierungen, von Landräten, von Oberbürgermeistern usw. usf. Das sind Menschen mit besonderer Kompetenz und im Ideal

fall auch Sensibilität durch eigene Betroffenheit für benachteiligte Gruppen oder Gruppen mit besonderen Problemlagen. Was haben wir? Wir haben Seniorenbeauftragte, Behindertenbeauftragte, Frauenbeauftragte, Datenschutzbeauftragte, Sicherheitsbeauftragte, Ausländerbeauftragte, Brandschutzbeauftragte, Stasibeauftragte, Genderbeauftragte. Ich könnte noch eine ganze Menge aufzählen. Mit Ausnahme der letzten beiden haben wir diese Beauftragten auch in den Landkreisen. Sie können haupt- oder nebenamtlich sein. Das hängt von vielen Faktoren oder von den jeweiligen gesetzlichen Vorgaben ab, die die Antragsteller bekanntlich ändern wollen.

Wie sieht die Praxis aus? Wenn der oder die Vorgesetzte dem Hauptamtlichen nicht die nötige Achtung entgegenbringt und nicht die nötige Freiheit bei der Arbeit gewährt, kann auch ein hauptamtlich Beschäftigter nicht mehr ausrichten als ein engagierter Nebenamtlicher. Das ist mir sehr klar geworden. Strukturen sind wichtig, aber allein laufen auch sie oft ins Leere. Deshalb ist es für eine Beauftragte oder einen Beauftragten so besonders wichtig, das Votum eines Kreistages – das ist ja die Ebene, über die gerade gesprochen wird – hinter sich zu haben.

(Elke Herrmann, GRÜNE, tritt ans Mikrofon.)

Ich beantworte Ihre Frage, einen kleinen Moment. – Das gibt mehr Durchsetzungskraft bei der Verwaltung, als wenn das Amt „nur“ kraft Gesetzes eingeführt wird. Hier kann der Behindertenbeauftragte diejenigen besser mahnen, die ihn vorher kraft eines Beschlusses eingesetzt haben, als wenn er kraft eines Gesetzes eingesetzt worden wäre.

Ich mache eine kurze Pause.

Sie gestatten jetzt also eine Zwischenfrage. Frau Herrmann, bitte.

Lieber Johannes, bist du nicht auch der Meinung, dass es schon ein Unterschied ist – einmal ganz abgesehen davon, ob der Beauftragte das Wohlwollen seines Landrates genießt oder nicht –, ob er freie Zeit hat, um während seiner Arbeitszeit in irgendeinen Winkel seines Landkreises zu fahren – er hat ja als Hauptamtlicher diesen Auftrag und dafür Zeit zur Verfügung –, oder ob er ehrenamtlich tätig ist und nach der Arbeitszeit oder als Rentner irgendwie das Gleiche unternimmt? Das ist doch ein Unterschied!

Ja, das kann durchaus so sein. Ich bin aber vorsichtig bei dem etwas pauschalisierten Begriff „Rentner“. Wir haben Leute, die 60 oder 65 sind und die noch sehr aktiv sind. Ich will das jetzt nicht auf die Leute niederbrechen. In meinem Redebeitrag werde ich noch darauf eingehen, wo für mich der Hauptschwerpunkt liegt.

Natürlich hat es jemand, der dafür bezahlt wird, sich acht Stunden am Tag um diese Dinge zu kümmern, leichter als jemand, der das nebenamtlich tut, in welcher Form auch immer, und sei es mit einer Entschädigung. Wir haben in unserem Landkreis einen Ausländerbeauftragten, der eine

Aufwandsentschädigung von 8 Euro pro Stunde bekommt.

Bei der gesetzlichen Vorgabe, dass eine solche Stelle eingerichtet werden muss, entsteht die Versuchung, dass so eine Stelle mitbesetzt wird. Das heißt, die Frauenbeauftragte wird gleich noch Senioren- und vielleicht auch noch Behindertenbeauftragte, ist im Landratsamt aber auch noch für die Aufgabe A oder B zuständig. Beliebige andere Kombinationen sind denkbar. Das ist eine der Gefahren, die hierbei bestehen.

Was sind die Praxiskriterien? Im Idealfall – ich habe es bereits genannt – Kompetenz und Sensibilität. Aber ich habe in den letzten Jahren auch andere Kriterien erlebt: bisher nicht als Querulant aufgefallen; passend im Quotensystem der zu verteilenden Posten; Versorgungsposten für nicht mehr benötigte Mitarbeiter; vielleicht sogar das Parteibuch. Auch das gab es.

Die zuletzt genannten Motive haben mich 2003 aus der Oppositionsrolle dazu gebracht, auch so etwas in dem damaligen Behindertengesetz zu verlangen. Ich sehe das aus der Sicht eines Menschen, der jetzt im Kreistag tätig ist, ein bisschen anders, nämlich etwas differenzierter. Ich nehme einmal die Zahlen, die mir bekannt sind. Nach den nicht ganz kompletten Angaben, die mir vorliegen, haben wir bisher vier hauptamtliche Behindertenbeauftragte in den 13 Kreisen bzw. kreisfreien Städten. Die Aussagen der Kleinen Anfrage vom 9. Oktober 2008 erfolgten aus der damaligen Sicht. Diese Tabellen sind keinesfalls mehr verwendbar.

In meiner Region, also im Erzgebirge, im ehemaligen Kreis Mittleres Erzgebirge, haben wir gute Erfahrungen mit der hauptamtlichen Behindertenbeauftragten gemacht. Sie hat sich besonders durch die Beratung bei der Ausstellung von Behindertenausweisen und bei der Koordinierung von Bauvorhaben große Achtung erworben. Das war sicher auch ein Grund, weshalb der jetzige Landrat im Wahlkampf die Einrichtung einer hauptamtlichen Stelle dafür versprochen hat. Dem sind wir als Kreistag gern gefolgt.

Aber noch einmal: Hauptamtliche Stellen haben Vorteile, aber eben nicht nur Vorteile. Ich könnte dem Gesetzentwurf mühelos zustimmen. Die Koalition hat sich aber in ihrer Mehrheit auf das Prinzip „Verantwortung vor Ort heißt auch Entscheidung vor Ort“ entschieden. Aus diesem Grunde lehnen wir den Antrag ab.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Fritz Hähle und Heinz Lehmann, CDU)

Danke schön. – Frau Schüßler, Sie sprechen für die Fraktion der NPD.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beginnen möchte ich mit einem Zitat aus der Stellungnahme des SSG, das die Bedenken, die wir generell gegenüber dem Beauftragtenwesen haben, sehr schön zusammenfasst. Ich bin davon übrigens so begeistert, dass ich das auch in meinem Kreistag Zwickau

einbringen werde, wo Herr Hamburger als Chef der CDUFraktion ebenfalls einen hauptamtlichen Behindertenbeauftragten gefordert hat.

Das Zitat: „… droht ein Verharren in bürokratisch aufwendigen Beauftragtenstrukturen, die die Verantwortung der demokratischen legitimierten Organe beeinträchtigen. Dies gilt umso mehr angesichts der nicht von der Hand zu weisenden Befürchtung, auch andere Bevölkerungs- oder Interessengruppen könnten ihren Beauftragten fordern und erhalten. Im ungünstigsten Fall bleibt den kommunalen Organen nur eine Rumpfzuständigkeit für diejenigen Einwohnergruppen, die für ihre Belange noch keinen gesetzlichen Beauftragten haben. Im Interesse der demokratisch legitimierten Gemeinderäte und Bürgermeister treten wir solchen Tendenzen daher entgegen.“ Wir auch, möchte man da Herrn Leimkühler zurufen.

Die GRÜNEN allerdings scheinen völlig beratungsresistent zu sein. Spätestens nach der Kleinen Anfrage, Drucksache 4/6394, hätten Sie doch merken müssen, dass der Bedarf bei einem Arbeitsaufwand von zum Beispiel einer Stunde pro Woche im Altkreis Mittweida, einer Stunde im Altkreis Kamenz oder maximal drei Stunden pro Woche im Altkreis Annaberg die Etablierung eines Hauptamtlichen keinesfalls rechtfertigt. Aber Sie versuchen es halt weiter – wie immer im vorgeblichen Interesse der betroffenen Bürger, in Wahrheit aber wohl eher im Interesse einer Alimentierung Ihrer eigenen Klientel.

Dem unterschiedlichen Bedarf, meine Damen und Herren, tragen die Gebietskörperschaften bereits Rechnung, auch und gerade nach der Kreisgebietsreform. Unter Punkt B Ihres Gesetzentwurfes schreiben Sie ja selbst, dass – Zitat – „die Möglichkeit, Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen in den Kreisen und kreisfreien Städten hauptamtlich einzurichten“, bereits besteht.

Abgesehen davon, dass ich gern einmal sehen würde, wie Sie einen Beauftragten „einrichten“ – die Möglichkeit ist gegeben. Dies zur Pflichtaufgabe der Kreise und kreisfreien Städte zu machen ist nicht nötig. Die Kompetenz, die kommunale Organisationshoheit auszuüben sollte man den Kreisen und kreisfreien Städten schon selber zugestehen.

Meine Damen und Herren! Da wir schon immer grundsätzliche Bedenken gegen das Beauftragtenunwesen hatten, was im vorliegenden Fall vom Städte- und Gemeindetag geteilt wird, werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.

(Beifall bei der NPD)

Frau Schütz, Sie beschließen für die FDP-Fraktion die Runde der Fraktionen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich voranstellen: Viel wurde bereits in den vergangenen Jahren bei der Integration von Menschen mit Behinderungen geleistet,

sei es in den Kindertageseinrichtungen, in den Schulen, aber auch bei den Angeboten in Alten- und Pflegeheimen.

Dennoch sind wir – und das sage ich bewusst – mit Sicherheit noch lange nicht am Ziel. Herr Wehner, Sie haben sehr eindrucksvoll dargestellt, an welchen Stellen Sie ganz konkret diese Probleme haben. Daneben seien nur noch beispielhaft die touristische Infrastruktur, die öffentlichen Behörden allgemein, aber auch ganz speziell in diesem Jahr bei den Wahlen genannt.