Protokoll der Sitzung vom 07.04.2006

Meine Damen und Herren! Sie erkennen unschwer, dass diese Voraussetzungen nicht vorliegen, und zwar abgesehen davon, dass es die die Abschiebung vollziehenden Beamten offensichtlich nicht für nötig befunden haben, eine Person vom Jugendamt hinzuzuziehen.

Eine weitere Möglichkeit, ein Kind in Obhut zu nehmen, besteht nach § 42 SGB VIII, wenn ein Kind nichtdeutscher Staatsangehörigkeit unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personen noch Erziehungsberechtigte in Deutschland aufhalten. Auch diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor. Die Mutter weilte in Dresden, wieder abgesehen davon, dass auch in diesem Fall allein das Jugendamt berechtigt gewesen wäre.

Meine Damen und Herren! Höchste Priorität genießt aufgrund des grundgesetzlich gewährleisteten Schutzes von Ehe und Familie gemäß Artikel 6, der sowohl für deutsche als auch für nichtdeutsche Staatsbürger gilt, der

Wille der Erziehungsberechtigten, in diesem Fall der Mutter des Kindes. Sobald diese widerspricht, muss das Jugendamt das Kind zurückgeben oder das Familiengericht anrufen. Der Inobhutnahme des Kindes haben in diesem Fall sowohl die Mutter, die sofort von den Mitarbeitern der Kita angerufen wurde, als auch die KitaMitarbeiterinnen, die die Fürsorgepflicht hatten, widersprochen.

Was die Polizei hier durchgeführt hat, ist im rechtlichen Sinne also eine freiheitsentziehende Maßnahme. Dies ist nach dem zitierten Gesetz nur möglich, um eine Gefahr für Leib und Leben des Kindes abzuwehren. Wie Sie wissen, lag diese keinesfalls vor.

Die Polizeibeamten haben jedoch nicht nur im Widerspruch zum Sozialgesetzbuch gehandelt, der Freistaat Sachsen hat es auch geschafft, gegen die UNKinderrechtskonvention zu verstoßen. Das ist keine neue Vorschrift. Das Übereinkommen über die Rechte der Kinder gilt in Deutschland schon seit 1992. Die Kinderrechtskonvention legt fest, dass bei allen staatlichen Maßnahmen, also auch bei Maßnahmen durch die Polizei bzw. die Ausländerbehörde, das Wohl des Kindes als ein vorrangiger Gesichtspunkt gemäß Artikel 2 zu berücksichtigen ist. Eine Entfernung aus der Kita, die zu einer Verstörung des Kindes und im Übrigen – nach Auskunft der Kita-Mitarbeiterinnen – auch der anderen Kinder geführt hat, steht wohl im diametralen Gegensatz dazu.

Ich möchte Ihnen kurz die infrage kommenden Paragrafen des Strafgesetzbuches aufzählen, gegen die die Polizeibeamten meines Erachtens möglicherweise durch ihr Verhalten verstoßen haben könnten. Ob dies zu einer Verurteilung führt, bleibt abzuwarten. Wir wollen die Beamten auch nicht vorverurteilen, um das klar zu sagen. Aber immerhin läuft das Ermittlungsverfahren. Das war in der Zeitung nachzulesen.

Die Paragrafen im Einzelnen: § 123 Hausfriedensbruch, § 235 Entziehung Minderjähriger, § 239 Freiheitsberaubung, § 239b Versuchte Geiselnahme, § 240 Nötigung in besonders schwerem Fall, da Befugnisse als Amtsträger missbraucht wurden, § 253 Erpressung.

Meine Damen und Herren! Alle staatlichen Maßnahmen sind im Lichte der Grundrechte auszulegen. Auch daran möchte ich Sie erinnern. Durch die Mitnahme eines Kindes als Pfand wurde nicht nur in den von Artikel 6 gewährleisteten Schutz von Ehe und Familie eingegriffen, sondern es wurde auch gegen das höchste Gut, das das Grundgesetz zu bieten hat, nämlich die Menschenwürde, verstoßen.

Einen Paradefall für den Verstoß gegen die Menschenwürde – in der juristischen Literatur wird es immer wieder genannt – stellt die Instrumentalisierung einer Person für andere Zwecke dar. Es gibt hier tatsächlich den begründeten Verdacht, dass der dreijährige Junge als Mittel, als Werkzeug missbraucht werden sollte, um seine Mutter zu veranlassen, sich einzufinden, um die Abschiebung vollziehen zu können. Gerechtfertigt ist dies durch nichts.

Wir fordern als Bündnisgrüne aufgrund des abzulehnenden Verhaltens der sächsischen Polizeibeamten: Verurteilen Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten, die Ingewahrsamnahme des Kindes, um ein klares Zeichen auch für künftige Maßnahmen zu setzen und um der Öffentlichkeit und der betroffenen Familie deutlich zu machen, dass ein solches Verhalten nicht toleriert wird.

Wir fordern die Staatsregierung auf, der betroffenen Angolanerin und ihrem Kind einen legalen Aufenthaltstitel zu verschaffen,

(Holger Apfel, NPD: Ja, das ist klar!)

damit der dreijährige Junge bald wieder die Kita besuchen kann.

Damit sich solche Vorfälle nicht häufen, fordern wir, dass die Staatsregierung künftige Fälle vermeidet, indem die Polizei durch interne Weisungen und Fortbildungen geschult wird.

Des Weiteren möchte ich darauf hinweisen, dass eine polizeiinterne Prüfung eingeleitet werden sollte, und dies, Herr Staatsminister Buttolo, auch schon vor Abschluss des strafrechtlichen Verfahrens. Natürlich ist es immer gut, wenn in staatsanwaltschaftliche Verfahren nicht durch eigene Verfahren eingegriffen wird. Aber ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Die strafrechtlichen Ermittlungen als solche müssen natürlich fortgeführt werden. Aber sie haben nichts mit der Aufklärung der Vorgänge sowohl in polizeirechtlicher als auch in polizeitaktischer Hinsicht zu tun, die dort schief gelaufen sind. Sie haben im Innenausschuss gesagt, dass Sie kein eigenes Verfahren einleiten wollen, jedenfalls nicht vor Abschluss der Ermittlungen. Ich halte dies auch unter dem Aspekt, dass die Polizeibeamten offensichtlich auf Weisung gehandelt haben, nicht für vertretbar. Denn so entsteht das Bild, dass die Beamten, die vor Ort gehandelt haben, die allein Schuldigen sind. Die möglicherweise verantwortlichen Dienstvorgesetzten bleiben dann schön im Hintergrund. Es ist nicht unser Ziel, die konkret Handelnden an den Pranger zu stellen.

Zur Abschiebepraxis im Allgemeinen: Sicherlich werden viele von Ihnen denken, dass die GRÜNEN einen, wenn auch bedauerlichen, Zwischenfall wieder einmal aufbauschen. Um Ihnen die Dimension des Problems vor Augen zu führen, möchte ich Ihnen noch ein paar Zahlen nennen. Im Jahr 2005 wurden in Deutschland insgesamt 17 000 Menschen auf dem Luftweg abgeschoben. In 2 000 Fällen wurde dabei Gewalt durch Fesselung angewendet. Die Dunkelziffer der Abschiebungen liegt weitaus höher, da nur die Abschiebungen durch die Bundespolizei erfasst werden. In Sachsen saßen nach Aussage der Staatsregierung im Jahr 2005 auf eine Anfrage der Linksfraktion.PDS 16 Minderjährige in Abschiebehaft. Davon saß ein 14-jähriger Junge aus Vietnam drei Monate in der JVA Görlitz, ein russisches 15-jähriges Mädchen zwei Monate in der JVA Chemnitz.

Ich denke, dass hinter einer solchen Abschiebepraxis ein bestimmtes Denken steht. Ein Jugendlicher mit deutscher

Staatsangehörigkeit müsste schon recht viel auf dem Kerbholz haben, um tatsächlich in den Jugendstrafvollzug genommen zu werden.

Ich meine, wir müssen konkrete Maßnahmen ergreifen, um solche Fälle in Zukunft möglichst zu verhindern. Die Menschen, die abgeschoben werden, sind oft nicht erst seit kurzem hier in Deutschland. Nach Erhalt des Schreibens, dass ihrem Asylantrag nicht stattgegeben wird bzw. dass ihr Aufenthalt hier nicht rechtmäßig ist, unter Umständen nach mehreren nervenaufreibenden Gerichtsverfahren, die jedes Mal für die Betroffenen ein Fünkchen Hoffnung darstellen, und einer Abschiebedrohung, die sie in Angst und Sorge versetzt, befinden sich diese Menschen oft in seelischen und körperlichen Ausnahmezuständen.

(Jürgen Gansel, NPD: Deswegen Schnellverfahren!)

Diese Menschen werden häufig durch eine Abschiebung, die zudem noch nachts passiert, bei der die Menschen aus den Betten geholt werden und schnell ihre Sachen zusammenpacken müssen, traumatisiert. Häufig sind Eltern völlig damit überfordert, wie sie ihren Kindern die Situation erklären sollen.

Um Ihnen deutlich zu machen, dass ich hier kein abstraktes Gespenst an die Wand male, möchte ich Ihnen einen konkreten Fall schildern, der uns als GRÜNEN-Fraktion Anfang dieses Jahres mitgeteilt wurde. Eine Frau aus dem Kongo, das heißt einem Land, in dem bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, saß im Januar schon seit anderthalb Monaten in der JVA Chemnitz in Abschiebehaft. Ihr vierjähriges Kind lebte bei Adoptivpflegeeltern, die nicht von der Abschiebung informiert wurden. Da die Mutter manisch depressiv ist, war sie psychisch nicht in der Lage, sich rechtzeitig um angemessenen Rechtsschutz zu bemühen.

Wir sollten daher alle zusammen Maßnahmen ergreifen, dass Abschiebungen, sofern sie nötig sind – ich erinnere daran, dass wir viele so genannte Altfälle haben, mit denen wir nach unserer Ansicht sehr viel großzügiger umgehen sollten –, möglichst „human“ zu gestalten sind. Hierzu fordern wir in unserem Änderungsantrag, eine Checkliste zu erstellen, die der Ausländerbehörde und auch den Vollzugsbeamten klare Regelungen in die Hand gibt und sie für die besondere Situation sensibilisiert. Auf den Inhalt dieser Checkliste werde ich bei der Vorstellung unseres Änderungsantrages noch einmal zu sprechen kommen.

Meine Damen und Herren! Wenn Sie weitere bundespolitische Aufregungen vermeiden wollen und es ernst meinen mit einem freundlichen, weltoffenen Sachsen und einer familienfreundlichen Zukunft – wir haben das alle vor zwei Tagen beschworen –, dann müssen Sie unserem Antrag zustimmen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN und der Linksfraktion.PDS)

Für die Linksfraktion.PDS spricht Frau Dr. Ernst.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das vorliegende Beispiel eines Abschiebeversuchs ist nicht das einzige, welches eine kritikwürdige Abschiebepraxis Deutschlands deutlich macht. Es ist allerdings ein besonders perfides Beispiel, das immerhin zu einem Ermittlungsverfahren geführt hat, und zwar von Amts wegen ausgerechnet gegen diejenigen, die die Amtshilfe geleistet haben, nämlich die Polizisten.

Lediglich der letzte Umstand – das möchte ich noch einmal deutlich machen –, der von meinem Kollegen Lichdi geschildert wurde, richtet das Scheinwerferlicht auf einen ansonsten völlig alltäglichen Abschiebevorgang.

Aufsehen erregte nicht, dass es sich hier um eine junge angolanische Mutter mit einem gerade dreijährigen Kind handelt, die ins Ungewisse abgeschoben werden soll. Aufsehen erregte – allerdings zu Recht, müssen wir sagen –, dass die Polizei diesen dreijährigen Jungen gegen die Weigerung der Erzieherinnen und gegen den Willen der Mutter gewissermaßen aus der Kita mitnahm, um auf diese Art und Weise die Abschiebung von Mutter und Kind zu erpressen. Denn darum ging es. Es ging um die Erpressung zu dieser Abschiebung. Dass damit gegen geltendes Recht verstoßen wurde, braucht, glaube ich, keine größere Erklärungen und auch keine wochenlangen Untersuchungen. Davon bin ich überzeugt.

Was vorgefallen war, wurde bereits von Herrn Lichdi eindeutig geschildert, das will ich nicht wiederholen. Fakt ist: Vier Polizisten führten ein dreijähriges Kind wie einen Schwerverbrecher ab. So sah das aus. In dem Kindernotdienst ließen sie im Übrigen dieses Kind über drei Stunden. Die mitgefahrene Erzieherin wurde wieder in die Kindertagesstätte zurückgefahren. Das Kind war dort – die Polizei war, soweit ich weiß, nicht mehr dabei –, und zwar ohne Berechtigung seitens der Eltern, ohne Berechtigung eines Bevollmächtigten. Das sind die Fakten. Einen solchen Vorgang nennt man allgemein Kidnapping.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Auf gut Deutsch!)

Auf gut Deutsch, genau.

Es ist in jedem Fall unseres Erachtens ein Straftatbestand. Es handelt sich um keine Inobhutnahme, das ist richtig, sondern um Freiheitsberaubung. Auch Erpressung kann man es nennen, weil es hier stattgefunden hat. Deshalb verlangen wir auch eine lückenlose Aufklärung sowie das Engagement des Innenministers in dieser Frage.

Meine Damen und Herren, es ist ein Vorgang, der nicht nur die Frage nach Recht und Gesetz schlechthin und allgemein zu betrachten veranlasst, sondern auch nach den Menschenrechten fragt.

Die Mitarbeiterinnen der Kita schreiben in einer Presseerklärung Folgendes: „Die Outlaw gGmbH distanziert sich ausdrücklich vom fragwürdigen Vorgehen der Polizei und hat es in einer Missbilligung gegenüber dem entsprechenden Polizeirevier zum Ausdruck gebracht. Sie haben den Jungen völlig verstört, die anderen uns anvertrauten Kinder verängstigt und deren Eltern verunsichert sowie auf unsere Mitarbeiterinnen unangemessenen Druck ausgeübt.“

Ich will sagen: Die Erzieherinnen hat es sehr bedrückt, dass es hierbei um eine Abschiebung ging. Sie haben diesen kleinen Jungen schon längere Zeit in ihrer Kindertagesstätte gehabt und gute Erfahrungen gemacht. Sie konnten nicht verstehen, dass so etwas überhaupt zustande kommen konnte.

Jenseits von Recht und Gesetz gibt es aber noch etwas anderes, was in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Verunsicherung auch der anderen Eltern, für die ein solcher Vorgang, genau wie für die angolanische Mutter, ein Albtraum ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wohl wissend, dass gegenwärtig ein Ermittlungsverfahren läuft, verlangen wir Antwort darauf, wer definitiv für diese Handlungsweise zur Verantwortung zu ziehen ist. Auch im Zuge des Ermittlungsverfahrens ist es notwendig, dass am Ende personelle Konsequenzen gezogen werden.

Ich sage es ganz offen: Ich bin der Auffassung: Wer dafür verantwortlich ist, gehört nicht in den polizeilichen Dienst und schon gar nicht an dieser Stelle.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin froh, dass es in allen Fraktionen dieses Hauses, zumindest in fast allen, dazu große Kritik gibt. Deshalb unterstützen wir vehement den Antrag der GRÜNEN, vor allem im ersten Punkt, dass eine solche Abschiebepraxis tatsächlich geächtet und verurteilt werden muss. Das sollte hier im Landtag passieren. Diesem Punkt stimmen wir auf jedem Fall zu, im Übrigen auch den anderen Teilen.

Zugleich knüpfe ich an meinen Eingangssatz an. Es ist nicht das einzige Beispiel seiner Art. Es gab und gibt eine ganze Menge Abschiebungen von Kindern, die in menschenrechtlicher Hinsicht mehr als kritikwürdig waren und sind. 1998 wurden in Dresden aus einem Asylbewerberheim ein 13- und ein 15-jähriges algerisches Kind von der Polizei abgeholt und nach Görlitz an die Grenze geschleppt. Sie sollten nach Polen abgeschoben werden, ohne dass der Vater davon wusste, ohne Erziehungsberechtigte.

2002 wurde in Bautzen eine geradezu denkwürdige Abschiebung vorgenommen, es wurden zwei Kinder und ihr Vater am helllichten Tag in Handschellen abgeholt, um sie abzuschieben. Die Mutter war nicht dabei, sie kam später dazu, hatte einen Nervenzusammenbruch. Die Mitbewohner des Hauses gingen zur Polizei und zur Ausländerbehörde und beschwerten sich über die Brutalität des Vorgehens bei der Abschiebung der Kinder.

Im selben Jahr drang ein großer Polizeitrupp in ein Dresdner Asylbewerberheim ein, um eine irakische Familie abzuschieben. Bei der Aktion wurde festgestellt, dass eines der Kinder an Leukämie erkrankt ist und im Krankenhaus lag. Dennoch sollte die Abschiebung erfolgen. Nur dem Widerstand des behandelnden Arztes war es zu verdanken, dass das schwer kranke Kind nicht ausgeliefert wurde und somit die Abschiebung nicht zustande kommen konnte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie kennen unsere grundsätzliche Position zu Abschiebungen. Sie wissen, dass wir Vorbehalte gegenüber Abschiebungen haben, da sie Flüchtlingsprobleme letztlich eher verschärfen.

(Beifall der Abg. Kerstin Köditz, Linksfraktion.PDS)

Wir stehen für den Vorrang von freiwilligen Rückführungen und für eine aktive Entwicklungspolitik in den betroffenen Ländern.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und den GRÜNEN)

Wir meinen, dass Abschiebungen in Länder, die die Sicherheit von Leib und Leben der Flüchtlinge nicht gewähren können, unverzüglich auszusetzen sind.