Protokoll der Sitzung vom 07.04.2006

Ich erteile der NPDFraktion das Wort; Herr Dr. Müller.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, dies ist eines der wenigen Themen, über die im Landtag Konsens herrschen dürfte,

(Uwe Leichsenring, NPD: Das letzte Mal nicht!)

und ich kann mich relativ kurz fassen, denn ich war immerhin der Einzige, der sich vor drei Wochen bei dem inhaltlich fast gleichen Antrag meiner Fraktion zum Inhalt geäußert hat. Aber wie mein Kollege Leichsenring schon sagte: Es muss ja nicht überall NPD draufstehen, wo am Ende NPD drin ist.

(Lachen bei der FDP)

Wir werden die Anträge der Koalitionsfraktionen ohne weiteres unterstützen.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Kollege Porsch, hören Sie lieber zu!

Sicherlich ist es nicht möglich, im Rahmen des bundesdeutschen Verfassungsrechts eine echte Pflicht einzuführen, aber ein Druck in diese Richtung ist auf alle Fälle wichtig. Wie die Sozialministerin Orosz in der letzten Sitzung sagte: Die Vorsorgeuntersuchungen werden im Normalfall von fast allen wahrgenommen, und es sind eben die ein oder zwei von zehn Kindern in den späteren Untersuchungen, die nicht erfasst werden. Wenn man einen erhöhten Druck in Richtung der Wahrnahme der Untersuchungen ausübt, kann man zumindest einige Fälle von Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch usw. verhindern.

Warum die Koalitionsfraktionen gerade die U 10, also die Jugenduntersuchung 1 herausgenommen haben, ist mir nicht ganz klar; genauso gut hätte man auf die U 1- und U 2-Untersuchung verzichten können, denn diese werden im Normalfall wahrgenommen, weil die meisten Geburten in der Klinik stattfinden und sich diese Untersuchungen in den ersten Lebensstunden bzw. Lebenstagen abspielen. Zumindest vom Inhalt her geht es in die gleiche Richtung, wie wir beim letzten Mal bereits vorgeschlagen haben.

Eine Sache wäre vielleicht noch zu überlegen; je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt, desto mehr Ideen entstehen: Wenn ich an den Fall in Brandenburg denke, bei dem nach Jahren tote Kinder irgendwo in Blumenkübeln gefunden wurden, dann müsste man vielleicht darüber nachdenken, ob eventuell auch schon eine Schwangerschaft gegenüber dem Standesamt anzeigepflichtig werden sollte – dies ist nur ein Gedanke –, um zu verhindern, dass Kinder auf die Welt kommen, die nirgendwo bekannt und nirgendwo registriert sind. Dies vielleicht als Gedanke zur Anregung für die Koalitionsfraktionen, ob man sich dahingehend einbringen könnte.

Ansonsten wird sich meine Fraktion beiden Anträgen nicht verschließen.

(Beifall bei der NPD)

Für die FDP-Fraktion Frau Schütz, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die siebenjährige Jessica stirbt im März 2005 an Unterernährung, zuvor vegetierte sie jahrelang in einem abgedunkelten Zimmer vor sich hin. Ihre Eltern hielten sie wie eine Gefangene. Auch Dennis verhungerte nach jahrelanger Vernachlässigung. Anschließend versteckte seine Mutter die Leiche. Über zwei Jahre bemerkte niemand das Verschwinden des Jungen.

Diese und andere in den Medien dokumentierten Fälle von misshandelten und vernachlässigten Kindern sind uns

allen sicher sehr präsent. Dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt, belegen Studien des Kinderhilfswerkes Unicef. Danach sterben in Deutschland jede Woche etwa zwei Kinder – hier spreche ich von den bis 20Jährigen – an den Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung. Die Zahl der weniger spektakulären und nicht publik gewordenen Fälle liegt dabei weitaus höher. Schätzungen von Unicef zufolge leben 200 000 Kinder in Deutschland in verwahrlosten Zuständen. Viele davon sind täglichen Misshandlungen ausgesetzt. Darin enthalten sind noch gar nicht die Fälle von sexuell missbrauchten Mädchen und Jungen. Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass wir im Augenblick von den sichtbaren Wunden sprechen. Wir lassen einen ebenso schrecklichen Aspekt außen vor.

Die Folgen von Gewalt und Vernachlässigung sind beträchtlich. Sie wirken sich massiv auf die körperliche und seelische Entwicklung der Kinder aus. Die betreffenden Kinder haben Probleme in der Schule und im Alltag, sie leiden unter Ängsten und haben Schwierigkeiten, Vertrauen zu anderen aufzubauen. Oft können sie ein Leben lang keine stabilen sozialen Beziehungen eingehen.

Vor diesem Hintergrund begrüßt die FDP-Fraktion die Initiative der Koalitionsfraktionen, in diesem Bereich tätig zu werden. Auch wir unterstützen den Aufbau eines wirksamen Frühwarn- und Frühfördersystems. In einer Pflichtuntersuchung für alle sehe ich dies allerdings nicht. Zweifellos spielen die frühkindlichen Vorsorgeuntersuchungen eine wichtige Rolle bei der Erkennung von Vernachlässigung und Misshandlungen. Der regelmäßige Besuch beim Kinderarzt trägt dazu bei, Verletzungen der Fürsorgepflicht zu erkennen und rechtzeitig notwendige Schritte einzuleiten, um die Situation des Kindes zu verbessern. Vor diesem Hintergrund sind Initiativen zur Steigerung der Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen zu veranlassen. Das Kindeswohl muss an erster Stelle stehen, keine Frage.

Kinder gehören zu den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft. Sie bedürfen eines besonderen Schutzes. Wir müssen Anzeichen für Vernachlässigung, Gewalt und Misshandlungen frühzeitig erkennen. Nur so können wir – ich meine dabei auch die bestehenden Institutionen – rechtzeitig im Sinne des Wohles des Kindes handeln, und nur so können wir solche tragischen Entwicklungen, wie im Fall von Jessica und Dennis, verhindern. Eltern haben nicht nur ein Recht auf die Erziehung ihrer Kinder, sondern sie unterliegen auch einer besonderen Erziehungs- und Fürsorgepflicht.

Ein Allheilmittel können die so genannten U-Untersuchungen bei der Bekämpfung von Vernachlässigung allerdings nicht darstellen. Die Abstände zwischen den einzelnen Untersuchungen sind zu groß, als dass sie eine regelmäßige Kontrolle darstellen könnten. Zwischen der U 7 und der U 8 beispielsweise liegen bis zu zwei Jahre. Aus diesem Grund muss die Zweckmäßigkeit der Untersuchungsintervalle überprüft und über deren Ausbau nachgedacht werden. Gleichzeitig bemängeln Kinder- und

Jugendärzte, dass psychische Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten nicht standardmäßig im Rahmen der U-Untersuchungen untersucht werden. Zwingend notwendig ist daher, die Sensibilisierung und Fortbildung von Kinderärzten zu fördern und auszubauen.

Mit einer verstärkten Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen ist allerdings noch nicht genug getan. Die Untersuchungen stellen sicherlich ein wichtiges Element bei der Bekämpfung von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigung dar; sie müssen aber durch weitere Mechanismen und Maßnahmen ergänzt werden. Ziel muss die enge Vernetzung von Akteuren und Einrichtungen sein, die Kontakte zu den Kindern haben. Herr Neubert hatte es bereits genannt, dazu gehören nicht nur die Kinder- und Jugendärzte, sondern auch Lehrkräfte, Erzieher und andere Kontaktpersonen von Kindern. Einrichtungen, wie Kitas, Schulen, aber auch der schulpsychologische und jugendärztliche Dienst, haben in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion. Nur durch ein solch umfassendes Frühwarnsystem können Kinder in sozialen Notlagen wahrgenommen und Hilfe rechtzeitig bereitgestellt werden.

Während in den letzten Jahren bereits die gesetzlichen Grundlagen für ein Vorgehen gegen Kindesmisshandlung und -vernachlässigung verbessert worden sind, besteht bei der Prävention immer noch großer Nachholbedarf.

(Beifall des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Sie muss im Mittelpunkt unserer Diskussion stehen. Wir wissen alle, dass es Situationen gibt, in denen Eltern ihrer Fürsorge- und Erziehungspflicht nicht nachkommen können und Kinder dabei die Leidtragenden sind. Diese Familien müssen wir stärken, indem wir sie wirksam durch Betreuungs- und Beratungsangebote unterstützen. Beispielhaft sind dabei, wie heute schon angesprochen, die Projekte in Niedersachsen und Düsseldorf. Ich möchte das inhaltlich noch einmal darstellen. Dort wird den Eltern ab dem vierten Schwangerschaftsmonat Unterstützung und Beratung angeboten. Das ist ein sehr niederschwelliges Angebot, das vor allem von Eltern wahrgenommen wird, die sich mit ihrer Situation überfordert sehen. Hebammen machen dabei den Anfang. Sie haben eine besondere Beziehung zur Mutter und können so die ersten Hilfestellungen leisten. Nach der Geburt übernehmen andere Einrichtungen die Betreuung und Beratung von Eltern und Kind. Dabei arbeiten Kinderschutzambulanzen, die sozialpädiatrischen Zentren und Kinder- und Jugendärzte eng zusammen.

Umso kritischer ist es zu bewerten, dass die Kämmerer vor Ort gerade in diesem Bereich den Rotstift ansetzen. Kürzungen im Bereich von Beratungs- und Betreuungsangeboten für Eltern sind geradezu kontraproduktiv. Wenn wir die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen im Elternsein anerkennen, dann müssen wir Eltern vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten anbieten. Damit stärken wir die Elternkompetenz und nicht dadurch, dass wir Eltern immer wieder ihre Kompetenz absprechen.

Diese Ansätze entbinden uns aber nicht von der Pflicht, Auffälligkeiten in unserem Umfeld wahrzunehmen und Hilfe anzufordern. Familien leben nicht isoliert, sondern in Nachbarschaften, in einem familiären Umfeld. In vielen Fällen gibt es Signale, wenn ein Kind von Gewalt oder Vernachlässigung betroffen ist. Ich möchte an Sie appellieren und Sie fragen: Wer von Ihnen hat sich in letzter Zeit bei Familienfeiern, auf dem Spielplatz, in der Elternversammlung zu Erziehungsfragen im persönlichen oder näheren Umfeld geäußert, vielleicht auch der Nichte, dem Schwager, der Schwester einen Erziehungstipp aus eigener Erfahrung oder einen Hinweis auf ein Hilfe suchendes Achselzucken gegeben?

Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, der Staat würde alles regeln, der Staat wird alles lösen und der Staat kann sich um alles kümmern. Der Staat kann nicht der alleinige Wächter über das Wohl der Kinder sein.

(Beifall der Abg. Dr. Cornelia Ernst, Linksfraktion.PDS, und Sven Morlok, FDP)

Wir sind als Mitmenschen, als Mitbürger unserer Gesellschaft gefragt, unsere Vorstellungen von Werten zu vermitteln und weiterzugeben. Mögen Zivilcourage und nachbarschaftliche Aufmerksamkeit keine leeren Worte bleiben.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Linksfraktion.PDS)

Die Fraktion der GRÜNEN erhält das Wort. Herr Abg. Weichert, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Normalerweise ist das der Part meiner Kollegin Frau Herrmann. Sie haben heute Früh gehört, dass sie krank ist. Deshalb habe ich das übernommen.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Aber nicht schlecht.)

Bis zu dem Punkt schönen Dank, Herr Porsch.

Erfreulicherweise, meine Damen und Herren, ist der Kinderschutz seit letztem Jahr im neu eingeführten § 8a des SGB VIII rechtlich besser verankert. Dort werden nämlich verbindliche und vor allem geschlossene Informations- und Reaktionsketten der beteiligten Helfer und Institutionen aus dem Bereich der Jugendhilfe verlangt, um ein Gefährdungsrisiko bei Kindern und Jugendlichen abzuschätzen und diese wirksam zu schützen. Diesen Paragrafen müssen wir nun in der Praxis mit Leben erfüllen. Dazu liegen uns zwei Anträge der Koalitionsfraktionen vor.

In dem ersten Antrag, meine Damen und Herren, geht es um ein Konzept gegen Kindesmissbrauch und -misshandlung. Das ist ein sinnvoller Schritt, um § 8a mit Inhalt zu füllen. Solch ein Konzept ist sehr wünschenswert, und noch viel besser wäre es, wenn Sie einen Zeitplan nennen würden, bis wann dieses Konzept erstellt sein wird. Die GRÜNE-Fraktion hat überlegt, mit einem

Änderungsantrag einen Termin festzusetzen. Wir tun das aber nicht, weil wir aus fachlichen Gründen ein Problem mit den Begriffen und grundsätzlich mit dem Strickmuster Ihres Antrages haben. Es geht hier immer wieder um drei Begriffe, nämlich Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch und Kindesvernachlässigung. Im vorliegenden Antrag werden wechselweise immer zwei der drei Tatbestände verwendet, was in diesem Fall nicht zur Verständlichkeit beiträgt, obwohl es gerade hier wichtig wäre, klar zu sagen, worüber wir sprechen. Bitte verwenden Sie in Zukunft das in der Fachliteratur und in Fachkreisen übliche Begriffspaar Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung.

Warum ist das Strickmuster falsch? Haben wir nicht von Frau Staatsministerin Orosz in der Fachregierungserklärung am Mittwoch gehört, dass wir Familien stärken müssen? Eltern sollen unterstützt werden, damit sie auch in schwierigen Situationen Eigenverantwortung übernehmen können. Tun wir das, wenn wir im Zusammenhang mit einem Konzept gegen Kindesmissbrauch und Kindesvernachlässigung mit der Kriminalisierung von Eltern und Familien anfangen und nach der Zahl der strafrechtlich verfolgten Fälle fragen? Sie steigen in das Thema von der falschen Seite ein, meine Damen und Herren. Sie werden deshalb keine realistische Einschätzung zu den tatsächlichen Fallzahlen bekommen, wenn Sie von vornherein die Strafrechtsbrille aufsetzen. Welche Stärken und Kompetenzen können Sie denn durch die Brille noch bei den Familien erkennen?

Der Deutsche Kinderschutzbund spricht bundesweit von 500 000 Fällen im Falle von Kindesvernachlässigung. Wäre es angesichts dieser Zahl nicht besser, zu handeln, solange noch kein Straftatbestand vorliegt? Dazu brauchen wir ein Konzept,

(Beifall bei den GRÜNEN und der Linksfraktion.PDS)

zu dem als Partner unverzichtbar die Eltern gehören.

Meine Damen und Herren! Wir möchten über den Punkt 1 des Antrages gesondert abstimmen lassen, damit wir uns dort enthalten können. Den Punkten 2 bis 4 können wir zustimmen.

Zum Thema Vorsorgeuntersuchungen: In diesem Antrag geht es Ihnen darum, prüfen zu lassen, inwieweit man auf Bundes- und Landesebene die derzeit neun Vorsorgeuntersuchungen, auf die Kinder von null bis sechs Jahren einen Rechtsanspruch haben, verbindlicher gestalten könnte. Eine Sache ist eben entweder verbindlich, oder sie ist es nicht. Welche Zwischenstufen mit diesem „verbindlicher“ gemeint sein werden, darauf sind wir sehr gespannt.

Bislang zeigen die Statistiken des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung, dass die Vorsorgeuntersuchungen bis zum zweiten Lebensjahr – das entspricht U 1 bis U 7 – von über 90 % der Eltern für ihre Kinder in Anspruch genommen werden. Danach ist ein starker Einbruch zu verzeichnen. Hier entsteht natürlich die

Frage, warum dem so ist. Wenn wir in diesem Bereich an Stellschrauben drehen, müssen wir uns über die Inhalte der Untersuchung und zu Fragen der Kosten verständigen, denn bislang werden Vorsorgeuntersuchungen nicht von den Eltern, sondern bei Einhaltung der terminlichen Fristen von den Krankenkassen bezahlt. Zu diesem Problem hat sich Frau Herrmann in vergangenen Plenen geäußert. Wir werden hierzu gern weiter diskutieren, wenn uns am 30. Juni der Bericht der Staatsregierung vorliegt. Deshalb können wir diesem Antrag zustimmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Gibt es aus den Fraktionen in der zweiten Runde neuen Redebedarf? – Linksfraktion.PDS, Herr Bartl.