Protokoll der Sitzung vom 07.06.2007

Sie ist nicht in Sachsen entstanden, diese Konjunktur. Wie sie aber und für wen sie in Sachsen ankommt, dafür kann die Staatsregierung schon etwas. Da gönne ich Ihnen die positiven Aspekte durchaus. Aber das Schicksal der Langzeitarbeitslosen und das Schicksal der strukturschwachen Regionen zeigen uns, dass die Quantität der Arbeitslosigkeit zwar sinkt, ihre Struktur aber weitgehend gleichbleibt.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Genau für die Struktur aber ist die Staatsregierung verantwortlich zu machen. Dieser Verantwortung wird sie nicht gerecht. Wir registrieren unzureichende Arbeitsförderungspolitik, faktische Vernachlässigung der strukturschwachen Gebiete und eine Bildungspolitik, die vor allem männliche Langzeitarbeitslose und zu wenig Facharbeiter produziert.

Jetzt frage ich mich und frage für meine Fraktion: Für wen hat der Ministerpräsident eigentlich heute gesprochen und für wen macht die Koalition Politik?

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS – Zuruf des Staatsministers Stanislaw Tillich)

Für Sie, Herr Tillich, das ist richtig. Sie gehören zu den Besserverdienenden. Das war in Ordnung. Aber die Rede war für mich eine Bestätigung dafür, dass der Ministerpräsident die Lebensentwürfe und Lebenslagen vieler Menschen in diesem Land offensichtlich nicht kennt oder nicht zur Kenntnis nehmen will. Nicht jeder ist Minister, Herr Tillich.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Hat er denn für jene 25 % gesprochen, die in Ostdeutschland dem sogenannten abgehängten Präkariat zuzuordnen sind? Was hat er über Armut gesagt? Was hat er über Existenzangst und Angst vor Erwerbslosigkeit gesagt, was über die Verwirklichung von Gerechtigkeit für alle?

(Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: Ist für die CDU kein Thema!)

War das eine Rede, die darauf Bezug nahm, was eine alleinerziehende Mutter mit oder ohne Arbeit in diesem Land bewegt? Über solche Mütter steht übrigens auch nichts im Koalitionsvertrag, obwohl ihr Anteil an den Müttern seit 1996 immerhin um 7 % gestiegen ist.

Es bleibt abzuwarten, was der bevorstehende Lebenslagenbericht zur Situation der Ein-Eltern-Familien aussagen wird, nachdem Frau Orosz in ihrer Regierungserklärung vom 5. April vergangenen Jahres darauf hinwies, dass diese öfter von Armut betroffen sind als Ehepaarfamilien. Es bleibt auch abzuwarten, ob der Bericht aufgreifen wird, dass die Zahl der Teenagerschwangerschaften in den letzten Jahren angestiegen ist, obwohl die Altersgruppe zahlenmäßig kleiner wurde. Es wäre dringend erforderlich, denn das sind Lebenslagen, die vor Jahren nicht in dem Maße aufgetreten sind. Zu beiden Zielgruppen hat die Staatsregierung in dieser Wahlperiode hinsichtlich konkreter Maßnahmen bisher beharrlich geschwiegen.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Gab es ernsthafte Ursachenforschung, warum wir in vielen ländlichen Regionen inzwischen viel mehr junge Männer als Frauen haben, Männer mit eher schlechten als guten Qualifikationen? In den Veröffentlichungen der Demografiekommission der Staatsregierung jedenfalls steht dazu nichts.

Hat der Ministerpräsident schon gehört, dass viele Menschen in Sachsen diese Politik als realitätsfern und lebens

fremd bezeichnen? Immer öfter hört man doch, geht man aufmerksam durchs Land: Die da oben sind abgehoben! – Der Satz ist schlimm, denn er bedeutet die Zuschreibung von hoffnungsloser Verlorenheit für beide Seiten. Für die da oben, weil ihnen die Fähigkeit zur Problemlösung aufgrund mangelnder Kenntnis der wahren Lebensverhältnisse abgesprochen wird – und Ihre Rede, Herr Ministerpräsident, war wieder ein Baustein dafür. Und es ist schlimm für die da unten, weil sie die Realität kennen, aber nicht wissen, wie sie die gestörte Wahrnehmung der Mächtigen durchbrechen sollen.

Der Wert der heutigen Halbzeitbilanz, Herr Ministerpräsident, war äußerst gering. Es ist auch eine ernsthafte Abrechenbarkeit der Regierungsarbeit von Anfang an schwierig, weil die Koalitionspartner nicht ein einziges in Zahlen gefasstes Ziel in ihre Vereinbarung geschrieben haben. Es fehlt schlicht jede Angabe, mit deren Hilfe der Erfolg oder der Misserfolg ihrer Politik überhaupt festgestellt werden könnte. Es gehört dann natürlich ein gehöriges Maß an Lässigkeit dazu, als Erfolg zu verbuchen, wofür es nie eine Messlatte gab. Wie sagt Gordon in „Wallensteins Tod“? – „Leutselig mach das Missgeschick.“

(Heiterkeit bei der Linksfraktion.PDS)

Nun, der Ministerpräsident mag sich mit Franzens Worten aus Schillers „Räuber“ trösten: „Ich habe mich nie mit Kleinigkeiten abgegeben.“

(Heiterkeit bei der Linksfraktion.PDS)

Den von Politik Betroffenen machen aber gerade die Kleinigkeiten zu schaffen, Kleinigkeiten zum Beispiel, die man sich mit Hartz IV nicht mehr leisten kann, wie zum Beispiel ein ordentliches Schulbrot oder den Schulausflug für die Kinder, oder Kleinigkeiten, die man selbst Kindern wegnehmen will, wie zum Beispiel Geld, das sie zur Jugendweihe, Konfirmation oder Firmung bekommen haben.

Mein Gott, vom Ministerpräsidenten erhielten wir heute einen Geschäftigkeitsbericht, weiter nichts. Nirgends ist feststellbar, inwieweit Zahlen und Ergebnisse tatsächlich der Leistung der Staatsregierung geschuldet sind und nicht doch eher anderen Umständen, die diese Regierung nicht positiv für sich verbuchen kann. Denn, meine Damen und Herren, die Prozentzahl arbeitsuchender Frauen sinkt auch dann, wenn viele von ihnen schon weg sind. Das Bruttoinlandsprodukt steigt auch dann an, wenn mehr Menschen sterben als geboren werden.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

In einigen Fällen bin ich sogar sicher, dass die Koalition Erreichtes vorsätzlich oder fahrlässig wieder verspielt. Als es bis 1994 nur eine Gleichstellungsbeauftragte, aber keine Ministerin dafür in Sachsen gab, bewegte sich das Volumen für originäre Frauen- und Gleichstellungsarbeit zum Teil weit unter einer halben Million Euro. Zwischen 1994 und 2002 gab es ein Gleichstellungsministerium. Im Haushalt des Jahres 2000 registrieren wir mit über

1,3 Millionen Euro den bisherigen Spitzenwert für Gender- und Gleichstellungspolitik. Danach wurde das Ministerium abgeschafft und zur Leitstelle für Gleichstellung von Frau und Mann im Sozialministerium umgewandelt. Im Doppelhaushalt 2003/2004 stehen immerhin noch 1,2 Millionen Euro. Aber im Jahr 2002 kam Ministerpräsident Milbradt und seitdem nimmt der Abwärtskurs seinen ungezügelten Lauf. Bei Herausrechnung der Mittel für die Förderung von Frauen im ländlichen Raum zum Beispiel sowie für die Gewaltschutzarbeit stehen 2008 gerade einmal noch knapp 65 % des Budgets des Jahres 2000 zur Verfügung.

Ein Skandal für sich ist ohnehin die Förderung der Frauen im ländlichen Raum. Der Plan für 2008 enthält noch 900 000 Euro – das sind circa 70 % gegenüber 2003 und 2004 – und mit der Kreisgebietsreform wird die Staatsregierung weiter an der falschen Stelle sparen. Schon jetzt arbeiten viele hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte in den Landkreisen und Städten nicht in Vollzeit – dafür muss eine halbe Stelle reichen – und nach der Zusammenlegung der Kreise bleibt es nach Landkreisordnung bei einer Gleichstellungsbeauftragten bei ungleich größerem Einzugsgebiet. Einen Vorschlag zur Kompensation gibt es im Gesetzentwurf nicht.

Ich weiß nicht, womit die Staatsregierung diesen Niedergang begründen will. Die Berufung auf sinkende Einwohnerzahlen, insbesondere auf sinkende Anteile von Frauen, wäre an dieser Stelle geradezu zynisch. Zu Ende gedacht hieße es nämlich: Alle Frauen wegschicken, dann spart man alles.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Übrigens halte ich den Leitantrag, den die Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -minister in Potsdam verabschiedet haben, für äußerst lobenswert. Genau genommen ist er aber – bei all den schönen Vorhaben, die dort drinstehen – zunächst nur ein Indiz dafür, wie die Dinge in Gleichstellungsfragen überall noch im Argen liegen. Da kann man sich noch viel vornehmen.

Mit den Geschlechterfragen stehen Sie auf Kriegsfuß, Herr Ministerpräsident, und das ist an vielen Stellen spürbar. Die staatlich bezahlten sogenannten Eliten sind in übergroßer Mehrheit männlich, angefangen von der Regierung über die obere Leitungsebene in der Verwaltung, von Justiz und Polizei ganz zu schweigen, bis hin zu den Professoren und Leitern von Forschungsinstituten.

(Peter Wilhelm Patt, CDU: Sogar die Oppositionsführung! – Der Redner lacht.)

Herr Patt! Unsere Fraktion ist immerhin quotiert – das kann man von Ihrer nun wahrlich nicht sagen –

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

und in unserer Fraktion sind sehr viele junge Frauen. Wenn Sie dann alt und tatterig sein werden, werden Sie sich hier wundern, was wir für Oppositionsführerinnen haben werden.

Aber erst dann, wenn Leute wie Sie, Herr Patt, merken, dass Frauen fehlen, wird die Sache natürlich zum Problem erhoben. Ganz gescheiten Bürgermeistern fällt dann ein, dass man sich doch Frauen eigentlich kaufen könnte. 2 000 Euro das Stück. Wo leben wir eigentlich?!

(Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: In Freital!)

„Mit Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens“, – das weiß Talbot in Schillers „Jungfrau von Orleans“. Die Prioritätsachse Gender Mainstream ist in den Operationellen Programmen der Europäischen Strukturfonds nicht mehr vorhanden, im EFRE war sie nicht drin und im ESF gibt es sie nicht mehr. Wirtschaftsminister Jurk assistiert hier ganz offensichtlich und unrühmlich beim Abbau. Mag ja sein, dass die Regierung ein Gender-Mainstreaming-Konzept hat, aber der Umsetzungszeitplan ist wegen Zeitverzuges längst obsolet. Die Verantwortung dafür sehe ich allerdings beim Regierungschef.

Der Geschlechterfrage wird auch dann nicht nachgegangen, wenn es eigentlich unverzichtbar ist. Sachsen hat zwar den Ruf, Vorreiter in der Thematisierung des demografischen Wandels zu sein, ignoriert aber, dass die Frauen bei der Bevölkerungsentwicklung nun mal den Ausschlag geben. In den Empfehlungen der Expertenkommission der Staatsregierung zur Bewältigung des demografischen Wandels im Freistaat gibt es nicht eine einzige geschlechterdifferenzierte Analyse. Es fehlt also dort das entscheidende Kriterium. Was soll man dann damit anfangen?

Die Studien des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung sprechen eine deutlichere Sprache, insbesondere die neueste mit dem Titel „Not am Mann“. In vielen Regionen ist inzwischen aufgrund der selektiven Abwanderung junger Frauen ein spürbarer Männerüberschuss vorhanden. Das hat sich bis in Regierungskreise herumgesprochen. Die Hauptursache für die überproportionale Abwanderung von Frauen besteht nach Ansicht der Autoren der Studie in den enormen Bildungsunterschieden zwischen den Geschlechtern. Die sind auch in Sachsen groß. Beispielsweise sind bei einem sowieso schon hohen Anteil an Förderschülern 63 % männlich. Das Gegenstück sind die Studienberechtigten. Bei einer an sich schon zu niedrigen Quote sind Männer mit nunmehr 45 % deutlich unterrepräsentiert.

(Zuruf von der Linksfraktion.PDS: Hört, hört!)

Dümmer sind Jungen aber keineswegs, da gebe ich dem Kultusminister ausnahmsweise einmal recht.

(Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: Oh!)

Aber die Jungen haben oft noch alte Bilder im Kopf, zum Beispiel vom Helden des Kampfes und der körperlich schweren Arbeit oder davon, dass praktische Fähigkeiten wichtiger sind als soziale. Das ist nicht verwunderlich, denn sie bekommen es nach wie vor nicht besser vorgelebt und in den Massenmedien vorgegaukelt. Was Jungs brauchen, sind neue Rollenbilder. Das Festhalten an traditionellen männlichen Vorstellungen wirkt sich nega

tiv auf das Bildungsniveau der Jungen und Männer aus. Soziale Kompetenz und Fürsorge sind eben keine weibliche Gefühlsduselei, sondern Eigenschaften aller Menschen, männlicher und weiblicher, und sie würden den Jungs künftig mehr denn je die Chance vergrößern, eine Arbeit in ländlichen und deindustrialisierten Regionen zu finden.

Ich sage ganz ausdrücklich, dass es wichtig ist, dass Jungen beim Umdenken unterstützt werden.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Das sächsische Bildungssystem ist dafür jedoch kaum geeignet. Freilich nicht, weil da zu viele Frauen arbeiten, wie der Kultusminister bemerkt hat. Wir brauchen vielmehr Ganztagsschulen, aber Ganztagsschulen, die an ein ganzheitliches Konzept gebunden sind, und keine zusammengewürfelten Ganztagsangebote oder vielleicht nur den ganzen Tag Schule.

(Starker Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Wir brauchen Schulen, in denen sehr viel mehr soziale Kompetenzen erlernt und trainiert werden. Wir brauchen längeres gemeinsames Lernen. Mit der frühen Trennung nach der Grundschule haben die Mädchen erfahrungsgemäß viel weniger Probleme als die Jungen. Je eher diese Trennung verschwindet, Herr Kultusminister, desto weniger Folgekosten durch schlechte Bildung fallen für alle an,

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

desto besser wird sich dann Sachsen auch wieder selbst mit Fachkräften versorgen können.

Sachsen braucht ganze Schulen für ganze Kerle, ganze Kerle mit Kopf, Gefühl und auch mit Kraft!