Protokoll der Sitzung vom 09.07.2014

(Beifall bei den LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Staatsministerin Christian Clauß: Sie drehen mir das Wort im Munde herum!)

Frau Staatsministerin, Sie sagten, wir setzten das alles schon um. Ich war am Montag bei einer Selbsthilfegruppe Angehöriger zu Besuch und möchte vortragen, was man mir dort für die Debatte mitgegeben hat: Sie wünschen sich eine Demenzstrategie mit dem Schwerpunkt auf sozialer Daseinsvorsorge, unabhängig von wirtschaftlichen Voraussetzungen. Sie wünschen sich ein Netzwerk für die Versorgung von Menschen mit Demenz, die noch nicht pflegebedürftig sind. In der Zeit, in der gesetzliche Betreuung zu organisieren ist, Diagnosen eingeholt und

Pflegestufen beantragt werden müssen sowie soziale Betreuung zu organisieren ist, brauchen Angehörige und Betroffene Lotsen und Beratungen. Mir wurde zudem mitgegeben, dass die Verbesserung der Diagnosemöglichkeiten über einen Ausbau der Gedächtnisambulanzen erfolgen soll. Gewünscht werden ein Unterstützungsnetzwerk als kommunale Verpflichtung, eine Leitstellendemenzhilfe, die Finanzierung unabhängiger Einrichtungen zur Beratung und Begleitung der Familien. Nicht zuletzt geht es um die soziale Absicherung pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz und um die Verbesserung der Hilfen für die Sicherstellung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – ein Punkt, der hier noch dazugehört hätte.

Das würde ich Ihnen gern noch mitgeben, auch wenn Sie dem Antrag heute leider nicht zustimmen können. Tun Sie etwas! Bündeln Sie das, was Sie bereits tun! Entwickeln Sie es weiter! Dann werden wir in Sachsen auch in Zukunft in Würde alt werden können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Es gibt noch eine Wortmeldung der Staatsministerin Clauß. Frau Staatsministerin, Sie haben natürlich das Recht zu reden.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Ich kann das, was Frau Neukirch in ihrem Schlusswort gesagt hat, so nicht stehen lassen. Auch wenn ich jetzt Schärfe in die Diskussion hineinbringe, möchte ich doch Folgendes betonen: Ich habe nicht von „Gnade“ in dem von Frau Neukirch intendierten Sinne gesprochen. Ich habe von „Gnade“ gesprochen, wenn Demenzkranke Menschen um sich herum haben, denen sie vertrauen können und die sie verstehen. Nichts anderes habe ich gemeint. Sie brauchen keine Gnade, was ein Gesetz anbelangt.

(Lebhafter Beifall bei der CDU, der FDP und der Staatsregierung)

Meine Damen und Herren! Ich stelle nun den Antrag in der Drucksache 5/14539 zur Abstimmung und bitte bei Zustimmung um Ihr Handzeichen. – Die Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Bei keinen Stimmenthaltungen und zahlreichen Dafür-Stimmen ist der Antrag in der Drucksache 5/14539 mehrheitlich nicht beschlossen

worden.

Der Tagesordnungspunkt ist beendet.

Meine Damen und Herren! Wir kommen zu

Tagesordnungspunkt 10

Ermittlung des gesetzgeberischen Handlungsbedarfs zur Umsetzung

der UN-Behindertenrechtskonvention im Freistaat Sachsen

Drucksache 5/14034, Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Meine Damen und Herren Abgeordneten, wie Sie sehen, unterstützen uns zu diesem Thema wieder Gebärdendolmetscher, die ich hiermit im Sächsischen Landtag herzlich willkommen heiße.

(Beifall)

Die Fraktionen können zu dem Antrag Stellung nehmen. Die Reihenfolge in der ersten Runde: GRÜNE, CDU, DIE LINKE, SPD, FDP, NPD; Staatsregierung, wenn gewünscht.

Ich erteile für die einreichende Fraktion Frau Herrmann das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass durch den Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern auch die Menschen, die an den Fernsehern diese Debatte zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in

Sachsen verfolgen wollen, die Möglichkeit dazu haben.

Ich gehe davon aus, dass wir alle hier im Hohen Haus die Erarbeitung und Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention begrüßen, dass wir uns nach Kräften bemühen, sie auch in Sachsen umzusetzen, und dass wir die Ratifizierung als Meilenstein für die Rechte von Menschen mit Behinderung in Deutschland ansehen.

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und der SPD)

Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass die durch die UNBRK anfänglich ausgelöste Euphorie sichtlich zurückgegangen ist – leider auch in Sachsen. Ich frage mich, warum dem so ist.

Eine Erklärung – zumindest für Sachsen – ist, dass die Staatsregierung offenbar nicht weiß, was es für einen Unterzeichnerstaat bedeutet, eine Konvention zu ratifizieren. Der Weltvertrag, den die UN-Konvention darstellt, erlangt den Rang eines einfachen Bundesrechts, also den Rang eines Gesetzes. An dieses Gesetz ist auch der Freistaat Sachsen gebunden, und das ohne Einschränkung.

In diesem Gesetz heißt es – jetzt komme ich zum Anliegen unseres Antrags –: „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderung ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten, a) alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen und b) alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnun

gen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung darstellen.“

Mit unserem Antrag fordern wir die Staatsregierung auf, eine Expertise in Auftrag zu geben, in der das Landesrecht des Freistaates daraufhin untersucht wird, welcher gesetzgeberischer Handlungsbedarf, gemessen am Maßstab der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung, besteht.

Wenn Sie jetzt fragen, warum das notwendig ist, dann erinnern Sie sich an die Diskussion zur UN-BRK in dieser Legislaturperiode. Es ist notwendig, weil Sachsen geltendes Recht zum Teil einfach ignoriert.

Die Staatsregierung hat sich gegen die systematische Umsetzung der UN-Konvention mittels eines Aktions- und Maßnahmenplans entschieden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat eben auch zur Folge, dass bisher keine umfängliche Prüfung des Landesrechts hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit der Konvention stattgefunden hat.

Diese systematische Prüfung ist jedoch erforderlich, da die Ursache von Benachteiligung von Menschen mit Behinderung häufig auch in sächsischen Gesetzen liegt. Verwiesen werden kann exemplarisch auf das Schulgesetz, auf das Wahlgesetz oder auch auf das PsychKG, das wir morgen novellieren werden. Durch das Nichthandeln seitens der Staatsregierung wird Menschen mit Behinderung Teilhabe vorenthalten, und es wird jeweils dem oder der Einzelnen aufgebürdet, im Klageweg die Ansprüche durchzusetzen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich nicht für hinnehmbar.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Würde die Staatsregierung die UN-BRK ernst nehmen, dann hätten wir sicher alle schon einmal etwas von unserer staatlichen Anlaufstelle für die UN-BRK, die beim SMS angesiedelt ist, gehört. Ich wusste nichts davon, und ich nehme an, das geht den allermeisten von Ihnen ganz genauso. Ich konnte aber im 5. Bericht zur Lage von Menschen mit Behinderung nachlesen, dass es diese Stelle bei der Staatsregierung gibt. Dort steht dann auch, dass im Freistaat Sachsen kein staatlicher Koordinierungsmechanismus eingerichtet worden ist.

(Martin Dulig, SPD: Hört, hört!)

Genau das ist das Problem.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Die Staatsregierung hat kein Konzept für eine strukturierte und koordinierte Umsetzung der UN-Konvention.

Bereits im Jahr 2010 hatten wir im Plenum mit einem Antrag die Erarbeitung eines Aktionsplanes gefordert. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an die Worte der Ministerin damals: Wir brauchen keinen Aktionismus! – Aktionismus wollten auch wir nie. Uns ging es vielmehr um ein planvolles und abgestimmtes Handeln, und das ist das Gegenteil von Aktionismus.

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und der SPD)

Der Freistaat Sachsen ist mittlerweile das einzige Bundesland, in dem es einen solchen Plan nicht gibt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine eindeutige Fehlentscheidung.

Auch deshalb fragt aktuell der UN-Fachausschuss, vor dem die Bundesrepublik Deutschland zum Umsetzungsstand der UN-Konvention Rede und Antwort stehen wird, bei zahlreichen Themen nach, für die die Länder zuständig sind. Dieser Fachausschuss hat Aufklärungsbedarf signalisiert und 25 Fragen aufgelistet. Ich möchte zwei davon hier zitieren.

Der Fachausschuss hat Deutschland aufgefordert, für jedes der 16 Bundesländer „Informationen über das Verständnis und die Erfüllung ihrer rechtlichen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihre Aktionspläne zur Umsetzung einschließlich darüber, wie den Menschenrechten der am stärksten marginalisierten Gruppen, zum Beispiel der in Einrichtungen lebenden Menschen, Rechnung getragen wird, zu geben.“ Das war eine Frage.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Eine weitere Frage war: „Bitte erläutern Sie, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um sicherzustellen, dass sowohl bestehende als auch neue Rechtsvorschriften das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung einhalten. Wie haben die Bundesregierung und die Länderregierungen ihre bestehenden Gesetze und neuen Gesetzentwürfe mit den Verpflichtungen aus dem Übereinkommen in Einklang gebracht?“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Antworten, die hierzu auch der Freistaat Sachsen liefern muss, werden sicherlich nicht glanzvoll sein. Ich möchte Ihnen das anhand einiger Beispiele verdeutlichen.

Zum Schulgesetz und zur Schulintegrationsverordnung: Bis heute wird auf die diskriminierende Schulintegrationsverordnung und das Schulgesetz verwiesen, um Kindern mit Förderbedarf den Schulbesuch an einer Regelschule zu verweigern. Die Mitglieder des Petitionsausschusses wissen, dass uns erst kürzlich dazu wieder eine Petition erreichte. Ein Schüler, der bis zur 4. Klasse integrativ an einer Regelschule unterrichtet wurde, wollte ab der Klasse 5 gemeinsam mit seinen Freunden lernen. Die zuständige Behörde lehnte jedoch die Finanzierung eines Schulassistenten ab und die Sächsische Bildungs

agentur verwies den Schüler dann unter Hinweis auf die Schulintegrationsverordnung auf eine Förderschule. Auch die Bereitschaft der Mutter, selbst die Schulassistenz zu übernehmen, hat nicht zu einer Änderung geführt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist einfach nicht länger hinnehmbar. Wir diskutieren seit zwei Legislaturperioden über Integration und Inklusion, und immer wieder erreichen uns solche Petitionen.

Das Landeswahlgesetz, das Kommunalwahlgesetz, die Landeswahlordnung: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten dazu schon im letzten Plenum diskutiert. Die gegenwärtigen wahlrechtlichen Vorschriften, die insbesondere Menschen mit Behinderung die Wahlausübung ermöglichen sollen, greifen in Sachsen zu kurz. Die Vorschriften zur Barrierefreiheit der Wahlräume entfalten keine ausreichende Wirkung. Die gegenwärtigen Vorschriften, die zum Beispiel die Unterstützung durch Dritte beim Wahlvorgang vorsehen, sind restriktiv formuliert und berücksichtigen vor allem nicht, dass es über das Nicht-Lesen- bzw. Nicht-Schreiben-Können hinaus auch andere Verständnisprobleme geben kann, die eine weitere Unterstützung an der Wahlurne erforderlich machen.