Protokoll der Sitzung vom 17.04.2013

(Beifall bei den LINKEN und der Abg. Elke Herrmann, GRÜNE)

Eltern, die es nicht leisten können, ihr Kind in der Schule zu unterstützen, wird nicht dadurch geholfen, dass man mit ihnen nur Gespräche führt und das Kind trotzdem das Schuljahr wiederholen muss oder am Ende auf der Förderschule landet.

Herr Bläsner, die FDP spricht so gerne über Leistung und Leistungswille und hat sogar das Sitzenbleiben an Mittelschulen als Chance hervorgehoben. Frau Giegengack ist schon darauf eingegangen, aber ich will trotzdem noch einmal ein Beispiel aus einer Dresdner Mittelschule bringen. Sie befindet sich mitten in der Stadt, und auf einer Fachtagung vor zwei Jahren hat die Schuldirektorin Folgendes über eine 9. Klasse zum Besten gegeben:

„Von den 22 Schülern sind vier Schüler Integrationsschüler, ein Autist, ein körperbehinderter Schüler, zwei verhaltensauffällige Schüler. Fünf Schüler sind Hauptschüler, die mit den Hauptschülern der Parallelklasse gemeinsam in den Differenzierungsfächern eine Hauptschulgruppe bilden. Zwei weitere Schüler haben eine so schwere Lese

Rechtschreib-Schwäche, dass sie im Unterricht einen Computer benutzen müssen, damit sie selbst und der Lehrer lesen können, was sie schreiben. Weitere acht Schüler sind Kinder mit Migrationshintergrund. Viele davon haben erst in unserer Schule Deutsch gelernt. Jeder Lehrer muss sich darauf einrichten, dass diese Kinder, bei denen zu Hause in der Regel die Muttersprache gesprochen wird, einen viel schwierigeren Zugang zum Spracherwerb haben als andere. Es bleiben vier „normale“ Schüler, von denen einer überaltert ist, also auch schon eine gebrochene Schulkarriere durch Misserfolge und Wiederholung einer Klasse bzw. sogar einen Wechsel vom Gymnasium hinter sich hat.“

Herr Bienst, was sollen in einer solchen Klasse mit solchen komplexen Problemlagen Gespräche und Zusatzaufgaben bringen? – Sie bringen nichts, außer dass weitere Schüler im Schulsystem hängen bleiben

(Zuruf des Abg. Lothar Bienst, CDU)

und die Schule ohne Abschluss verlassen. Das ist das eigentliche Problem, dass die sächsische Bildungspolitik auf dem Grundsatz der Passgenauigkeit beruht. Das ist auch eine Lieblingsvokabel in Ihren Argumentationen. In unserem Land müssen leider die Schülerinnen und Schüler zur jeweiligen Schulform passen und nicht umgekehrt.

Das heißt, die Strukturen sind nicht für die Menschen da, sondern die Menschen müssen an die Strukturen angepasst werden. Da sagen wir: Das ist falsch!

(Beifall bei den LINKEN und der SPD)

Dieser Ansatz führt auch im internationalen Vergleich zur falschen Auswahl der Schülerinnen und Schüler und ist sozial hoch selektiv. Das wurde in allen möglichen Bildungsstudien kritisiert.

Gerade aus der Sicht der Fachkräftesicherung – ich hatte es vorhin schon angesprochen – ist das, was Sie hier vertreten haben, Herr Bienst, volkswirtschaftlicher Unsinn. Wir brauchen jeden und dürfen nicht noch Zusatzkosten für unser Bildungssystem produzieren, um diejenigen, die es in der normalen Schule nicht geschafft haben, zu fördern, damit sie überhaupt im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ankommen.

Deshalb sage ich zum Abschluss für unsere Fraktion: Ja, es muss die Möglichkeit zur Klassenwiederholung geben. Wer eine Klasse wiederholen möchte, weil er oder die Eltern der Meinung sind, dass es dem Schüler dient, der sollte die Möglichkeit haben. Aber wir lehnen das Sitzenbleiben als Problemlösung, die keine Lösung ist, ganz deutlich ab.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN und der SPD)

Frau Klepsch sprach für die Fraktion DIE LINKE. Gibt es Redebedarf bei der SPD-Fraktion in dieser zweiten Runde? – Ja. Bitte, Frau Kollegin Stange.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Streichung des Förderunterrichts und der Teilungsstunden, Streichung von Deutsch als Zweitsprache in Klasse 5 und Klasse 6 bei Unterrichtsausfall ist heute gang und gäbe. 28 Schüler in fünften Klassen in sozialen Brennpunktgebieten wie Gorbitz oder in Leipziger Stadtteilen sind heute gang und gäbe.

Sie sprechen von einem leistungsorientierten Schulsystem und meinen damit eine Gleichmacherei. Sie sagen dem Elefanten genauso wie dem Affen, er solle die gleiche Aufgabe lösen, nämlich auf den Baum klettern. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dieser Art und Weise von Politik werden Sie nie die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen können, weil nämlich das Thema der leistungsdifferenzierten Unterrichtung genau das Thema ist, über das wir uns in wenigen Wochen wieder unterhalten werden, warum Kinder mit Behinderung heute nicht in unsere weiterführenden Schulen kommen, zum Beispiel, wenn sie geistig behindert sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Genau dieses Schulsystem stülpen Sie jetzt über das sächsische Bildungssystem, indem Sie es am Sitzenbleiben festmachen. Sie machen Kästchen. Sie formieren die Schüler gleichermaßen, und Sie werden damit scheitern. Sie scheitern schon heute damit, weil 10 % der Schüler dieses Schulsystem ohne Abschluss verlassen, weil die Wirtschaft beklagt, dass diejenigen, die aus dem Schulsystem mit einem Hauptschulabschluss und einem schlechten Realschulabschluss herauskommen, in der Ausbildung und im Betrieb nicht zu gebrauchen sind.

(Beifall bei der SPD)

Damit ist dieses Schulsystem nicht einmal leistungsfähig. Es ist auch nicht leistungsorientiert, und es stellt keine Herausforderung für die Schüler dar, weil es nämlich die Schüler über einen Kamm schert. Sie machen eine Gleichmacherei in diesem Schulsystem!

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Ich kann Ihnen nur raten: Machen Sie schnell Schluss damit, sonst scheitert dieses Schulsystem nicht erst in den übernächsten Jahren und in der Enkelgeneration, sondern Sie scheitern schon in den nächsten drei Jahren an diesem Schulsystem, weil Ihnen die Lehrer fehlen, um die Schüler auf den Baum zu bringen.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Frau Dr. Stange sprach für die SPD-Fraktion. Gibt es Redebedarf bei der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser zweiten Runde? – Das sehe ich nicht. NPD? – Wir könnten in eine dritte Rednerrunde eintreten. Gibt es noch Redebedarf bei den einbringenden Fraktionen? – Bei den anderen auch nicht.

Damit erteile ich das Wort der Staatsregierung. Bitte, Frau Staatsministerin Kurth, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben das Thema Sitzenbleiben sehr wohl auf die Tagesordnung gerufen. Ich erinnere an die Umfrage der LINKEN „Dafür oder dagegen?“ Ich freue mich, dass Sie das auf die Tagesordnung gerufen haben. 90 % sind für das sogenannte Sitzenbleiben und 10 % dagegen. Also, Sachsens Bevölkerung hat gevotet.

(Beifall bei der CDU, der FDP und der Staatsregierung)

Schule, meine Damen und Herren, legt den Grundstein – und, Frau Klepsch, keinen Stolperstein – für das spätere Leben, für die Ausbildung, für das Studium, für den Beruf. Schule muss deshalb lebensnah sein. Sächsische Schule ist lebensnah. Zum Leben gehört eben auch, dass man einmal scheitert. Erich Kästner sagte: „Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen.“ Was soll es nutzen, meine Damen und Herren, junge Menschen beständig in Watte zu packen, nur damit sie ein Scheitern in ihrer Laufbahn nicht kennenlernen müssen?

(Beifall bei der CDU und der FDP – Dr. Eva-Maria Stange, SPD: Wer packt sie denn in Watte?)

Wie realistisch ist eine solche Lebensvorbereitung? Lernt man nicht aus seinen Fehlern?

(Dr. Eva-Maria Stange, SPD: Ja, eben! Wo dürfen sie denn Fehler machen? – Zuruf des Abg. Martin Dulig, SPD)

Deutschland streitet alle Jahre wieder gern über Schule. Deshalb ist auch die Diskussion zum Sitzenbleiben, die nicht unsere Diskussion ist, aktuell.

(Zuruf des Abg. Martin Dulig, SPD)

Wir haben über ein leistungsorientiertes Schulsystem zu sprechen, hinter dem ich voll und ganz stehe und das wir Gott sei Dank seit 22 Jahren stabil hier im Freistaat Sachsen haben.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Ich bin auch sehr froh darüber, dass wir heute darüber sprechen; denn ich möchte die Gelegenheit hier nutzen, Ihnen von den vielen Zuschriften sächsischer Schülerinnen und Schüler zu berichten, die mir im Zuge dieser Debatte geschrieben haben.

Eine Schülerin berichtete mir von ihrer Freundin, die sehr lange krank war und viel Lernstoff verpasst hatte. Als sie dann wieder zur Schule kam, nahmen ihre Leistungen trotz intensiver Förderung stark ab, und sie wiederholte das Schuljahr. Nun schreibt ihre Freundin wieder gute Noten. Sie geht wieder motiviert zur Schule. Hätte sie das Schuljahr nicht wiederholt, wäre sie in den Folgejahren

gescheitert, gegebenenfalls in einer Abschlussprüfung. Die Schülerin schrieb: „Ich bin der Auffassung, diese zweite Chance hat jeder verdient, auch wenn Bildungsökonomen die Zusatzkosten bemängeln.“

Das ist für mich, meine Damen und Herren, das Erschreckende an dieser aktuellen Diskussion in den Bundesländern: Die Bundesländer, die das Sitzenbleiben abschaffen wollen – sie wurden hier heute schon mehrfach positiv erwähnt –, führen dafür fiskalische Gründe an. Sitzenbleiber seien zu teuer, heißt es.

Es ist keine Frage: Bildung kostet Geld. Gute Bildung kostet viel Geld. Doch Schüler auf einen Kostenfaktor zu reduzieren, das halte ich für fatal.

(Beifall bei der CDU, der FDP und der Staatsregierung – Zuruf der Abg. Elke Herrmann, GRÜNE)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Staatsministerin?

Ja, bitte.

Bitte, Frau Dr. Stange.

Frau Kurth, ist Ihnen bekannt, dass ein Schüler, wenn er in Dresden im Gymnasium in Klasse 9 sitzenbleibt, gegebenenfalls dieses Gymnasium wechseln muss, weil er in der Klasse, in die er eigentlich aufgenommen werden müsste, keinen Platz mehr hat, weil dort bereits 28 Schüler sind?

(Zuruf von der CDU: Was ist daran schlimm? – Zuruf von den LINKEN: Haben Sie das wirklich gerade gefragt? – Zuruf des Abg. Dr. André Hahn, DIE LINKE: Ja!)

Ich kenne die Situation in den großen Städten in Bezug auf die Schülerzahlen in den Klassen. Frau Dr. Stange, Sie können versichert sein, dass wir jeden Einzelfall individuell mit den Eltern besprechen, Klassengerechtigkeit walten lassen und Lösungen finden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)