Gestatten Sie mir noch eine Vorbemerkung. Wie bei der 1. Lesung dieses Gesetzentwurfes in der 77. Sitzung wird auch die 2. Lesung von einem Gebärdendolmetscher begleitet. Er hat bereits neben dem Rednerpult seine Arbeit aufgenommen und wird alles Gesprochene übersetzen. Mit Zwischenrufen könnte es etwas schwierig werden. Deswegen wäre mein Vorschlag, dass Sie Zwischenfragen oder Kurzinterventionen nutzen. Das wäre in dieser Situation das Beste für uns.
Den Fraktionen wird das Wort zur allgemeinen Aussprache erteilt. Die Reihenfolge in der ersten Runde: DIE LINKE, SPD, CDU, FDP, GRÜNE, NPD; Staatsregierung wenn gewünscht. Herr Wehner ist schon am Pult. Herr Wehner, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Neben mir steht in voller Größe Andreas Mischke, Diplomgebärden
sprachdolmetscher. Sie haben ihn bereits zur 1. Lesung kennenlernen dürfen. An dieser Stelle erlaube ich mir, mich an Sie zu wenden, Herr Präsident. Noch halte ich es nicht für selbstverständlich, dass wir Plenarsitzungen mit Gebärdensprachdolmetschern übersetzen. Aber es freut mich außerordentlich, dass Sie sich darauf einlassen, dass wir bei behindertenpolitischen Themen beginnen, es so zu machen, wie es in Bayern schon üblich ist. Ich komme später noch einmal darauf zurück.
Meine Damen und Herren! Wir wollen, dass die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung gewährleistet ist und gefördert wird. Das gibt Artikel 4 Abs. 1 der UNBehindertenrechtskonvention vor. Das ist nicht nur der Wunsch der LINKEN und auch nicht nur der Wunsch der SPD. Ich weiß, dass es genauso der Wunsch bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist, und ich konnte auch eine Verlautbarung der Staatsregierung zur Kenntnis nehmen, dass es auch erklärter Wille von CDU und FDP ist. Ich finde das wunderbar.
Meine Damen und Herren! Seit fünf Jahren sind die Maßgaben der UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht auch in Deutschland. Ich darf daran erinnern: Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und seines Zusatzprotokolls verpflichtet, Maßnahmen zur vollen Verwirklichung dieser Rechte in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Kultur zu ergreifen, und zwar unter Ausschöpfung der verfügbaren Mittel.
Meine Damen und Herren! Die Sächsische Staatsregierung hat im vergangenen Jahr quasi eine schriftliche Einladung zu einem Dialog herausgegeben mit dem Thema „Sachsen weiterdenken“. Hierin wird festgestellt – das begrüße ich außerordentlich –, dass die Verpflichtung zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention natürlich auch für den Freistaat Sachsen und die sächsischen Kreise, Städte und Gemeinden gilt. Das war vorher nicht so. Wunderbar! Großartig!
Es findet sich auch die Erkenntnis darin, dass Sie einen 5. Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderungen im Freistaat Sachsen brauchen, um eine Strategie zur Inklusion in Form eines ressortübergreifenden sächsischen Aktionsplans zu erarbeiten. Na gucke mal einer an! Meine Damen und Herren! Auch dort ist es angekommen. Warum dauert das so lange? Warum brauchen Sie einen 5. Bericht? Sie haben schon einen 4. Bericht über die Lage der Menschen mit Behinderungen im Freistaat Sachsen und können diese Aufgabe schon lange erledigen. Der Bericht ist übrigens am 23. April 2009 – unmittelbar nachdem die UN-Konvention in Deutschland ratifiziert worden ist – im Sächsischen Landtag eingegangen.
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass die GRÜNEN, die SPD und die LINKE – nur immer diese Seite – hier regelmäßig Anträge eingebracht haben, ob zur Haushaltsdebatte oder auf anderen Wegen, Aktionspläne
zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen auf den Weg zu bringen. Sie haben das ständig abgewiesen. Immerhin, fünf Jahre hat es gedauert, dass Sie meinen, es sei jetzt doch erforderlich.
Sie setzen noch einen drauf: „Die Staatsregierung wird auch weiterhin ihre Vorschriften so ändern, dass die in der UN-Behindertenrechtskonvention genannten Rechte
Ich erlaube mir anzumerken, das Wort „weiterhin“ sollten Sie streichen. Sie machen uns weis, dass Sie schon ständig daran arbeiteten, die Rechtsvorschriften zu modifizieren, wie es das Übereinkommen der Vereinten Nationen vorgibt. Nein! Mitnichten! Wir haben das heute schon einmal gehört: Ich glaube, Sie machen den Bürgerinnen und Bürgern etwas vor. Das muss man an dieser Stelle sagen. Es ist nun einmal Wahljahr. Es tut mir leid, aber das kann man nicht stillschweigend hinnehmen.
Sie haben jetzt die allerbeste Gelegenheit, den hier in Rede stehenden Gesetzentwurf sofort anzuerkennen und sich von den Meinungen zu verabschieden, die Sie im Februar in den Ausschüssen des Sächsischen Landtags und schließlich auch am 26. März im federführenden Verfassung-, Rechts- und Europaausschuss eingenommen haben, wobei der Verfassung-, Rechts- und Europaausschuss bemerkenswerterweise genau am fünften Jahrestag der Ratifizierung des Übereinkommens getagt hat.
Ich möchte jetzt nicht auf den Gesetzentwurf im Einzelnen eingehen. Sie sehen, ich lege diese vielen Blätter, die ich dazu vorbereitet habe, zur Seite. Eigentlich hätte man meinen müssen, man wiederholt es und dann kommt es irgendwann an, aber wir haben heute einen ganz langen Sitzungstag.
Übrigens fällt mir bei solchen Botschaften Faust ein: „Die Botschaft hör‘ ich wohl...“ Machen Sie es endlich wahr und warten Sie nicht darauf!
Meine Damen und Herren! Es ist uns bewusst, dass unser Vorhaben sehr ambitioniert ist. In den Ausschüssen hat man uns vorgeworfen, wir hätten eine – wie war das, Herr Krauß? – Wünsch-dir-was-Liste vorgelegt. Nun ja. Was ist schlimm daran, wenn Menschen mit Behinderungen Wünsche, Träume und Visionen haben, wenn wir noch Visionen haben? Wer wenn nicht wir soll diese haben, damit es in der Gesellschaft besser vorangeht?!
Seien sie doch ehrlich. Was wünschen Sie sich denn in aller Regel? – Dinge, die für Menschen ohne Behinderungen selbstverständlich sind. Warum soll das nicht auch für Menschen mit Behinderungen so sein?
Meine Damen und Herren! Ich kann mich erinnern, im Laufe der Legislatur ist der eine oder andere von Ihnen plötzlich und unerwartet mit Gehhilfen oder im Rollstuhl unterwegs gewesen. Wir haben uns darüber verständigt. Sie haben ganz schnell gemerkt, wie schwierig es hier und da im Land ist. Man kann es nicht besser sagen, bei allen
Meine Damen und Herren! Ich frage mit allem Ernst und Nachdruck: Was ist das für ein Land, in dem Menschen mit Behinderungen von der Gewährung ihrer Menschenrechte nur träumen dürfen? Was wäre das für ein Land? Etwa eines von vorgestern oder vorvorgestern? Wir machen uns etwas vor und wir behaupten einfach, es gehe doch allen gut. – Nein! Das ist nicht in Ordnung, meine Damen und Herren!
Ein Beweggrund für Sie, dem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen, war oder ist, dass das Prinzip der Freiwilligkeit verletzt würde. Frau Windisch, Sie werden sich bestimmt noch daran erinnern. Man könne niemanden zwingen, Barrierefreiheit zu schaffen. Das gelte vor allem bei touristischen Angeboten im Bereich der Gastronomie, der Hotellerie oder des Herbergswesens. Die Leute sollten selbst entscheiden dürfen, wem sie was gäben, wem sie Zutritt gestatteten oder wem eben nicht.
Ich frage Sie: Warum kann man das nicht erzwingen? Haben Menschen mit Behinderungen kein Recht auf Erholung an einem Ort, in einem Hotel ihrer Wahl?
Allerdings missverstehen Sie uns auch, wenn Sie glauben, wir wollten Sie unbedingt zwingen. Auch wir sind im Grunde genommen für das Prinzip der Freiwilligkeit. Allerdings scheinen die Freiwilligkeit und der Appell an Sinnhaftigkeit und Vernunft nicht so stark zu sein wie Gesetze.
Um das zu illustrieren: Sie erinnern sich bestimmt noch an die vierte Legislatur. Jeder und jede weiß, dass und wie schädlich das Rauchen ist. Nicht einmal die meisten Raucher mögen es, wenn geraucht wird, während sie noch essen. Aber hätte das jemanden davon abgehalten, selbst nicht zu rauchen? – Ganz offensichtlich nicht; denn wäre es so gewesen, hätten wir die Debatten um die Einführung des Nichtraucherschutzgesetzes in der vierten Legislatur nicht gebraucht.
Sie von der CDU haben dem damals mit Ihren Mehrheiten – damals noch gemeinsam mit der SPD – zugestimmt. Was ist denn das? Ist das auch alles nur freiwillig? Sie haben damals auch gezwungen, und mit Recht. Das war auch gut so. Das sollten Sie auch mit Blick in die Zukunft tun, wenn es um die Sicherung der Teilhabe geht.
Meine Damen und Herren! Die vergangenen fünf Jahre haben gezeigt, dass Inklusion kein Selbstläufer ist. Natürlich haben wir den § 50 der Sächsischen Bauordnung, der sich mit der Barrierefreiheit befasst. Wir haben zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sicherstellen sollen.
Sie haben sogar eine Allianz für die Beschäftigungsförderung von Menschen mit Behinderungen gegründet, um
diesen die Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Nur bleibt nach fünf Jahren festzustellen, dass zwar alle von Inklusion sprechen, aber offensichtlich jeder etwas anderes darunter versteht.
Es geht nicht nur um inklusive Bildung, auch wenn wir dazu heute einen gesonderten Antrag vorliegen haben. Wenn wir barrierefreie Schulen fordern, dann auch, weil es durchaus Kinder gibt, deren Eltern ein Handicap haben. Gerade im Bereich der Gehörlosen ist das oft der Fall, aber auch in anderen Bereichen. Barrierefreiheit bedeutet, dass den Eltern beim Elternabend ein Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung gestellt wird oder dem Elternteil, das körperbehindert ist, der Zugang zu einem Elternabend und einer schulischen Veranstaltung, zum Beispiel zum Schuljahresbeginn, ermöglicht wird.
Wir brauchen aber nicht einmal so weit weg zu gehen: Die Gesetze und die Anträge, die in diesem Hohen Haus verhandelt werden, betreffen alle Menschen, die im Freistaat Sachsen leben. Auch Menschen mit Behinderung beziehen Landeserziehungsgeld, sie unterliegen der Schulpflicht, sie brauchen Ärzte und Krankenhäuser, sie wollen Bus und Bahn nutzen, sie leben im ländlichen Raum – wir haben gestern und heute darüber zur Genüge diskutiert –, sie wollen gut wohnen und die Frage der Datensicherheit betrifft sie ebenfalls. Sie wollen an den Themen, mit denen sich der Landtag befasst, teilhaben.
Warum ist es also immer noch nicht möglich – Herr Präsident, jetzt kommt es –, generell die Landtagssitzungen mittels Gebärdensprach- und Schriftdolmetschern auch diesen Menschen zugänglich zu machen?
Der Bayerische Landtag ist diesbezüglich schon viel weiter, meine Damen und Herren. Die Landtagssitzungen werden sowohl mit Gebärden- als auch mit Schriftdolmetscher übersetzt, und das sieht wunderbar aus. Ich höre Sie bereits Luft holen, um zu fragen: Und wer soll das bezahlen? – Nun ja, meine Damen und Herren: Zum Nulltarif wird es die Barrierefreiheit wohl nicht geben.
Im Vorblatt des Gesetzentwurfes befindet sich deshalb eine ausführliche Darstellung zur Kostenfrage. Wichtig ist vor allem der letzte Satz: „Letztlich ist festzustellen, dass sich die dem Freistaat Sachsen entstehenden Mehrkosten und Mehraufwendungen nur eingeschränkt beziffern lassen. Allerdings ist es mit Blick auf den Grundsatz der Menschenwürde und damit auf die Zielsetzung dieses Gesetzes nicht zu rechtfertigen, die Durchsetzung von allgemein verbindlichen Menschenrechten von haushälterischen bzw. fiskalischen Bedingungen abhängig zu machen, so dass die Akzeptanz der anfallenden Kosten und Aufwendungen alternativlos ist.“
Fakt ist: Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention führt zu einer allgemeinen Verbesserung der Lebensqualität, des gesellschaftlichen Umfeldes und der physischen Umwelt. Nur wer Barrierefreiheit schafft, ist auch in der Lage, einem demografischen Wandel zu begegnen.
Zudem ist davon auszugehen, dass die selbstverständliche Inklusion von Menschen mit Behinderung soziale Folgekosten verhindern wird. Sehen Sie das doch auch einmal unter diesem Aspekt, meine Damen und Herren.
Eines ist völlig klar: Ohne Mut wird es nicht gehen. Diesen Mut wünsche ich Ihnen ganz einfach, meine Damen und Herren, weil Sie es dann ermöglichen, dass wirklich jeder am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.