Protokoll der Sitzung vom 29.09.2016

(Beifall bei der SPD, der CDU und vereinzelt bei den LINKEN – Beifall bei der Staatsregierung)

Die beiden einbringenden Fraktionen haben gesprochen, zuletzt Kollegin Kliese für die SPD-Fraktion. Jetzt spricht für die Fraktion DIE LINKE Frau Kollegin Buddeberg.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1989, im Jahr der friedlichen Revolution, war ich 7 Jahre alt und die meisten Kinder, die in meinem nahen Umfeld waren, haben gar nicht so viel Kenntnis von diesen Umbrüchen genommen. Das liegt daran, dass ich damals nicht im Osten Deutschlands war, sondern im damaligen Westdeutschland, genauer gesagt in NRW. Für mich hatte das eine große Bedeutung. Das liegt vor allem daran, dass meine Familie engen Kontakt zu einer Familie im Vogtland hatte und ich deswegen auch schon zu DDR-Zeiten als Kind mehrere Male in Sachsen war. Deswegen habe ich sehr konkrete Erinnerungen an die Zeit vor der Wende.

Ich erinnere mich an Westpakete, die wir der Familie geschickt haben, mit Playmobil drin, weil es das hier nicht gab, und mit grünen Bananen, die dann braun waren, wenn die Pakete angekommen sind. Ich erinnere mich aber auch an langwierige Grenzkontrollen mitten in der Nacht irgendwo zwischen Deutschland und Deutschland. Wenn ich heute die Bilder im Fernsehen sehe, die ich damals schon gesehen habe, dann lösen sie in mir noch einmal kurz das Gefühl aus, das ich damals hatte. Ich hatte als Kind schon das Gefühl, dass das ein historischer Moment war. Es war so viel Begeisterung und Freude, so viel Hoffnung und Aufbruchstimmung – es war alles so verheißungsvoll.

Zwölf Jahre später bin ich zum Studium nach Leipzig gegangen. Ich habe mich entschieden, nach Leipzig zu gehen, und die Frage der nun zwölf Jahre Älteren aus meinem Umfeld war: Sag mal, Sarah, ist dein NC so schlecht, hast du so ein schlechtes Abi gemacht, dass du in Sachsen studieren musst? Für mich war das eine freie Wahl, ich habe mich bewusst entschieden, hierher zu gehen. Und ich habe dann hier die andere Seite der Medaille kennengelernt. Bis heute passiert es mir manchmal, dass Leute sagen: Was, du bist Wessi? Das hätte ich gar nicht gedacht. Das ist als Kompliment gemeint.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Grenze von damals und die Differenz, die dadurch entstanden ist, bis heute weiter existiert. Ich bin auch nach dem Studium in Sachsen geblieben. Ich habe mich daran gewöhnt, „viertel“ statt „viertel nach“ zu sagen. Ich habe Knusperflo

cken, Pfeffi und Soljanka kennengelernt, vor allem aber auch Menschen, für die die friedliche Revolution eine ganz andere Bedeutung hatte als für mich.

In den nächsten Tagen begehen wir die Feierlichkeiten zum 3. Oktober. Im Plenum ist gestern gesagt worden, dass das vor allem ein Fest für die Bürgerinnen und Bürger sein soll. Deswegen erlaube ich mir die Frage zu stellen, ganz ernsthaft: Was gibt es denn zu feiern und für wen? Bei aller Selbstbeweihräucherung, besonders der CDU-Fraktion, sollte es uns den Blick nicht vernebeln, dass es Menschen gibt, für die der Umbruch vor allem eine gebrochene Biografie bedeutet hat. Sie sind abgewertet worden, sowohl ideell als auch finanziell, und das übrigens unabhängig davon, wie sie sich zum System verortet haben. Wenn es den Beruf, in dem sie gearbeitet haben, nach der Wende nicht mehr gab, konnten sie darin auch nicht mehr arbeiten und sind meist arbeitslos geworden. Es gibt eine hohe Frustration über Lohnungleichheit zwischen Ost und West und über die niedrigen Ostrenten.

Aber auch Menschen, die 1989 für Veränderungen gekämpft haben, sind bitter enttäuscht worden, denn es war keine Vereinigung auf Augenhöhe und keine Zusammenführung am runden Tisch. Die Aufbruchstimmung, die es gab, habe nicht nur ich gespürt; sie ist aber an vielen Stellen im Keim erstickt worden. Die Ereignisse wären doch nach dem Kalten Krieg die Chance gewesen, nicht nur die Verhältnisse im Osten, sondern auch die im Westen auf den Prüfstand zu stellen und Bewahrenswertes zu bewahren. Stattdessen ist pauschal alles abgewertet worden, was im Osten funktionierende Realität war und mit Ideologie gar nichts zu tun hatte. Von einer echten Vereinigung hätten beide Teile Deutschlands profitieren können.

Meine Damen und Herren! Auch nach meiner persönlichen Erfahrung, die ich mit Grenzen und Grenzkontrollen gemacht habe, ist für mich klar: Ich will keine Grenzen mehr, nicht in Deutschland und auch nicht in Europa.

(Beifall bei den LINKEN, den GRÜNEN und der Abg. Dagmar Neukirch, SPD)

Ich bin wirklich froh, dass ich in Leipzig studieren konnte. Ich bin auch froh, dass ich hier leben kann, ohne mich zwischen zwei Systemen entscheiden zu müssen. Und ich bin wirklich froh, dass ich jederzeit Gelegenheit habe, meine Familie in Nordrhein-Westfalen zu besuchen. Und dennoch ist die Freude getrübt und ich kann nicht aus vollem Herzen den Tag der Deutschen Einheit feiern, weil die friedliche Revolution aus meiner Sicht vor allem auch eines ist, eine verpasste Chance.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN)

Das war Frau Buddeberg für die Fraktion DIE LINKE. Jetzt kommt für die AfD-Fraktion Herr Urban.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Unruhen, Volkserhebungen und Revolutionen haben in Sachsen Tradition. Ich möchte heute kurz an zwei revolutionäre Ereignisse erinnern, die prägend waren für Sachsen, zum einen die monatelangen Unruhen in Dresden und Leipzig in den Jahren 1830 und 1831. Diese brachten uns die erste Sächsische Verfassung und zum ersten Mal garantierte bürgerliche Freiheiten.

Zum anderen die Novemberrevolution 1918, in der in Sachsen Arbeiter- und Soldatenräte die Macht übernahmen und der SPD-Politiker Herrmann Fleißner im Zirkus Sarrasani die Republik Sachsen ausrief. Revolutionen und auch Demonstrationen sind ein Erbe unserer Geschichte, und sie sind auch eine Tugend, die wir uns für die Zukunft bewahren sollten. Das Ziel damals wie heute bleibt der Wandel des politischen Systems bzw. die Umkehr der politischen Eliten im Interesse der Bürger.

Und nun die friedliche Revolution im Jahre 1989. Am 19.12. sagte Altkanzler Herrmann Kohl auf dem Dresdner Neumarkt:

(Zuruf von der CDU: Helmut Kohl! – Unruhe)

„Wir lassen unsere Landsleute in der DDR nicht im Stich, und wir wissen, wie schwierig dieser Weg in die Zukunft ist. Aber gemeinsam werden wir diesen Weg in die deutsche Zukunft schaffen.“ Und weiter: „Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit der Nation.“ Die Geschichte hat es zugelassen: Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit galten schnell auch für die Bürger in Ostdeutschland.

Mit dem Einsatz mehrerer Hundert Milliarden Euro wurde in ganz Ostdeutschland flächendeckend die Umwelt saniert, und auch die marode Infrastruktur – Häuser, Straßen und die Schienennetze – wurde schnell modernisiert. Zum Beispiel ist die Schwefelbelastung der Luft von der Wende bis heute auf 10 % der damaligen Werte zurückgegangen. Auch die Einkommen zwischen Ost und West haben sich bis auf einen Unterschied von 10 % angeglichen.

Die Westdeutschen erlebten die Wende oft als Überlegenheit ihres politischen und wirtschaftlichen Systems. Oft bewerteten sie ihre ostdeutschen Landsleute in einem Zug mit dem gescheiterten DDR-System. Dieses Missverständnis hatte regelmäßig zu individuellen und kollektiven Kränkungen geführt, die das Zusammenwachsen über viele Jahre belasteten. Es gingen aber auch Institutionen in der DDR verloren, um die wir uns heute erneut bemühen, zum Beispiel das einheitliche Bildungssystem der DDR, das seinen Nachahmer Finnland in der europaweiten PISA-Studie zum Sieger machte. Oder die Polikliniken des DDR-Gesundheitssystems – sie heißen heute Medizinische Versorgungszentren. Auch der gesetzliche Anspruch auf einen Kita-Platz ist inzwischen in der Bundesrepublik eingeführt.

Unsere Bürger stehen heute vor ganz neuen Herausforderungen, vor Digitalisierung der Welt, vor der Globalisierung mit all ihren Problemen, vor der ungelösten Finanzkrise und auch vor den Kriegen und Bürgerkriegen, in denen auch Deutschland inzwischen beteiligt ist. Diesen Herausforderungen stellen sich die Bürger in Ost und West heute gemeinsam – als geeinte Nation.

Die friedliche Vereinigung von zwei völlig verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Systemen war und ist ein beispielloser Vorgang, auf den die Bürger in Ost und West zu Recht stolz sein können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Kollege Urban sprach für die AfD-Fraktion. Jetzt spricht Herr Kollege Zschocke für die GRÜNEN.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Colditz, der Titel der Aktuellen Debatte atmet schon ganz schön viel Pathos. Mit Blick auf die Wiege der friedlichen Revolution kann ich nur wenig damit anfangen, weil gerade in Sachsen viele Menschen unzufrieden mit den demokratischen Prozessen und misstrauisch gegenüber den Politikern sind. Sie fühlen Ohnmacht und Bevormundung. Gerade davon haben wir uns im Jahr 1989 befreit.

Was ist in den letzten 27 Jahren passiert? Warum ist das Misstrauen so groß? Mit meinen Erfahrungen in der DDR, beim Aufbegehren gegen das autoritäre DDRSystem, habe ich immer geglaubt, Opposition sei die zentrale Triebkraft der Demokratie. Deswegen habe ich mich gleich nach der Wende um politische Ämter beworben, um mich einzumischen, um Verwaltung und Regierung zu kontrollieren. Mein Leitspruch war damals: Demokratie funktioniert dann, wenn ich mitmache.

Die Erfahrung in Sachsen ist leider eine andere. Aktive Bürgerinnen und Bürger, die sich einmischen, haben oft erfahren, dass dies nicht erwünscht ist. Sie scheitern an intransparenten Behörden, an Politikern, die Politik mit Informationsvorsprüngen machen, die nach Salami-Taktik informieren. Oft werden Fakten geschaffen; die Öffentlichkeit wird erst hinterher informiert.

Sie scheitern aber auch zum Teil an Zermürbung und Diskreditierung ihres Engagements. Da machen zum Beispiel Bürgerinitiativen immer wieder seit Jahren darauf aufmerksam, dass in Sachsen nach der Wende Giftmüll unsachgemäß entsorgt wurde. Die drohenden Gefahren werden bis heute von den Behörden heruntergespielt; selbst ein Untersuchungsausschuss hierzu führte nicht zu Konsequenzen. Irgendwann kapitulieren dann auch selbst die zähesten Umweltschützer. Wer lässt sich denn gern als gemeinwohlgefährdender Verhinderer diskreditieren, weil er sich für Naturschutz engagiert, meine Damen und Herren?

Auch Menschen, die sich in den letzten 20 Jahren hier für demokratische Kultur oder gegen rechte Gewalt engagiert

haben, wurden oft verdächtigt, ausspioniert, kriminalisiert. Selbst die Grüne Jugend geriet einmal wegen ihres Antiatomengagements Ende der Neunzigerjahre in das Visier des Verfassungsschutzes, während zur gleichen Zeit der NSU in Sachsen untertauchen konnte, unbehindert von Verfassungsschutz und Polizei.

Aktive Bürgerinnen und Bürger scheitern aber auch oft an Alibibeteiligung. Die Staatsregierung hat neuerdings den Bürgerdialog entdeckt. Im Zuge des Bürgerdialoges zum Schulgesetz haben sich sehr, sehr viele Menschen beteiligt. Jetzt steht die Frage: Werden ihre Anregungen berücksichtigt, meine Damen und Herren? Statt unverbindlicher Bürgerdialoge von Ministers Gnaden brauchen wir verbindliche, durchsetzbare Beteiligungsrechte.

Unseren Gesetzentwurf zur Verbesserung der direkten Demokratie haben Sie im letzten Plenum abgeschmettert.

All das, meine Damen und Herren, entspricht nach meiner Wahrnehmung nicht dem Geist von 1989. Mit derselben Leidenschaft, mit der Sie jährlich an die friedliche Revolution erinnern, sollten Sie sich bitte auch für die Beteiligung mündiger Bürger auf Augenhöhe engagieren und streiten.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

27 Jahre danach glauben viele Sachsen nicht, dass wichtige Entscheidungen innerhalb demokratischer und transparenter Prozesse erfolgen. Eine politische Kultur, in der die Opposition wirklich Triebkraft ist, hat sich in Sachsen seit der Wende nur unzureichend entwickeln können. Es ist eine Stimmung entstanden, ein von Stimmung und Ängsten beherrschtes Klima im Land, wo differenzierte Diskussionen, wo Kompromissbildung immer schwieriger werden. Parolen und Populismus haben Konjunktur. In diesem teilweise vordemokratischen Klima konnte ein Bürgerprotest gedeihen, der nicht Opposition gegen Regierungshandeln ist, sondern der sich gegen die Institution der Demokratie selbst richtet. Hier möchte ich am heutigen Tage ganz deutlich sagen: Wer Freiheit und Demokratie feiern will, der muss die Gefahren für Freiheit und Demokratie erkennen und ihnen entschlossen entgegentreten, meine Damen und Herren.

Sie wollen Brücken bauen. Heißt denn Brückenbauen im Zweifel auch, Nazivokabular zu twittern, um rechtsaußen zu erreichen? Wollen Sie Brücken zu denen bauen, die demokratische Institutionen verächtlich machen, die rassistisch und völkisch argumentieren? Die einzige Brücke zu diesen Menschen heißt doch, die klare Erwartung zu formulieren, sich in eine die Menschenwürde respektierende Gesellschaft zu integrieren, meine Damen und Herren.

Die Redezeit geht zu Ende.

Sie müssen sich gegen die erstarkenden Kräfte zur Wehr setzen, die deutsche Einheit vor allem als völkische Einheit beschreiben; denn Freiheit und Einheit bedeuten nichts, wenn die individuelle

Freiheit, die Lebenschance und die Würde des Einzelnen auf der Strecke bleiben, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der AfD: Wow! – Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Mit Herrn Kollegen Zschocke sind wir am Ende der ersten Rednerreihe angekommen. Wir eröffnen eine zweite Runde. Für die einbringende CDU-Fraktion erhält das Wort Herr Kollege von Breitenbuch.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Zschocke, Ihre Partei heißt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie als Fraktionsvorsitzender dieser Fraktion in der ersten Rederunde dieses BÜNDNIS 90 hervorheben können –

(Beifall bei der CDU)

und damit die Brücke auch zu Ihren Vorgängern schlagen konnten, die letztendlich hier an der friedlichen Revolution im Lande einen ganz wichtigen Beitrag geleistet haben.

(Zuruf von den LINKEN)

Ich finde es schade, dass Sie das nicht gemacht haben.

(Beifall bei der CDU)

Für uns als CDU-Fraktion ist dieser Tag ein Tag der Freude und Dankbarkeit. Ich möchte das noch einmal aus vollem Herzen betonen. Das wird auch immer so bleiben.