Protokoll der Sitzung vom 27.09.2017

Niemand wird durch den Austritt etwas gewinnen. Es gibt nur Verlierer. Von weniger Europa hat keiner mehr. Kein Pfund mehr wird automatisch in das britische Gesundheitssystem fließen. Schließlich wird auch kein Land zurückgewonnen, wie die Brexit-Befürworter propagiert haben. Im Gegenteil, Theresa May und die Konservativen haben das Land ins politische Chaos gestürzt. Es gibt auch keine Brexit-Strategie, weil ein Ausstieg immer mit harten Einschnitten verbunden ist. Die Strategie kann dann nur lauten, den Schaden zu minimieren. Das kann keine freiwillige und selbstbestimmte Zukunft für ein Land sein.

Das Exempel Großbritannien mahnt auch uns Mitglieder hier im Sächsischen Landtag, Europa nicht leichtfertig durch politische Spielchen oder durch falsche Schuldzuweisung Richtung Brüssel aufs Spiel zu setzen. Es mahnt uns außerdem, Populisten und Nationalisten nicht nach dem Mund zu reden, sondern klar und deutlich auch über Parteigrenzen hinweg für ein solidarisches, für ein geeintes und vor allen Dingen für ein stärkeres Europa einzustehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Aktuelle Debatte, wie sie die Koalition heute beantragt hat, lässt uns hier im Parlament über die Zukunft der EU nach dem Brexit reden. Aber wo war denn in den letzten Wochen Ihr Einsatz für dieses Thema auf den Straßen, auf den Plätzen, in Interviews, im Wahlkampf? Warum haben Sie das nicht in den Mittelpunkt Ihres Wahlkampfes gestellt, wie unsere Nachbarländer das im letzten Jahr gemacht und damit Wahlen gewonnen haben? Da hätte es die Aufmerksamkeit erzeugt.

Die Große Koalition hat es verpasst, den Arm, den ihr Emmanuel Macron ausgestreckt hat, zu ergreifen und Reformen anzustoßen, zu diskutieren und vor allen Dingen auch selbst welche vorzuschlagen. Stattdessen haben Sie die Bundestagswahl vor- und dieses wichtige Thema aufgeschoben.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht zu spät, und wir können jetzt Antworten auf die Fragen geben, wie wir die Union der „27“ zusammenhalten wollen. Ich finde, Juncker hat recht, wenn er sagt, auch jetzt bestehen

bereits Spielräume für Veränderungen. Man muss nicht auf Vertragsänderungen warten. Man ist auch nicht darauf angewiesen – ganz anders als Sie, Herr Dr. Jaeckel, das in der Debatte von meiner Fraktion auf unseren Antrag gesagt haben. Die anderen wollten keine Vertragsänderung, und deshalb sei es schwierig, darüber zu reden. Europäisieren wir doch die Europawahlen und stärken die europäische Öffentlichkeit – nicht nur durch europäische Spitzenkandidaten, sondern zum Beispiel durch transnationale Listen. Das durch den Brexit frei werdende Kontingent an Sitzen im Europäischen Parlament bietet jetzt bereits die Chance dazu.

Reden wir über den Zusammenhalt der „27“, müssen wir stärker als bisher die sozialen Fragen ins Zentrum stellen. Überwinden wir das soziale Gefälle innerhalb der Union, beispielsweise mithilfe einer Mindesteinkommensrichtlinie, die festschreibt, dass allen Menschen in EU-Mitgliedsstaaten ein Existenzminium in angemessener Höhe zusteht, oder mit viel stärkeren öffentlichen Investitionen in ökologische und soziale Modernisierung. Davon profitieren doch gerade die jungen Menschen, die in vielen Teilen arbeitslos sind. Sie sind die Zukunft Europas. Wir schlagen dafür einen Zukunftsfonds vor, an dem sich alle EU-Mitgliedsstaaten beteiligen können und mit dem die wichtigen Felder der Digitalisierung, des Klimaschutzes, der ökologischen Innovation angegangen werden können.

Wir müssen – und das ist auch für Sachsen wichtig – ganz entschlossen europaweit stärker das Stadt-Land-Gefälle angehen. Hier trägt der Freistaat eine besondere Verantwortung. Gerade hier hat die bisher stets CDU-geführte Staatsregierung in den letzten Jahren viele Fehler gemacht. Viel zu sehr haben Sie sich über Jahre aus der Finanzierung und Verantwortung für den ländlichen Raum zurückgezogen und auf die EU-Förderprogramme verlassen. Dabei wird Sachsen zukünftig weniger Fördermittel erhalten. Jetzt versucht die Staatsregierung verzweifelt, an diesen Programmen festzuhalten und sich daran zu klammern. Sie können aber selber aktiv werden, und das trägt zum Zusammenhalt bei.

Darüber hinaus muss die EU für mehr Steuergerechtigkeit sorgen. Ich bin sehr froh, dass sich die Kommission zum Ziel gesetzt hat, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung viel stärker zu bekämpfen.

Die Redezeit ist zu Ende.

Gewinne sollen dort versteuert werden, wo sie erwirtschaftet werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäischen Partner schauen jetzt auf Deutschland und den europapolitischen Kurs, den wir einschlagen wollen. Es wird wichtig sein, dass wir auch aus Sachsen Ideen einbringen und nicht nur reflexartig die Vorschläge, die aus anderen Partnerländern kommen, negativ bewerten, sondern machen wir eigene Vorschläge, –

Die Redezeit!

– bringen wir sie ein, nehmen wir die Hand von Emmanuel Macron und führen gemeinsame Reformen durch.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Das war Frau Maicher, Fraktion GRÜNE. Wird in dieser ersten Rederunde von den Fraktionslosen noch das Wort gewünscht? – Nein. Dann eröffnen wir jetzt eine zweite Rederunde. Die einbringende CDU-Fraktion ergreift wiederum durch Herrn Kollegen Schiemann das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, niemand im Freistaat Sachsen lehnt Europa ab, weder die europäische Entwicklung, noch den europäischen Zusammenhalt. Wenn, dann sind es die ewig Gestrigen, die das machen. Die CDU lehnt das nicht ab. Die CDU braucht diesen europäischen Zusammenhalt. Ich glaube, das haben wir all die Jahre getan. Wir sind die Europapartei in diesem Land. Wir haben dafür gesorgt, dass wir gute Verhältnisse zur Europäischen Union und zu den Nationen, die in Europa diesen Zusammenschluss fassten, aufgebaut haben. Das werden wir auch bleiben.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dennoch ist es so, dass der künftige EU-Haushalt vor der Tür steht, und es ist Zeit und Not, dass wir uns sehr schnell dazu bekennen, wo die Reise auch für den Freistaat Sachsen hingehen soll. Wir wissen, dass es aktuelle Herausforderungen gibt, dass durch den Brexit in Zukunft ein großer Nettozahler, das Vereinigte Königreich, nicht mehr in diesem EU-Haushalt geplant werden kann. Wegen der aktuellen Herausforderungen der Außen- und Sicherheitspolitik und der Bekämpfung der Fluchtursachen brauchen wir aber diese gute Zusammenarbeit mit der Europäischen Union.

Wir stehen weiter für eine starke Regionalpolitik; denn die Regionalpolitik hat uns in unserer Entwicklung in den letzten 25 Jahren unwahrscheinlich viel geholfen. Wir brauchen diese weiterhin für die neuen Bundesländer, damit der Aufholprozess weiter gestaltet werden kann. Wir brauchen weiter eine angemessene Agrarpolitik, eine Unterstützung der Landwirtschaft in unserem Land und auch eine Unterstützung der ländlichen Regionen. Das ist notwendig, weil wir hier diesen Nachholprozess haben. Damit können wir auch die Regionen stärken.

Wir müssen die EU zukunftsfähig machen, und ich glaube es wäre gut, wenn die westeuropäischen Staaten endlich begreifen, dass Europa im Osten beginnt. Europa ist nicht mehr nur Paris, Madrid oder Rom, sondern auch Osteuropa und der Balkan gehören dazu.

Sachsen in Europa – das ist ein Schlüssel. Europa beginnt mit guter Nachbarschaft. Das haben wir immer wieder gesagt. Für uns ist es bedeutend, Frieden in Europa zu

erleben. Frieden beginnt aber mit dem Nachbarn, mit dem man respektvoll und anständig umgeht. Das tun wir mit der Tschechischen Republik und der Republik Polen schon seit vielen Jahren.

Im Übrigen kann ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass 1697 einer der Vorläufer der Europäischen Union gegründet worden ist. Damals ist Kurfürst August zum polnischen König gekrönt wurden. In Polen spricht man im Lehrbuch der Geschichte noch heute von den „sächsischen Zeiten“: „czas Saksonii” ist im Geschichtsbuch vermerkt. Wir erleben das in unserem Land nicht: Wir sprechen nicht von dieser Verbindung des Kurfürstentums Sachsen mit der polnischen Krone, wo Menschen schon einmal zusammengearbeitet haben. Das fehlt.

Wir müssen auf die Visegrád-Staaten zugehen. Wir sind mit einer gleichen Sozialisierung, einer gemeinsamen Geschichte aus dem Sozialismus verbunden gewesen. Jetzt haben wir die Chance, in Freiheit dafür zu sorgen, dass auch die Visegrád-Staaten in Europa besser verstanden und akzeptiert werden. Ich gehe davon aus, dass es sich auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit lohnt, die Visegrád-Staaten mehr in den Fokus unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu nehmen.

Wir haben eine sehr gute Handelsbilanz mit der Tschechischen Republik und Polen. Es lohnt sich, die Außenhandelsbeziehungen zur Ungarischen Republik, aber auch zur Slowakei weiter auszubauen, denn das sind traditionelle Länder, mit denen wir gut verbunden sind. Das heißt, Sachsen sollte sich auch in Richtung der Visegrád-Staaten bewegen, um in Europa für Verständnis zu sorgen.

Ohne Visionen wird es in Europa keine Entwicklung geben. Europa muss sich konsolidieren, muss zukunftssicher gemacht werden. Nur wenn der Prozess der Zukunftssicherung stattfinden wird, wird es auch gelingen, den Bürger wieder für Europa zu gewinnen und eine höhere Akzeptanz zu erreichen. Das wünsche ich uns allen. Ich gehe davon aus, dass es sich lohnt, mit den Bürgern im Freistaat Sachsen über Europa zu sprechen.

Die Redezeit ist zu Ende.

Die Bürger des Freistaates Sachsen sind offen für Europa; sie wollen die Freundschaft zu unseren Nachbarländern. So werden wir die Zukunft gestalten können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD – Beifall bei der Staatsregierung)

Die zweite Runde ist eröffnet. Als Nächster spricht für die einbringende Fraktion Herr Kollege Baumann-Hasske.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Stange, Sie hatten eben schon einiges zu den Ausführungen gesagt, die Herr

Juncker in den letzten Wochen getätigt hat, deswegen will ich das jetzt nicht wiederholen.

Eine Erwiderung möchte ich zu Herrn Barth ergänzen. Herr Barth, Sie haben gesagt, wir müssten dringend daran arbeiten, die Europäische Union auf solide Füße zu stellen und zu reformieren, insbesondere der Euro müsse solider werden. Einen Geburtsfehler hat der Euro in der Tat, da sind wir vielleicht sogar einer Meinung. Der Euro hat nämlich keine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Seite. Wir haben in Europa nur eine reine Währungspolitik, aber keine Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Ich glaube, der Vorschlag, der jetzt sowohl von Herrn Juncker als auch von Herrn Macron gekommen ist, nämlich einen Europäischen Wirtschafts- und Finanzminister zu installieren, der von der europäischen Seite her Möglichkeiten hat, zu gestalten und – in der Tat, ja – nationale Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern, um den Euro angemessen politisch begleiten zu können, das wäre, glaube ich, der richtige Schritt.

(André Barth, AfD: Das heißt aber Budgetrecht! Das greift beim Haushaltsgesetzgeber des Staates ein!)

Zum Thema „demokratisches Defizit in der Europäischen Union“, das Sie eben erwähnten: Wir haben das an dieser Stelle schon mehrfach diskutiert. Ich bin da ganz bei Ihnen, wir sollten im Hinblick auf das demokratische Defizit etwas tun. Aber auch das bedeutet natürlich „mehr Europa“ und nicht „weniger Europa“. Das muss uns klar sein.

Meine Damen und Herren! Ganz kurz zur Rede von May. Frau May hat jetzt überraschenderweise eingelenkt und gesagt: kein harter Brexit mehr. Sie möchte jetzt verhandeln. Sie hat aber noch nicht genau gesagt, worüber sie verhandeln will. Sie möchte vor allem aber die Verhandlungsphase verlängern. Ich glaube, damit haben wir ein großes Problem. Das würde bedeuten, dass wir nach Ablauf der Kündigungsfrist eine komische Übergangsphase bekämen: eine Übergangsfrist von zwei Jahren, in denen Großbritannien wohl zahlen will, in denen Großbritannien auch alle europäischen Bürger vorbildlich behandeln will, aber in denen Großbritannien dann ja eigentlich nicht mehr Mitglied im Rat wäre und auch keine Mitglieder im Europäischen Parlament mehr hätte. Ich glaube, das alles ist sehr unausgegoren. Ich glaube, das macht auch die Enttäuschung aus, die Frau May verursacht hat, und ist Grund für die zurückhaltenden Reaktionen.

Meine Damen und Herren! Herrn Macrons Verdienst ist es, eine Vision mit vielen Punkten entwickelt zu haben. Man braucht nicht alles zu teilen, auch ich teile nicht alles im Detail, das sage ich ganz offen. Ich glaube aber, damit haben wir endlich wieder einen Anstoß erfahren, wie es mit Europa weitergehen könnte. Darüber müssen wir diskutieren. Ich glaube, das ist das große Verdienst dieser visionären Rede: dass wir uns endlich wieder an konkreten Vorschlägen abarbeiten können und eine gemeinsame

Vision, ein gemeinsames Ziel für Europa schaffen können. Ich glaube, das ist elementar.

Andernfalls wird die „EU 27“ nicht zusammenstehen, andernfalls wird der Brexit möglicherweise Schule machen. Wir müssen dafür sorgen, dass Europa eine Zukunft hat und dass die Integration Europas weitergeht.

Natürlich müssen wir auch einiges überprüfen, was Europa vielleicht zu viel tut. Vielleicht gibt es Bereiche, in denen Europa weniger tun sollte. Aber ich glaube nicht, dass Europa insgesamt „weniger“ sein sollte. Europa muss sich politisch stärker integrieren, sonst wird es nicht zusammenhalten können. Europa muss für die Bürgerinnen und Bürger erlebbar sein und muss vor allem dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger sich als Europäer fühlen. Das ist das große Defizit, das wir nach wie vor haben. Das ist das große Problem, aufgrund dessen wir immer wieder in Nationalismen zurückfallen.

Deswegen lassen Sie, meine Damen und Herren, die heutige Debatte einen Einstieg sein, in diesem Hohen Haus immer wieder eine Debatte über die Zukunft Europas zu führen – möglicherweise auch einmal ganz konzentriert auf die Thematik bezogen, wie es mit Europa weitergeht.

(Beifall bei der SPD sowie vereinzelt bei der CDU und den GRÜNEN – Beifall bei der Staatsregierung)

Das war Herr Kollege Baumann-Hasske von der einbringenden SPD-Fraktion. Jetzt sehe ich an Mikrofon 7 eine Kurzintervention, vermute ich. Ist das so, Herr Barth?

Das ist richtig.

Bitte.

Herr Baumann-Hasske! Wir stimmen tatsächlich darin überein, dass der Euro einen Konstruktionsfehler hat, dass man es in Maastricht unterlassen hat, neben einer Währungsunion eine Wirtschafts- und Sozialunion zu etablieren. Wer hat das unterlassen? Kanzler Kohl hat sich gegenüber Mitterrand nicht durchsetzen können. Dem Franzosen ging es aber darum, die starke deutsche Währung durch die deutsche Wiedervereinigung letztendlich in eine europäische Währung zu überführen. Insofern sind wir uns hinsichtlich des Konstruktionsfehlers völlig einig.