Protokoll der Sitzung vom 05.09.2018

Geärgert habe ich mich freilich auch ab und zu. So sagte am Samstagnachmittag in Deutschlandradio Kultur ein Studiogast, man müsse doch jetzt auch über die Demonstrationen hinaus an die armen Menschen denken, die in der Stadt Chemnitz leben müssen. Dazu muss ich Ihnen – als erste Chemnitzerin, die hier sprechen darf – sagen: Ich

muss überhaupt nicht in Chemnitz leben. Ich liebe meine Stadt und ich lebe gern dort, weil diese Stadt eine hohe Lebensqualität hat. Wir haben ein Fünfspartentheater mit einer fantastischen Robert-Schumann-Philharmonie. Wir haben ein Fraunhofer-Institut, eine überregional bekannte Kunstsammlung, eine Sammlung Gunzenhauser und hervorragende Sportvereine. Wir sind kein Moloch, sondern wir sind eine fantastische Stadt. Ich habe diese Stadt bewusst gewählt, um meine Tochter dort aufwachsen zu lassen, denn sie ist genau richtig.

Chemnitz bewirbt sich als Kulturhauptstadt. Warum? – Weil wir es können.

(Beifall bei der SPD, der CDU und des Abg. Horst Wehner, DIE LINKE – Beifall bei der Staatsregierung)

Die Erzählung für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt muss nun neu geschrieben werden. Das muss sie nicht, weil Angela Merkel die Flüchtlinge hereingelassen hat. Das muss sie, weil Rechtsextremismus und Gewalt sich in dieser Stadt an zwei Tagen entladen haben. Die Bilder wurden überall gezeigt – nicht, um Sachsen zu schaden, sondern weil es sie gab.

Gerade deshalb ist es wichtig, dass das Blatt in der Berichterstattung sich inzwischen gewendet hat, um zu schauen, was an Positivem in der Stadt geschieht und was wächst, zum Beispiel das Konzert am Montagabend. Dazu muss ich sagen: Das sind nicht die engagierten Chemnitzerinnen und Chemnitzer, um die es gehen sollte, sondern das waren auch viele Gäste.

Egal, welche Bilder Sie gesehen haben, das müssen Sie bedenken: Sie haben niemals die Mehrheit der Chemnitzerinnen und Chemnitzer gesehen. Die Spaltung der Stadt wird nicht durch Demonstrationen überwunden, so wichtig es ist, jetzt Flagge zu zeigen. Wir können die Spaltung nur überwinden, wenn wir einander als Menschen begegnen, die Respekt haben, Respekt vor Menschen anderer Herkunft, die sich jetzt bedroht fühlen, aber auch Respekt vor der alten Dame, die sich abends nicht mehr auf die Straße traut. Angst ist ein Gefühl, das wir nicht mit einer Statistik oder mit Sachargumenten beseitigen können. Gefühle sind nie lächerlich und sollten nie arrogant von außen bewertet werden.

Das, was mich schon länger besorgt macht in Bezug auf die Spaltung der Gesellschaft, ist die Abwertung politischer Parteien. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einem Land, in dem das Engagement in jedem Kaninchenzüchterverein als ehrenwerter für unsere Demokratie gilt als das in einer politischen Partei.

(Jörg Urban, AfD: Woran liegt das wohl?)

Was für eine Gesellschaft soll das sein, in der politische Parteien als Fremdkörper wahrgenommen werden? Die AfD hat mit ihrem Altparteiengeschwafel kräftig dazu beigetragen. Ich bitte Sie, nicht hier im Parlament, sondern außerhalb: Erkennen Sie das Engagement derer an,

die sich in Parteien ehrenamtlich und hauptamtlich für unsere Demokratie engagieren.

(Beifall bei der SPD, der CDU und der Staatsregierung)

Gestern las ich in einer großen deutschen Zeitung: „Wir sollen hoch vom Sofa und die Politiker setzen sich.“ Ich habe solche Politiker nicht gesehen, nicht in den letzten Monaten, nicht in den letzten Tagen. Ich sehe hier Leute, die tagelang mit ihren Referenten im Dauerstressmodus sind, kaum Schlaf haben und kaum ihre Familien sehen. Sie müssen dafür nicht bemitleidet werden und sie müssen auch nicht gelobt werden, aber ich bitte darum, dass auch diese Seite gesehen wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU und der Abg. Susanne Schaper, DIE LINKE – Beifall bei der Staatsregierung)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich in meiner Stadt Chemnitz in den letzten Tagen manchmal gefühlt wie vor einer Gespensterkulisse. Am Bahnhof waren so viele Polizeiwagen, wie ich sie noch nie auf einmal gesehen habe. Ich sehe Chemnitz viel lieber ohne all das. Die Gottesdienste, die Konzerte waren schön, aber alle, die das veranstaltet haben, wussten ganz genau: Die richtige Arbeit liegt noch vor uns.

Es ist leicht, mit 65 000 Menschen im Chor „Nazis raus!“ zu rufen. Schwerer ist es, an einem Tisch 30 aufgebrachten Bürgern zu erklären, warum straffällig gewordene Asylbewerber nicht sofort abgeschoben werden können. Der Justizminister Sebastian Gemkow hat es im Rahmen des Sachsendialogs letzten Donnerstag getan. Ich saß mit an seinem Tisch und es waren tolle Gespräche. Bei den anderen Ministerinnen und Ministern ging es ganz ähnlich zu. Ich bin sehr zuversichtlich, dass ein solcher Dialog es sein kann und viele andere Dialoge, die wir außerhalb dieses Formats führen, die dazu führen, dass die Menschen einander wieder respektvoller begegnen.

Ein Plakat auf einer Demonstration, was mir besonders gut gefallen hat, trug die Aufschrift: „Hass ist krass, Liebe ist krasser.“ Ich mochte das sehr. Einander zuhören, den anderen ausreden lassen, Mut zur Differenzierung haben – darauf wird es in den nächsten Monaten ankommen. Es sind schwere Zeiten für alle, die mehr sehen wollen als schwarz oder weiß. Es sind schwere Zeiten für die Feinheiten, die gerade in diesen Tagen so wichtig sind.

Momentan versammeln sich viele Menschen unter dem Hashtag „Wir sind mehr“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, ob wir mehr sind. Ich weiß auch nicht, ob es eine kluge Idee ist, Quantität zu einem Qualitätskriterium zu erheben. Wir alle haben es jetzt in der Hand, woran man sich in zehn Jahren bei dem Gedanken an Chemnitz erinnern wird: an einen Schandfleck oder an einen positiven Wendepunkt.

(Beifall bei der SPD, der CDU, den LINKEN, den GRÜNEN und der Staatsregierung)

Für die SPD-Fraktion hatte soeben unsere Kollegin Hanka Kliese das Wort. Als Nächstes spricht für die AfD-Fraktion Kollege Urban.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Einige Sätze unseres Grundgesetzes sind von bestechender Klarheit: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – Artikel 20.

(Zuruf des Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE)

Artikel 21: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“

Auch wenn der Begriff Demokratie immer wieder bemüht wird – einmal mehr für den Titel dieser Regierungserklärung –: Die Realität hat mit dem Ideal des Grundgesetzes nur noch wenig zu tun.

(Valentin Lippmann, GRÜNE: Och!)

Denn längst leben wir in einem Parteienstaat.

(Zuruf der Abg. Aline Fiedler, CDU)

Die Parteien haben sich den Staat und seine Einrichtungen zur Beute gemacht und den Souverän – das Volk – zum Stimmvieh degradiert.

(Och! Nee! von der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Wahlen dienen seither der pseudodemokratischen Legitimation der Macht der Parteien.

(Staatsminister Christian Piwarz: Das ist Nazijargon!)

Der Artikel 21 des Grundgesetzes dient heutzutage der Züchtung einer Politikerklasse, deren Selbstzweck darin besteht,

(Dirk Panter, SPD: Das ist genau dieses Geschwätz, das dieser Debatte schadet!)

Berufspolitiker zu sein.

(Dirk Panter, SPD: Das ist genau diese Hetze! – Zuruf des Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE – Unruhe im Saal – Glocke des Präsidenten)

Parteien sind inzwischen Finanzierungsbeschaffer für parteinahe Stiftungen.

(Dirk Panter, SPD: Hetzen, das können Sie! – Zuruf des Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE – Weitere Zurufe von der CDU, den LINKEN und der SPD)

Die Stiftungen sorgen ihrerseits dafür,

(Starke Unruhe im Saal)

dass abgewähltes politisches Personal recycelt wird.

(Zuruf des Abg. Klaus Bartl, DIE LINKE)

Das schafft Frust beim Souverän.

(Staatsminister Martin Dulig: Hören Sie auf, Goebbels zu zitieren!)

Denn egal, wen er abwählt, sie kommen alle wieder. Politisches Überleben benötigt heute eben keine Wählergunst mehr, sondern es benötigt die Gunst der Parteiführung.

(Steve Ittershagen, CDU: Komm‘ mal zur Sache, bitte!)

Um politische Entwürfe geht es längst nicht mehr, sondern nur noch um die Begünstigung bedingungsloser Parteisoldaten

(Dirk Panter, SPD: Oh, mein Gott!)

und die Ausgrenzung und Benachteiligung von Politikern mit einer eigenen Meinung.

(Zuruf des Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE – Weitere Zurufe)

Auch das ständige Beschwören des starken Staates entbehrt nicht einer gewissen Komik.

(Zuruf des Abg. Klaus Bartl, DIE LINKE)