Protokoll der Sitzung vom 20.01.2000

Ich lasse abstimmen über den nunmehr geänderten Änderungsantrag der SPD-Fraktion in Drs. 3/2607. Wer

stimmt zu? - Gegenstimmen? - Sehe ich nicht. Stimmenthaltungen? - Bei wenigen Stimmenthaltungen ist das angenommen.

Ich lasse abstimmen über die Drs. 3/2538 in der nunmehr beschlossenen Fassung. Wer stimmt zu? Gegenstimmen? - Sehe ich nicht. Stimmenthaltungen? Drei Stimmenthaltungen. Damit ist der Antrag in der geänderten Fassung angenommen worden. Wir haben Tagesordnungspunkt 15 erledigt.

Bevor ich den Tagesordnungspunkt 16 aufrufe, möchte ich bekanntgeben, daß sich die Fraktionen darauf verständigt haben, daß wir alle Tagesordnungspunkte heute behandeln werden.

(Zustimmung bei der CDU und bei der DVU - Herr Becker, CDU: Sehr gut!)

Damit können sich alle darauf einstellen. Das bedeutet, daß die Dauer der Sitzung verlängert werden könnte.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung

Einführung einer Wohnungsnotfallstatistik in Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der DVU - Drs. 3/2539

Der Antrag wird durch die Abgeordnete Frau Wiechmann eingebracht.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Materielle Not aufgrund der extrem hohen Arbeitslosigkeit in unserem Bundesland hat häufig Wohnungsnot, Obdachlosigkeit und in Extremfällen auch Wohnungslosigkeit zur Folge. Die Mehrheit der Obdachlosen gehört zu den Ärmsten unter den Armen, und Wohnungslose wiederum sind die Ärmsten unter den Ärmsten.

Beide Gruppen markieren die unterste Stufe der sozialen Deklassierung. Zu dieser Erkenntnis müßte auch die Landesregierung nach der Auswertung der von ihr in Auftrag gegebenen Studie über die soziale Ausgrenzung tausender von Menschen in unserem Bundesland gelangt sein.

Doch lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zu Beginn meines Redebeitrags eine kurze Bestimmung der Begriffe Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit vornehmen, da sie oft nicht richtig gebraucht werden.

In der Verwaltungssprache und in entsprechenden amtlichen Statistiken wird der Terminus Obdachlose auf Personen oder Familien angewandt, die von den Behör-den vorübergehend in eine provisorische Notunterkunft, meist in Schlichtwohnungen in kommunalen Obdachlosensiedlungen oder Obdachlosenheimen, aber auch in beschlagnahmte Privatwohnungen oder Normalwohnungen, selten in private Billigpensionen eingewiesen werden, weil sie nicht in der Lage waren, aus eigener Kraft eine Wohnung zu finanzieren.

In den mietfreien Notunterkünften leben sie ohne Mietvertrag, mit minderem Status und eingeschränkter Privatsphäre, weil die Behörde jederzeit das Recht auf Zutritt und Kontrolle hat. Das Grundgesetz, vor dem alle Menschen gleich zu behandeln sind, garantiert in Artikel 13 die Unverletzlichkeit der Wohnung. Dieses verfassungsmäßige Grundrecht gilt für diese Menschen nicht mehr, weil sie keine Wohnung mehr haben, die

verletzt werden könnte. Diese Menschen leben unfreiwillig menschenunwürdig.

Neben den behördlich registrierten manifesten Obdachlosen wird von Sozialwissenschaftlern noch die größere Gruppe der verdeckten Obdachlosen unterschieden. Diese haben zwar einen Mietvertrag, leben aber in ähnlichen unzureichenden Wohnverhältnissen. Obdach-lose, ob manifest oder verdeckt, sind also nicht ohne Obdach und nicht im eigentlichen Sinne obdachlos.

Die Wohnungslosen haben dagegen kein dauerhaftes Dach über dem Kopf. Sie leben im Freien, in Parks, unter Brücken, in Waldgebieten, auf der Straße, in nicht genutzten Wohnungen oder an anderen öffentlich zugänglichen Stellen. Einige übernachten in sogenannten Obdachlosenasylen, deren Unterkunftsgebühren bekanntlich, so die Entscheidung des warmen Tisches der Magdeburger Stadtväter, auf 6 DM pro Übernachtung angehoben werden sollen. An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal, wieviel unsere Politiker für die eigene Bevölkerung übrig haben.

Meine Damen und Herren! Bereits vor vier Jahren gab es mindestens 7 800 solcher Wohnungslosen in Sachsen-Anhalt, und heute kann man gut und gern von 15 000 ausgehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich die Zahl der Wohnungslosen ohne Berücksichtigung der wohnungslosen Aussiedler in den westlichen Bundesländern um schätzungsweise 12 % verringerte und in Ostdeutschland um schätzungsweise 15 % erhöhte.

Meine Damen und Herren von der Landesregierung und von den sie tragenden Fraktionen, ich empfehle Ihnen dringend, einmal Ihren ganzen Mut und Ihre Zivilcourage zusammenzunehmen und einen mitternächtlichen Spaziergang durch Magdeburgs Seitenstraßen zu wagen. Ihnen, Herr Ministerpräsident Dr. Höppner, haben wir das schon wiederholt empfohlen. Dann begegnen Sie in dunklen und windgeschützten Ecken nicht etwa Rechtsradikalen. Nein, Sie begegnen Opfern Ihrer verfehlten Sozialpolitik, nämlich in Lumpen gehüllten Menschen, mit einer Plastiktüte über den Schultern, mit vom Straßendreck gefärbten fahlen Gesichtern, kurz den im Elend vegetierenden Wohnungslosen a là Amerika.

Meine Damen und Herren! Da in der Landesstatistik zwar nachzulesen ist, wie hoch die Zahl der privathaushaltlich erzeugten Misthaufen ist - nachzulesen im Statistischen Jahrbuch 1999 -, aber leider nicht, wie viele Menschen in unwürdigen Verhältnissen wohnen müssen, fordern wir die Landesregierung auf, endlich die gesetzlichen Voraussetzungen für eine landeseinheit-liche Wohnungsnotfallstatistik zu schaffen.

Die begrüßenswerte skizzenhafte Darstellung der Wohnungsnotfallproblematik durch die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung ist dabei für eine entsprechende Gesetzgebung sicherlich hilfreich, aber auch die vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden nach § 7 des Bundesstatistikgesetzes vorgelegte Machbarkeitsstudie zur statistischen Erfassung von Wohnungslosigkeit aus dem Jahr 1998.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe in Bielefeld schätzt ein, daß im Jahr 1998 in Deutschland mehr als eine halbe Million, nämlich 540 000 Menschen ohne Wohnung waren und auf der Straße lebten. Darüber hinaus lebten 150 000 Aussiedler auf der Straße. Für Aussiedler hat sich das Wohnungsproblem relativ schnell entschärft, aber nicht gelöst. Einerseits ist das mit dem verringerten Zuzug von Aussiedlern seit

1997 zu erklären; andererseits hat sich die Datenbasis für die Forschungsinstitute seit 1997 verbessert. Damit konnten Schätzfehler von bis zu 30 000 nach unten korrigiert werden. Die schnellere Versorgung von Aussiedlern mit Wohnungen hat aber drittens auch mit der besseren staatlichen Registrierung dieser Personen, also mit der Datenerfassung, zu tun.

Eine regelmäßige, gesetzlich festgeschriebene landesund bundesbezogene sozialwissenschaftlich und damit exakt belegbare Armutsberichterstattung ist notwendig, um zu verläßlichen Daten über den tatsächlichen Wohnungsnotstand in Deutschland und damit in SachsenAnhalt zu gelangen. Schätzungsweise 690 000 Wohnungslose registrierte der Bundeswohnungslosenhilfeverein im Jahr 1998.

Meine Damen und Herren! Nur auf der Grundlage einer gesetzlich verankerten Wohnungsnotfallstatistik können eine nachhaltige Wohnungspolitik, das heißt bedarfsgerechte Wohnungsplanung, Sozialarbeit und wissenschaftliche Ursachenforschung betrieben werden, können wirtschaftspolitische Konzepte zur dauerhaften Wohnungsversorgung erarbeitet werden.

Demographische Grunddaten, wie Haushaltsgröße, Alter und Geschlecht, die für eine strenge statistische Repräsentativität Voraussetzung sind, aber auch Angaben über Umfang und soziale Zusammensetzung der Gruppe der Wohnungslosen würden dann mit einbezogen werden können.

Darüber hinaus hat das Volk, abgesehen von seinem garantierten Informationsrecht, auch ein Anrecht darauf, über die Wohnungslosigkeit genauso wie über die Arbeitslosigkeit und über die Sozialhilfeabhängigkeit informiert zu werden. Denn die Wohnungslosigkeit ist eine sozialstaatlich verzögerte, aber auch zu verantwortende Folge von Arbeitslosigkeit, von Sozialhilfeabhängigkeit und von mangelhafter Familienförderungspolitik.

Meine Damen und Herren! Da sich der Rückgang der Wohnungslosenzahlen in den ostdeutschen Bundesländern gegenüber den westdeutschen Bundesländern deutlich schlechter entwickelt, sollte das Bundesland Sachsen-Anhalt beim Streben nach bundesgesetzlicher Verankerung einer Wohnungsnotfallstatistik eine Vorreiterrolle übernehmen, speziell was die landesgesetzliche Verankerung einer solchen anbelangt. Die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung böte sich, wie gesagt, als eine mögliche Arbeitspartnerin an, aber auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe mit ihrem Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit Alleinstehender, DWA.

Danach wird eingeschätzt, daß der Frauenanteil an den wohnungslosen Einpersonenhaushalten im Sozialhilfesektor in den letzten Jahren kontinuierlich von 6,4 % im Jahre 1991 auf 14,4 % im Jahre 1998 gestiegen ist. Es muß, so das DWA, von einem Frauenanteil an der Gruppe der wohnungslosen Einpersonenhaushalte von 21 % oder von ca. 38 000 wohnungslosen Frauen ausgegangen werden. Der Frauenanteil unter den Wohnungslosen - ohne Aussiedler - dürfte schätzungsweise bei 30 %, sprich 160 000, der Anteil der Kinder und Jugendlichen bei ca. 31 %, sprich 170 000, und der Anteil der Männer bei ca. 39 %, sprich 210 000, liegen.

Darüber hinaus muß, so die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe, mit einer Dunkelziffer gerechnet werden. Denn Frauen auf der Straße, auf „Platte“ sozusagen, seien nur die Spitze des Eisberges. Frauen schämten sich ihrer Notlage und versuchten,

möglichst lange ohne institutionelle Hilfe auszukommen. Sie gingen Zwangsgemeinschaften ein, um ein Dach über dem Kopf zu haben - Beziehungen, in denen sie oft genug ausgenutzt würden. Sie kehrten mehrmals in die Partnerschaft, sprich Herkunftsfamilie zurück, die sie aufgrund eskalierender Konflikte verlassen hätten.

Das Hilfesystem, so die BAG weiter, sei unzureichend. Bundesweit habe es 1998 nur 24 ambulante Beratungsstellen speziell für Frauen gegeben, davon zehn mit angeschlossenem Tagesaufenthalt und acht selbständige Tagesaufenthalte. Frauenpensionen und -übernachtungsstellen seien rar. Entweder würden die Frauen in gemischtgeschlechtlichen Unterkünften untergebracht oder aber weitergeschickt, weil es keine Notübernachtungen für sie gebe.

Meine Damen und Herren! Wenn wir die schnellstmögliche gesetzliche Einführung einer Wohnungslosenstatistik fordern, dann resultiert das auch aus unserem Problembewußtsein hinsichtlich der sozialen und psychischen Auswirkungen von Obdachlosigkeit. Lassen Sie mich deswegen an dieser Stelle einiges hierzu sagen.

Die vordergründigen oder augenscheinlichen Ursachen der Obdachlosigkeit sind in der Regel Mietschulden. Obwohl die Mehrheit der deutschen Bevölkerung meint, Obdachlose hätten ihre Situation selbst verschuldet, ist Obdachlosigkeit nur selten ein ausschließlich selbstverschuldeter Zustand.

Strukturelle Hintergründe der Notlage, die in Mietschulden und schließlich in Obdachlosigkeit offenbar werden, sind Armut und Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit einer angespannten Situation am Wohnungsmarkt.

In den neuen Bundesländern kommen die deutlich schlechteren wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen wie die deutlich höhere Sozialhilfeabhängigkeit und die Deindustrialisierung hinzu, zudem der Verzug durch angestaute Räumungsklagen, das immer noch lückenhafte Hilfesystem und die nicht konsequent angewendete Mietschuldenübernahme durch die Kommunen. So die Einschätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe.

Die Belastung relativ armer Familien durch Mieten ist extrem hoch. Über eine Million Haushalte mit einem Niedrigeinkommen von weniger als 800 DM müssen davon durchschnittlich etwa die Hälfte für die Miete aufbringen. Arbeitslosigkeit und unverschuldete Notlagen, zum Beispiel durch Krankheit, persönliche Schicksalsschläge, Verlust eines Ehepartners oder Arbeitsunfähigkeit, haben für die Entstehung von Obdachlosigkeit eine große Bedeutung. Familiäre Ereignisse, wie Scheidung oder Geburten, spielen ebenfalls eine Rolle, sind aber von geringerem Gewicht.

Obdachlosigkeit stellt in der Rangfolge der Armutsbestimmungen einen Extremfall dar. Dabei sind, so wie ich es anfangs definiert habe, Obdachlose noch nicht einmal wohnungslos. Das heißt, sie haben noch irgendein erbärmliches Domizil, sind „erst“ unmittelbar vom Wohnungsverlust, also dem Fehlen eines Daches über dem Kopf, bedroht bzw. leben in unzumutbaren Wohnverhältnissen. Dennoch müssen sie mehr als zwei Drittel ihres Einkommens für die Miete und andere damit im Zusammenhang stehende Zahlungsverpflichtungen aufbringen.

Damit ist es ihnen bereits unmöglich gemacht, den notwendigen Lebensbedarf aus eigener Kraft zu decken. An Autos, Urlaubsreisen, kulturelle Lebensteilnahme, ja an elementare Einrichtungsgegenstände und Geräte wie

Schränke, Polstermöbel oder Staubsauger gar nicht zu denken.

Die materielle Not wird begleitet von sozialer Mißachtung. Obdachlose und erst recht Wohnungslose werden in hohem Maße diskriminiert und stigmatisiert, negative Eigenschaften werden stark überschätzt. Sie werden als Asoziale degradiert, obwohl sie meistens gar nichts für ihren Austritt aus dem sozialen Gesellschaftsgefüge können. Die räumliche Ausgrenzung mit Tendenzen zur Gettoisierung, also ihr Wohnen in überbelegten Siedlungen und Heimen, häufig in verrufenen und unattraktiven Wohngegenden, verstärkt soziale Vorurteile.

Die stark benachteiligte Soziallage, meine Damen und Herren, ist tendenziell mit folgenden Erscheinungen verbunden:

Erstens. Tendenzen zur sozialen Isolation, das heißt Rückzug aus Vereinen und Organisationen sowie Abnahme von Sozialkontakten außerhalb der Siedlungen.

Zweitens. Überdurchschnittlich häufige körperliche und psychische Erkrankungen in Kombination mit ärztlicher Unterversorgung.

Drittens. Zunahme von Orientierungsunsicherheiten, von negativen Selbsteinschätzungen und niedrigem Selbstvertrauen, von Inaktivität, Apathie, Resignation und Hoffnungslosigkeit.

Viertens. Zunahme von Aggressivität, Verhaltensauffälligkeiten und Kriminalität.

Auch die Lebens- und Zukunftschancen der Kinder werden durch die Mangellage in hohem Maße beeinträchtigt. Erziehungs- und Sozialisationsdefizite hemmen die sprachliche, kognitive und motivationale Entwicklung der Kinder so stark, daß eine Zunahme der Überweisungen von Kindern aus diesem sozialen Milieu auf Sonderschulen diagnostiziert wurde.

Wer seine Wohnung verliert, meine Damen und Herren, dem wird eine elementare Grundlage für ein gesichertes menschenwürdiges Leben entzogen. Die Wohnung ist nicht nur materielle Basis für Wärme, Schutz und Geborgenheit, sondern auch unabdingbare Voraussetzung für Arbeit, Familie, Privatleben, Hygiene, für bestimmte Formen der Kommunikation und für soziale Anerkennung. Ein Leben auf der Straße bedeutet ein Leben außerhalb vieler, ja nahezu aller Normen. Das bedeutet Ausschluß aus der Welt derer, die sich gegenseitig als Menschen wiedererkennen und anerkennen.

Die Belastungen, die mit dem ungesicherten und entwürdigenden Leben der Landfahrer, Stadtstreicher oder Berber verbunden sind, haben bei längerer Dauer körperliche und psychische Schäden sowie vorzeitige Alterung zur Folge und verringern die Lebenserwartung deutlich. Armut, Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit sind für den einzelnen und für die Gesellschaft um so folgenschwerer, je länger sie andauern. Denn bei Menschen, die über langer Zeit oder auf Dauer in Mangellagen leben müssen, verschlimmern und verfestigen sich die psychischen und sozialen Folgen.